Wie soll es weitergehen? Wenn Geschäfte ihre Öffnungszeiten einschränken. Wenn Unternehmen und Betriebe Aufträge nicht annehmen können? Wenn die Wirtschaft aufgrund von Engpässen ins Stocken gerät und die Zukunftsfähigkeit der Region gefährdet ist? Fragen, die auf dem Brunsbütteler Industriegespräch BIG „Spezial” diskutiert wurden.
Die Werkleiterrunde des ChemCoast Parks Brunsbüttel kam am 06. Juli 2023 mit 80 geladenen Gästen, darunter Vertreter aus Politik, Gewerkschaften und Hochschulen in Brunsbüttel zusammen, um sowohl über die aktuellen Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt zu diskutieren als auch eine gemeinsame Strategie gegen den Fachkräftemangel zu entwickeln.
Gastgeber Jürgen Evers, Sprecher des Arbeitskreises Fachkräftebedarf der Werkleiterrunde und Talent & External Relationship Manager bei der Covestro Deutschland AG, eröffnete die Veranstaltung, bei der auch Julia Carstens, Staatssekretärin im schleswig-holsteinischen Wirtschaftsministerium, anwesend war.
Bürgermeister Martin Schmedtje hob in seinem Grußwort die Potentiale der Region hervor und ermutigte die Teilnehmer, das enorme Potential Dithmarschens selbstbewusst in die Welt zu tragen. Es wurde deutlich, dass die Wirtschaftskraft und Zukunftsfähigkeit der Region gefährdet sind, wenn der Fachkräftemangel nicht erfolgreich bekämpft wird.
Lösungsansätze aus der Industrie: Packen wir es an!
Jürgen Evers und Tim Warszta, Professor für Wirtschaftspsychologie und Institutsleiter WinHR an der Fachhochschule Westküste in Heide, präsentierten in Impulsvorträgen Lösungsansätze aus Industrie und Forschung. Evers betonte die Verfügbarkeit von freien Ansiedlungsflächen für industrielle und gewerbliche Nutzung in Brunsbüttel sowie die Bedeutung des Standortes als Energieknotenpunkt für die Region. Zudem verwies er auf den wachsenden Boom, den die Stadt in den letzten zwei Jahren erlebt habe. Wichtig sei jedoch eine funktionierende Infrastruktur, um sicherzustellen, dass das größte zusammenhängende Industriegebiet Schleswig-Holsteins diesen Boom bewältigen könne.
Es gilt, innovative Lösungen zu finden und den Mut zu haben, neue Wege zu gehen!
Evers regte an, dass der Begriff „Fachkräftemangel“ negativ konnotiert sei und stattdessen von einem Fachkräftebedarf gesprochen werden solle – allein im ChemCoast Park in Brunsbüttel gebe es rund 30 verschiedene Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten für junge Menschen. Eine Chance, die auch als solche wahrgenommen werden müsse! Mit dem Aufruf „Packen wir es an!“ unterstrich Evers die Notwendigkeit einer positiven Herangehensweise, um den Fachkräftebedarf erfolgreich zu begegnen.
Lösungsansätze aus der Forschung: Mit Innovation, Weiterbildung und Flexibilität für neue Fachkräfte!
Professor Tim Warszta legte in seinem Vortrag den Fokus auf drei konkrete Maßnahmen: Digitalisierung, Qualifizierung und Mobilisierung.
Als erste Maßnahme betonte er die Bedeutung der Digitalisierung. Alles, was wirtschaftlich sinnvoll automatisiert werden könne, sollte automatisiert werden. Dadurch würden repetitive Aufgaben effizienter, sodass Fachkräfte in der Lage wären, anspruchsvollere und kreative Tätigkeiten zu übernehmen.
