Prof. Dr. Elisabeth Richter und Florian Mücke, B.A. über das Wesen von Sozialer Arbeit und ihre Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft
Soziale Arbeit ist enorm vielfältig und umfasst alle denkbaren Lebensbereiche – auch sehr sensible. Sozialarbeiter kommen ihren Mitmenschen zu Hilfe, wenn sie in persönlichen Krisensituationen professionelle Begleitung benötigen, um wieder in die Spur zu finden.
Frau Prof. Richter, Herr Mücke, schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben! Wir wollen zwar hauptsächlich über den Studiengang Soziale Arbeit sprechen, aber zuvor die Frage: Welche Abschlüsse können Studierende an der MSH erreichen?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: An der MSH Medical School Hamburg leite ich ja das Department Family, Child and Social Work, zu dem auch der Studiengang Soziale Arbeit gehört. Diesen Studiengang gibt es bei uns seit 2015. Hier können Studierende mit dem Bachelor oder dem Master abschließen. Außerdem bieten wir noch einen Master in Sexualwissenschaften an. Der Studiengang Transdisziplinäre Frühförderung wurde 2010 an der MSH gegründet. Zudem können Studierende noch diverse Module im künstlerisch-therapeutischen Bereich belegen.
Und was genau lernen Ihre Studierenden an der MSH inhaltlich?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: Soziale Arbeit ist eine noch junge Disziplin, das heißt, sie hat noch keine einheitliche Theoriebildung, jedoch ein breites Spektrum an Methoden. Soziale Arbeit gliedert sich, grob gesagt, in drei Teile: Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. Hier lernen die Studierenden sämtliche Zielgruppen kennen, und zwar über die gesamte Lebensspanne. Zudem setzen sie sich mit spezifischen Rahmenbedingungen der Gesellschaft auseinander. An unserer Hochschule setzen wir zudem einen ästhetischen Schwerpunkt, da wir davon ausgehen, dass der Mensch als Lernendes, Kreatives und Soziales Wesen mit allen Sinnen angesprochen werden sollte. Daher auch unser Anspruch, die Lehre mit Wahlmodulen interdisziplinär mit anderen Fachbereichen zu verzahnen. Studierende sollten von Beginn an einen ganzheitlichen Blick auf ihren Beruf werfen dürfen.
Können Sie uns, Herr Mücke, etwas über Ihr Konzept von Interdisziplinarität in der Lehre verraten?”
Florian Mücke: Ja, klar: Beispielsweise biete ich ein Wahlmodul an, das sich mit Kriminalität und Straffälligkeit im interdisziplinären Kontext beschäftigt. Zu einem Drittel nehmen daran Psychologie-Studierende, zu einem Drittel Medizin-Studierende und zu einem Drittel Soziale-Arbeit-Studierende teil. Wir schauen uns dann gemeinsam an, wie die jeweilige Disziplin auf das Feld Straffälligkeit blickt.
Das ist sicher eine interessante Fragestellung. Aber inwieweit ist das für Studierende der Sozialen Arbeit relevant?
Florian Mücke: “Das ist der berufliche Alltag! Indem das Verständnis dafür wächst, was interdisziplinäre Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Fall’ eigentlich bedeutet, machen Studierende bereits im Studium die Erfahrung, dass sie sobald sie aus der Bubble ihrer eigenen Fachlichkeit heraustreten ganz anders argumentieren oder gar verhandeln müssen. Der Aha-Effekt stellt sich frühzeitig ein, wenn Lernende merken: Huch! Außerhalb meines Fachbereichs versteht mich ja keiner!’ Die Anschlussfähigkeit der unterschiedlichen Fachsprachen ist einfach nicht gegeben. Ich glaube, mit diesem Konzept des intensiven interdisziplinären Lehrens und Lernens sind wir ziemlich weit vorne.
Möchten Sie als Fachbereichsleiterin noch etwas dazu ergänzen?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: Ja. Da sagst du gerade was sehr Wichtiges, Florian. Genau darauf läuft es ja hinaus. Wir lehren beispielsweise an der MSH genau so eine gemeinsame Sprache. Im Gegensatz zum ICD-11-Code, der ja rein medizinische, also körperliche Beschwerden klassifiziert, schaffen wir mit der Anwendung des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelten ICF des International Classification-Code of Functioning einen Gegenentwurf, da dieser erstmals eine ganzheitliche Betrachtung ermöglicht, wie Menschen teilhaben können an der Gesellschaft. Hier kommen alle Beteiligten zu Wort. Insbesondere auch der oder die Betroffene selbst. Auch sie haben eine Stimme im Beteiligungsprozess rund um ihren eigenen Fall. Nicht nur Ärzte, Psychologinnen, Richter, Sozialpädagoginnen partizipieren an dieser Fallkonferenz. In dieser Intensität sind wir mit unserem gelebten interdisziplinären Ansatz in der Hochschullandschaft dann wohl tatsächlich einzigartig. Wir betonen den Aspekt der Partizipation stets ganz besonders und möchten diesen auch insgesamt stärken.
