Flensburger Schulprojekt: Warum Informatikunterricht mehr ist als Programmieren

Flensburger Schulprojekt: Warum Informatikunterricht mehr ist als Programmieren

Sie lernen, wie man eine App entwickelt, und liefern Grundlagen für Lehrkonzepte im Fach Informatik: Seit über einem Jahr sind Schüler eines Flensburger Gymnasiums Teil eines wegweisenden Projekts mit der benachbarten Hochschule. Professor Sven Bertel begleitet sie auf wissenschaftlicher Seite. Ein Gespräch über die motivierende Wirkung handfester Probleme, die Bedeutung von Einfühlungsvermögen für Softwareentwickler und den Mangel an Fachlehrkräften.

Herr Bertel, Papier und Schere braucht man gewöhnlich im Fach Kunst. Sie verwenden beides im Informatikunterricht. Warum?

Weil Informatik mehr ist als reines Programmieren. Man arbeitet dabei nicht im luftleeren Raum, sondern entwickelt Anwendungen, die konkrete Probleme lösen sollen. Man kann nicht einfach mit dem Programmieren loslegen, man muss sich zuerst einen Plan machen, wo man hinwill. Und dabei kann es helfen, Prototypen auf Papier zu entwerfen. Wenn das für Außenstehende überraschend klingt, liegt das wahrscheinlich daran, dass viele Leute ein falsches Verständnis davon haben, worum es in der Informatik geht.

Schüler planen mit Schere und Papier ein App Design

Inwiefern?

Viele denken, dass Informatik ausschließlich darin bestehe, Codezeilen so aneinanderzureihen, dass am Ende ein funktionierendes Softwareprodukt herauskommt. Aber bevor man so weit ist, muss man sich überlegen, was man mit dem Programm überhaupt erreichen will und vor allem, wer am Ende damit arbeiten soll. Eine der wichtigsten Fähigkeiten für einen Informatiker ist es, sich in andere hineinversetzen zu können. Man muss erkennen, was der Nutzer eines Programms oder einer App für Bedürfnisse hat und welche Probleme er damit lösen möchte. Wer versucht, Kunden mit einem fertigen Produkt zu beglücken, ohne sich zuvor mit ihnen auseinandergesetzt zu haben, erleidet in der Regel Schiffbruch. In diesem Verständnis haben wir auch das Projekt an der Auguste-Viktoria-Schule in Flensburg gestaltet.

„Wir haben das Projekt bewusst so angelegt, dass die Schüler ein handfestes, lebensnahes Problem bewältigen. Das schafft viel mehr Motivation“ – Sven Bertel

Ihre Schüler hatten aber keine Kunden, in die sie sich hineinversetzen konnten.

Doch! Wir haben uns unsere Kunden in der Mittelstufe gesucht, im Chemieunterricht. Wir entwickeln eine App, die den Mittelstufenschülern helfen soll, räumliches Denken zu trainieren. Das ist nötig, um den dreidimensionalen Aufbau von Molekülen zu begreifen. Wir haben das Projekt bewusst so angelegt, dass die Schüler ein handfestes, lebensnahes Problem bewältigen. Das schafft viel mehr Motivation, als wenn sie sich mit rein abstrakten Aufgabenstellungen beschäftigen würden.

Wie läuft die Arbeit an dem Projekt konkret ab?

Wir gehen nach dem Prinzip des User Centered Designs vor, also der nutzerorientierten Gestaltung von Softwareanwendungen. Im ersten Schritt haben die Oberstufenschüler, die damals noch in Klasse zehn waren, sich mit den grundlegenden Fragestellungen beschäftigt, in unserem Fall also: Wie kann ich jüngeren Schülern dabei helfen, den räumlichen Aufbau von Molekülen zu begreifen? Wie sieht meine Zielgruppe aus und welche Produkte könnten sie weiterbringen? Im zweiten Schritt ging es in die Recherche: Die Schüler haben ihre Mitschüler aus Klasse neun interviewt, um herauszufinden, was genau ihre Anforderungen waren und in welchem Kontext sie arbeiten. Darauf folgte Phase drei: der Entwurf erster App-Designs.

Der Punkt, an dem Schere und Papier ins Spiel kamen.

Erst mal nur Stift und Papier: Die Schüler haben Skizzen und Ablaufdiagramme entworfen und Storyboards für die App geschrieben. In Phase vier wurden dann Prototypen gestaltet, ausgeschnitten und aufgeklebt, sodass Papier-Smartphones oder -Tablets entstanden. Die Schüler konnten damit den Ablauf der App plastisch durchspielen: Ein Schüler hat an einer Stelle auf die aufgemalte App getippt und ein anderer hat das entsprechende nächste Blatt hingelegt, zu dem man über dieses Antippen gelangt. Anschließend ging es ans Programmieren. Dazu haben wir zunächst ein sogenanntes Klickprototypen-Tool eingesetzt, mit dem man Software realitätsnah simulieren kann, bevor das eigentliche Programmieren in Swift begann. In der fünften Phase wurden dann die Ergebnisse getestet, um festzustellen, was noch verbessert werden muss. Danach beginnt der beschriebene Prozess von Neuem. Man hangelt sich gewissermaßen von Prototyp zu Prototyp, testet und überarbeitet in einem fort, bis irgendwann ein Ergebnis vorliegt.

Schule; Hochschule, IQSH: Alle Projektpartner profitieren

Das Projekt ist bis Herbst 2022 angelegt, Sie befinden sich jetzt in der Mitte. Wie ist Ihr Zwischenfazit?

Sehr gut! Die Coronapandemie hat den Unterricht natürlich zum Teil eingeschränkt, sodass sich die Projektbegleitung von Seiten der Hochschule zum Teil nur online zuschalten konnte. Aber ich habe das Gefühl, dass die 16 Informatikschüler mit viel Begeisterung dabei sind, und auch die Zusammenarbeit mit den beteiligten Lehrkräften der Auguste-Viktoria-Schule ist großartig. Solche Projekte funktionieren nur dann, wenn sich alle beteiligen Seiten auf Augenhöhe begegnen, und ich denke, das ist hier der Fall. Die Schule hat sich genauso eingebracht wie die Hochschule und auch das Land Schleswig-Holstein, das über das Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen IQSH beteiligt ist.

Was sind die konkreten Vorteile für die einzelnen Partner?

Die Schule profitiert von dem Know-how über App-Design und Programmierung, das wir einbringen können. Für uns als Hochschule wiederum besteht der Mehrwert im Wissen über die Anforderungen von Schülern und Lehrern im Chemie- und Informatikunterricht. Das hilft uns bei der Entwicklung weiterführender Konzepte. Und das IQSH kann die Erkenntnisse des Projekts beispielsweise zur Entwicklung von neuen Lehrkonzepten im Fach Informatik nutzen.

Das heißt, das Projekt könnte in ähnlicher Form auch an anderen Schulen stattfinden?

Ja, und nicht nur in der Oberstufe. Wir haben in den vergangenen Monaten bereits festgestellt, dass sich Teile davon auch für die Mittelstufe anbieten. Es gibt aktuell zu wenige Informatiklehrkräfte im Land. Mit dem Projekt entwickeln wir ein Modul, das man angehenden Informatiklehrern in Fortbildungen an die Hand geben könnte.

TEXT Volker Kühn
FOTO Bernd Clausen