Als zweite Maßnahme nannte Warszta die Qualifizierung. Er betonte, dass im Idealfall jeder Mensch bis zum Maximum seines Potenzials qualifiziert werden sollte. Dabei dürfe es keine Altersgrenze geben. Auch Personen im fortgeschrittenen Alter sollten die Möglichkeit haben, sich weiterzubilden oder einen neuen Beruf zu erlernen. Zudem plädierte er für eine engere Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Unternehmen, um die Verbindung zwischen theoretischer Ausbildung und praktischer Anwendung zu stärken. Studierende sollten nicht isoliert in Hörsälen sitzen, sondern frühzeitig Einblicke in die Arbeitswelt erhalten.
Denn durch die Kombination von Digitalisierung, Qualifizierung und Mobilisierung können sowohl individuelle Potenziale besser genutzt als auch die Anforderungen des Arbeitsmarktes erfüllt werden!
Auf das Thema Mobilisierung ging der Wissenschaftler zum Schluss ein: Jeder Person sollte es ermöglicht werden, sich im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten am Erwerbsleben zu beteiligen. Flexibilität und eine Anpassung der Arbeitszeitmodelle seien hierbei entscheidend. Niemand wäre dann gezwungen, ausschließlich 40 Stunden pro Woche zu arbeiten. Deshalb müssten attraktive Arbeitsmodelle geschaffen werden, die es jedem ermöglichen, je nach persönlicher Präferenz und Lebenssituation diese flexibel zu nutzen.
Warszta unterstrich in seinem Vortrag, dass diese drei Maßnahmen zugleich umgesetzt werden sollten, um den Fachkräftemangel zu mindern.
Perspektive im Blick
Auf die Impulse aus Industrie und Forschung folgte eine lebhafte Debatte mit Julia Carstens, Staatssekretärin im Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus des Landes Schleswig-Holstein, Laura Pooth, der Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Nord, Prof. Dr. Tim Warszta, Frank Schnabel , Geschäftsführer der Brunsbüttel Ports GmbH / SCHRAMM group sowie Sprecher der Werkleiterrunde des ChemCoast Parks Brunsbüttel und Jürgen Evers. Moderiert wurde die Diskussion von Thomas Bultjer, dem Leiter der IHK Geschäftsstelle Dithmarschen.
Jürgen Evers sah die Ansiedlung des schwedischen Konzerns Northvolt in Dithmarschen als Chance, um Fachkräfte anzuziehen und in der Region zu halten. Staatssekretärin Julia Carstens betonte die Bedeutung der Entwicklung Schleswig-Holsteins und der Region. Es sei wichtig, Fachkräfte nicht nur zum Arbeiten, sondern auch zum Leben in der Region zu motivieren. Die Vorzüge der Region gelte es, anschaulich zu vermitteln und Schleswig-Holstein als Boom-Region überzeugend zu profilieren. Julia Carstens brachte außerdem den Vorteil anderer Länder ins Spiel, in denen Englisch gesprochen wird. Die Weltsprache sollte in diesem Sinne genutzt werden, um Menschen aus anderen Ländern zu zeigen, dass sie hier diese Sprache nutzen könnten.
Laura Pooth legte besonderen Wert auf den Aspekt der Arbeitsbedingungen, um Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Tarifverträge und gute Arbeitsbedingungen seien entscheidend. Sie verwies auf den ChemCoast Park in Brunsbüttel, wo dies bereits erfolgreich umgesetzt werde. Die Gewerkschafterin des DGB betonte außerdem die Notwendigkeit, die Weiterbildung und das lebenslange Lernen zu fördern. Dies sei ein wichtiger Ansatz, um Fachkräfte weiterzuentwickeln und den sich wandelnden Anforderungen gerecht zu werden.
Frank Schnabel machte auf die schwierige Anbindung nach Brunsbüttel Süd aufmerksam. Insbesondere für Azubis ohne Auto sei es schwierig, zur Arbeit zu gelangen. Er forderte, dass die Infrastruktur für Menschen verbessert werden müsse und dass dafür Bundesmittel freigegeben werden sollten. Er wies außerdem darauf hin, wie wichtig es sei, neue Möglichkeiten und Technologien zu nutzen. Soziale Medien und niedrigschwellige Angebote wie QR-Codes seien wichtige Instrumente, um neue Mitarbeiter zu rekrutieren. Zudem sei die Bedeutung von Incentives, wie der Führerschein für neue Mitarbeiter, nicht zu unterschätzen.
