Wie die Windkraft Forschung und Unternehmen in Schleswig-Holstein beflügelt – und umgekehrt

Wie die Windkraft Forschung und Unternehmen in Schleswig-Holstein beflügelt – und umgekehrt

Der Bund will die Windenergie zum Rückgrat der Energieversorgung ausbauen. Den Hochschulen im Norden kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Sie müssen die Innovationen liefern und die Fachkräfte ausbilden, um den Boom zu stemmen. In der Branche herrscht Aufbruchstimmung.

Am Anfang steht ein Fehlschlag von gigantischem Ausmaß. 100 Meter hoch ist der Turm, der zu Beginn der Achtziger an der windumtosten Elbmündung in Schleswig-Holstein in die Höhe wächst. 340 Tonnen wiegt das Maschinenhaus, das ein Schwerlastkran auf die Turmspitze wuchtet. 23 Tonnen bringt jedes der beiden Rotorblätter auf die Waage, die Monteure daran befestigen. Growian, die „Große Windenergie Anlage“, geht am 17. Oktober 1983 in Betrieb. Das Bundesforschungsministerium hat den Riesen aufstellen lassen, um zu prüfen, ob die Windenergie technisch und kommerziell in der Lage ist, einen Beitrag zur Deckung des deutschen Strombedarfs zu leisten.
Kritiker argwöhnen allerdings bald, dass Growian das genaue Gegenteil beweisen soll. Denn den etablierten Energieversorgern ist die Windkraft ein Dorn im Auge. Sie verdienen ihr Geld mit Atom- und Kohlekraftwerken. Dezentrale Windräder, am Ende gar in Bürgerhand, wären eine Gefahr für ihr Geschäftsmodell. In Zeitungsanzeigen behauptet die Atomindustrie noch in den Neunzigern, dass regenerative Energien selbst langfristig niemals mehr als vier Prozent des Stroms liefern könnten – zu unsicher sei die Technologie.
Und tatsächlich: Growian ist falsch konstruiert, die Anlage steht die meiste Zeit still, ein kontinuierlicher Messbetrieb ist kaum möglich. 1988 wird der Koloss abgerissen.

Windkraft als Antwort auf Tschernobyl und den Klimawandel

Heute steht Growian für zweierlei: Einerseits illustriert das Scheitern der Anlage die enormen Beharrungskräfte in Teilen von Industrie und Politik in Deutschland. Andererseits zeigt sie aber auch, wie diese Widerstände mit Tatkraft und Forschergeist überwunden werden können. Denn die Windenergie war mit dem Aus von Growian keinesfalls tot, im Gegenteil. Ökopioniere hielten an der Technologie fest, wenn auch zunächst in viel kleineren Dimensionen. Beseelt vom Wunsch nach einer sauberen, autarken Energieversorgung stellten sie wie im benachbarten Dänemark auch in Schleswig-Holstein Windräder auf, nicht selten Marke Eigenbau. Es waren die Ölpreiskrisen der Siebziger, die sie dabei motivierten, die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 und das erwachende Bewusstsein für die Gefahren durch die Erderhitzung.
Einen echten Schub für die Ökostromerzeugung brachte das von der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000 eingeführte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Es legte fest, dass Strom aus sauberen Quellen noch vor dem aus Kohle-, Gas- und Atomkraftwerken ins Netz eingespeist werden muss. Zudem garantierte es den Ökostromerzeugern einen festen Preis je gelieferter Kilowattstunde und half ihnen so, im Wettbewerb mit der übermächtigen Energiewirtschaft zu bestehen.Fuchs

Schon heute erzeugt die Windenergie ein Viertel des deutschen Stroms

In der Folge erlebten die Erneuerbaren einen Boom, von dem Deutschland heute profitiert. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres lieferten sie ziemlich genau 50 Prozent des Stroms. Die Hälfte davon wiederum steuerten Windräder an Land und auf See bei.
Schleswig-Holstein, das so früh wie kaum eine andere Region auf Windenergie gesetzt hat, ist noch deutlich weiter. Das Land erzeugt schon heute weit mehr Ökostrom, als es selbst verbrauchen kann; der Deckungsgrad liegt bei 160 Prozent. Windräder gehören vielerorts längst so selbstverständlich zum Landschaftsbild wie die Leuchttürme an den Küsten und die rapsbedeckten Hügel im Hinterland.

Erneuerbare schützen das Klima – und den Frieden in der Welt

Künftig soll die Bedeutung der Erneuerbaren noch wachsen. Die Grundlage dafür hat die Ampelkoalition in Berlin mit ihren ambitionierten Klimazielen geschaffen. Doch das ist nicht alles. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der Gaskrise blicken auch Kritiker anders auf die Energiewende. Während Öl- und Gasvorkommen in vielen Regionen der Welt autokratische Machthaber stützen, Konflikte befeuern oder gar Kriege auslösen, gelten erneuerbare Energien heute als Friedensgaranten. „Freiheitsenergien“ nannte sie Bundesfinanzminister Christian Lindner deshalb wenige Tage nach Putins Angriff auf die Ukraine.
Kurzfristig soll vor allem Flüssigerdgas (LNG) die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Erdgas reduzieren. Dazu werden unter anderem an der Elbe in Stade und Brunsbüttel LNG-Terminals gebaut. Daran sollen schon bald Tankschiffe aus Ländern wie den USA oder Katar festmachen.