Kommen wir nun zu Ihrem Forschungsschwerpunkt, der Interkulturellen Sozialen Arbeit. Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: Interkulturelle Soziale Arbeit beschäftigt sich einerseits mit den verschiedenen kulturellen Differenzen, die es in einer Gesellschaft gibt. Nach Alter, Geschlecht – klassisch, sagen wir mal, haben wir früher immer gedacht, es gibt zwei Geschlechter, heute gehen wir davon aus, es gibt 100 – aber auch Ethnie spielt eine Rolle. Damit berührt die Interkulturelle Soziale Arbeit beispielsweise Fragen von Migration und Flucht. Aber auch Alter ist in der Sozialen Arbeit ein großes Thema. Wie können Kinder, die ja als einzige Gruppe noch nicht wählen dürfen, sich Gehör verschaffen, um wahrgenommen zu werden? Und dann natürlich Schicht und soziale Zugehörigkeit sowie Armut und prekäre Verhältnisse. All das lernen die Studierenden zielgruppenspezifisch kennen. Um dann lernen sie natürlich auch, wie Gesellschaft – trotz fehlender Homogenität sich auch wieder zusammenbinden lässt. Deshalb beschäftige ich mich insbesondere mit Fragen der Demokratiebildung.
Fließt diese Haltung auch in Ihre eigene Organisation ein, beispielsweise in didaktische Konzepte?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: Natürlich! Wir verfolgen beispielsweise die Konzepte des sogenannten forschenden Lernens mit unseren Wahlmodulen. Dies impliziert, dass Studierenden in einem gewissen Rahmen Entscheidungsfreiheit über den Ablauf und die Richtung ihrer Lernreise eingeräumt wird. Natürlich geht das nur in gewissen Grenzen. Bestimmte Module sind auch bei uns verpflichtend.
Worin liegt eigentlich der Unterschied zwischen der Aufgabe eines sozialpädagogisch Arbeitenden und dem Beruf eines Lehrers?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: Oha, das ist wirklich ein ganz großer Unterschied! Aber danke für die wirklich interessante Frage. Der größte Unterschied besteht wahrscheinlich in der Abwesenheit von Zwang und Hierarchie im Partizipationsprozess. Schule ist in der Regel eine Pflichtveranstaltung. Schülerinnen und Schüler werden von den Lehrenden bewertet. Soziale Arbeit im außerschulischen Bildungsbereich dagegen hat das Prinzip der Freiwilligkeit bereits inkludiert. Teilhabe ist hier systemrelevant. Demokratische Bildungsarbeit ist daher auch genau richtig in der praktischen Sozialen Arbeit angesiedelt und nicht in der theoretischen Vermittlung von Demokratie-Wissen.
Frau Richter, brauchen wir hier und heute mehr Interkulturelle Kompetenz?
Prof. Dr. Elisabeth Richter: Also, das ist aus meiner Sicht eher eine Mogelpackung. Jedenfalls wenn wir denken, dass diese Kompetenz einfach bloß in Organisationen personell besetzt und implementiert werden muss. Suggeriert es doch, dass beispielsweise nur eine türkische Sozialpädagogin eine türkischsprechende Klientin gut betreuen könne. Das ist natürlich absurd. Es muss halt immer auch darum gehen, dass sich alle Gruppen nicht nur gehört fühlen, sondern sich am Aushandeln verschiedener, zum Teil konkurrierender gesellschaftlicher Positionen aktiv beteiligen. Das bedeutet: Reden und im günstigsten Fall einen Konsens finden oder den Kompromiss aushandeln.
Vielen Dank Ihnen beiden für das aufschlussreiche Gespräch!
Florian Mücke: Gern geschehen! Ich kann jedenfalls Schülerinnen und Schüler nur empfehlen, sich diesem Fachbereich zuzuwenden. Soziale Arbeit ist auch über das Studium hinaus ein weites Feld. Mein Professor sagte einmal zu mir: Machste einen Abschluss, haste 67 Berufsfelder zur Auswahl!” Ich habe zwar nicht nachgezählt, ich glaube aber, dass das wohl hinkommt’ (lacht).
Zur Person
Elisabeth Richter lehrt seit 2016 an der MSH Medical School Hamburg. Sie ist Professorin für Interkulturelle Soziale Arbeit und leitet seit 2023 das Department Family, Child and Social Work. Nach dem Studium der Diplom-Pädagogik im Schwerpunkt Außerschulische Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen an der Universität Hamburg hat Elisabeth Richter an der Bergischen Universität Wuppertal zum Thema Jugendarbeitslosigkeit und Identitätsbildung promoviert. Ab 2008 war sie als Wissenschaftlerin an der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaften im Arbeitsbereich Sozialpädagogik/Außerschulische Jugendbildung tätig. Der Forschungsschwerpunkt von Elisabeth Richter liegt im Bereich der interkulturellen Bildung mit Fokus auf Demokratiebildung, kommunale Kinder- und Jugendpartizipation sowie partizipative Forschung.
Zur Person
Florian Mücke ist 35 Jahre alt und seit 2022 hauptberuflich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der MSH Medical School Hamburg angestellt. Davor hatte er bereits, neben seiner Tätigkeit als Bewährungshelfer in der Straffälligenhilfe, einige Lehraufträge übernommen. Schwerpunkt seiner Lehrveranstaltungen ist das Thema ‘Kriminalität’, außerdem unterrichtet er ‘Management in Sozialen Organisationen’. Hier geht es um das Thema ‚Führen und Leiten’.
Was die Studierenden der Sozialen Arbeit zu ihrem Studium an der MSH sagen, erfahrt ihr hier!
TEXT Natascha Pösel
FOTO Apo Genc