Thomas Bultjer betonte, dass es nicht die eine Maßnahme gebe, die Erfolg verspreche. Es sei wichtig, viele verschiedene Ansätze zu nutzen und den Schulterschluss zwischen Unternehmen, Politik und Gewerkschaften zu fördern. Nicht vergessen werden dürfe die Mitarbeiterzufriedenheit als ein wichtiger Produktivitätsfaktor. Bultjer unterstrich auch die Rolle der Eltern und ermutigte dazu, mit den eigenen Kindern über die Vorzüge von Arbeitgebern zu sprechen.
Die Diskussion machte deutlich, dass eine enge Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Politik und Gewerkschaften sowie die Förderung von Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und Mobilität wichtige Faktoren sind, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Leuchtturm-Projekte für mehr Fachkräfte in Brunsbüttel
Im Anschluss an die Diskussionsrunde konnten sich die Teilnehmenden beim Networking in der Ausstellung von drei Leuchtturmprojekten aus der Region ein persönliches Bild machen. Darunter die VHS Brunsbüttel mit ihren Weiterbildungsmöglichkeiten, die FH Westküste mit dem „Moin MINT“-Projekt sowie ME2BE mit dem „ElternKompass“ auf der Berufsorientierungsplattform DIGI:BO.
Weiterbilden statt weiter weg!
An der VHS Brunsbüttel e.V.
Michael Tiedemann, Fachbereichsleiter für berufliche Fortbildung, präsentierte das Fortbildungsprogramm der VHS Brunsbüttel e.V. als attraktive Alternative zum Studium. Wer die erste Berufsausbildung abgeschlossen habe, könne sich an der VHS Brunsbüttel berufsbegleitend in der Abendschule 18 Monate zum Industriemeister in den Bereichen Metall, Chemie und Elektrotechnik fortbilden. „Wir bieten eine spannende Alternative zum Studium und ermöglichen Jugendlichen mit einem Mittleren Bildungsabschluss den Aufstieg in höhere Positionen”, erklärte Michael Tiedemann. „Der Fokus unserer Fortbildungsprogramme liegt in den Bereichen Management, Organisation und Personalführung. Die Absolventinnen und Absolventen bilden somit eine Schnittstelle zwischen der technischen Komponente und den Mitarbeitenden“, ergänzte Tiedemann. Im Vergleich zu einem Studium sei die Fortbildung zudem sehr praxisnah konzipiert.
Moin!MINT
von der FH Westküste
Tüfteln, Experimentieren und vor allen Dingen selbst Ausprobieren können Kinder und Jugendliche von der Grundschule bis zur Oberstufe bei „Moin!MINT“.
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt bietet Jugendlichen wertvolle Angebote in Dithmarschen rund um das Thema MINT. Dabei arbeiten der Kreis Dithmarschen, die Fachhochschule Westküste, der VHS Dithmarschen e.V. sowie die Bürgerinnen der OK Westküste eng zusammen. „Moin!MINT“ ist eins von etwa 50 Cluster-Projekten in Deutschland und bietet nachmittags kostenlose Mint-Kurse für Kinder und Jugendliche an, weil wir davon überzeugt sind, dass Mint-Themen über die gesamte Bildungskette hinweg ein Thema bleiben, weil Technik uns in allen Tätigkeiten begleitet und gerade die Transformation der Energiewende uns beruflich vor ganz neue Herausforderungen stellt, die neben anderen Querschnittsthemen sehr eng mit technischen Themen verknüpft sind. Das Thema Mint verbindet viele Bereiche, die in einer zukunftsorientierten Welt von Bedeutung sind“, betonte Dr. Britta Kastens vom Institut für die Transformation des Energiesystems (ITE) im Fachbereich Technik an der FH Westküste.
Eltern ins Boot holen!
Mit dem „ElternKompass“ von DIGI:BO
Das Team von ME2BE stellt auf der digitalen Berufsorientierungsplattform DIGI:BO den neu entwickelten Elternkompass vor. Angesichts der enormen Vielfalt von über 320 Berufen und fast 21.000 Studiengängen ist es heutzutage schwierig, einen umfassenden Überblick zu behalten und fundierte Urteile zu fällen, insbesondere wenn Eltern ihren Kindern Ratgeber bei der Berufswahl sein möchten.
Vor diesem Hintergrund hat ME2BE für die DIGI:BO in Zusammenarbeit mit dem Ausbilderkreis vom ChemCoast-Park auf der Grundlage eines gemeinsamen Workshops einen ersten Meilenstein entwickelt: den „ElternKompass“. Die Plattform ist speziell auf die Bedürfnisse von Eltern ausgerichtet und soll die Lebenswelt- und Werteorientierung der DIGIBO widerspiegeln. „Im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern haben wir festgestellt, dass Eltern eine entscheidende Rolle als Ratgeber für ihre Kinder spielen, und deshalb möchten wir ihnen mit dieser Plattform die Möglichkeit geben, sich mit anderen Eltern auszutauschen und sich zu vernetzen”, erklärte Patricia Rohde, Online Redakteurin bei der ME2BE MEDIEN GmbH. „Unser Ziel ist es, Eltern in Schleswig-Holstein dabei nicht nur Raum für einen umfassenden Überblick über die vielfältigen beruflichen Möglichkeiten für ihre Kinder zu geben, sondern deren berufliche Orientierung aktiv mitzugestalten“, führte Rohde weiter aus.
Wie Worten zu Taten werden – ein „Abend der Berufe“ bei Covestro
Abgerundet wurde das Brunsbütteler Industriegespräch Spezial mit dem „Abend der Berufe“ im Ausbildungsbereich von Covestro.
Auf Initiative von Jürgen Evers besuchten Auszubildende des ersten Jahres Schulen in Brunsbüttel, um die Jugendlichen und ihre Eltern zum Abend der Berufe im ChemCoastpark einzuladen. Diese Initiative erwies sich als großer Erfolg, denn zahlreiche Jugendliche und ihre Eltern kamen am 6. Juli um 17 Uhr in die Ausbildungshalle, um von den Auszubildenden und ihren Ausbildungsleitern mehr über die Berufe des Chemielaboranten (m/w/d), Chemikanten (m/w/d), Elektronikers für Automatisierungstechnik (m/w/d) und Industriemechanikers (m/w/d) zu erfahren.
„Dieses Jahr hatten wir Azubis zum ersten Mal die Möglichkeit, das Event eigenständig zu organisieren. Über einen Zeitraum von vier Monaten trafen wir uns alle vier Wochen mit unserer Ausbildungsleiterin Christin Tange, um alles zu planen“, freute sich Rodrigo, angehender Chemikant bei Covestro. Bei der Planung lag ihnen besonders am Herzen, dass die Jugendlichen an diesem Abend nicht nur zuschauen, sondern auch selbst aktiv werden konnten. Als besonderes Highlight organisierten sie außerdem Werksrundfahrten über das Gelände. „Während meines Bewerbungsgesprächs wurde mir das Technikum gezeigt, und das hat mich vollends überzeugt, meine Ausbildung zum Chemikanten bei Covestro zu absolvieren“, erzählt Nils, angehender Chemikant bei Covestro.
Diese Initiative von Covestro zeigte modellhaft, dass durch die direkte Interaktion mit den Auszubildenden und Ausbildungsleitern die Jugendlichen einen realistischen Einblick in die verschiedenen Berufsfelder gewinnen können. Die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden und das Unternehmen hautnah zu erleben, war für viele ein überzeugender Schritt in Richtung ihrer beruflichen Zukunft!
TEXT Sophie Blady
FOTO Sophie Blady