LNG ist bestenfalls eine Übergangslösung – bis grüner Wasserstoff verfügbar ist

Doch LNG schädigt das Klima ähnlich stark wie Kohle. Mittelfristig müssen deshalb Ökostrom und mit dessen Hilfe erzeugte klimafreundliche Gase den Bedarf decken, allen voran Wasserstoff und Ammoniak. Hätte Deutschland schon heute eine Alternative zu russischem Gas, „würde sich Wladimir Putin sicherlich zweimal überlegen, damit zu drohen, den Gashahn abzudrehen“, sagt Vincent Stamer, Handelsökonom am Kieler Institut für Weltwirtschaft.
Deutschlands Ziel ist eine Vollversorgung mit Erneuerbaren spätestens ab 2045. Zu diesem Zeitpunkt soll das Land klimaneutral sein. Das heißt, dass dann nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre geblasen werden dürfen, als ihr an anderer Stelle entzogen werden, etwa durch das Pflanzen von Bäumen oder das Wiedervernässen von Mooren. Wälder und Moore sind natürliche CO2-Speicher.
Bis zur Klimaneutralität ist es allerdings noch ein weiter Weg. Denn auch wenn die Wende im Stromsektor schon zur Hälfte geschafft ist, betrug der Anteil Erneuerbarer an der insgesamt verbrauchten Energie, im Fachjargon Primärenergie genannt, im vergangenen Jahr erst 16 Prozent. Die wichtigsten Energieträger waren nach wie vor Öl, Gas und Kohle. Um sie komplett zu ersetzen, muss die Kapazität vor allem der Wind- und der Solarenergie drastisch ausgebaut werden.German LNG

Sektorenkopplung: Wie Windenergie in die Heizung kommt

Das Prinzip, mit dem das gelingen soll, sämtliche Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft zu elektrifizieren, trägt einen sperrigen Namen: Experten sprechen von „Sektorenkopplung“. „Die erneuerbaren Energien aus dem Strombereich müssen auch in den Wärme- und Mobilitätsbereich viel stärker Einzug halten als das bisher der Fall ist“, erklärt Jan Philipp Albrecht, der bis Juni Energie- und Klimaminister in Kiel war.
Wie genau das funktioniert, wird in Schleswig-Holstein schon heute erprobt. Im sogenannten „Reallabor Westküste 100“ etwa liefern Offshore-Windparks in der Nordsee sauberen Strom, der an der Raffinerie Heide im Großmaßstab in grünen Wasserstoff umgewandelt werden soll. In weiteren Schritten soll die saubere Energie ein Zementwerk, Gewerbebetriebe, Haushalte und den Flughafen Hamburg versorgen. An dem vom Bund geförderten Projekt ist auch das Institut für die Transformation des Energiesystems (ITE) der Fachhochschule Westküste in Heide beteiligt.

„Wir knüpfen Wachstum an Nachhaltigkeit“ – Jan Philipp Albrecht

Das Reallabor dient als Skizze zur Dekarbonisierung ganzer Industrie- und Verkehrszweige. „Wir knüpfen wirtschaftliches Wachstum an ökologische Nachhaltigkeit und tragen so dazu bei, dass sich neue technologische Entwicklungen und neue Perspektiven auch wirtschaftlich dort ergeben, wo die Nachhaltigkeit wieder zu einem treibenden Faktor wird“, sagt der grüne Ex-Minister Albrecht.
Auch eine andere saubere Energieform könnte Schleswig-Holstein künftig stärker anzapfen: die Wärme aus den Tiefen der Erde. Sogenannte Geothermiebohrungen machen sie nutzbar. Die Technologie fristet bislang ein Schattendasein in der Energiewende, besitzt aber großes Potenzial. Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie bis zu einem Viertel der Wärme für Industrie und Haushalten liefern könnte. Erforscht wird sie unter anderem vom Kompetenzzentrum Geo-Energie an der Universität Kiel. Im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg ist eine Bohrung in 1300 Metern Tiefe kürzlich auf ein vielversprechendes Vorkommen an heißem Wasser gestoßen, das den Stadtteil künftig versorgen soll.

Die Windbranche kämpft um Fachkräfte – und um die Herzen der Bürger

Mit der Energiewende wächst allerdings nicht nur der Bedarf an Strom. Auch gut ausgebildete Fachkräfte werden immer wichtiger. Denn all die Wärmepumpen, die künftig gebraucht werden, müssen irgendwie in die Keller kommen, die Solarmodule auf die Dächer und die Windräder auf den Acker oder ins Meer. Doch gerade die Windindustrie scheint für die anstehende Herkulesaufgabe schlecht gerüstet. In den vergangenen Jahren ist der Bau von Windparks in Deutschland fast zum Erliegen gekommen. Auslöser waren Proteste von Anwohnern, aber auch politische Weichenstellungen der Merkel-Regierungen. In der Folge gingen Tausende Arbeitsplätze verloren, die heute fehlen.
Die Hochschulen im Norden tragen ihren Teil dazu bei, die Lücke an Fachkräften zu schließen. Eine wichtige Rolle dabei spielt das renommierte Wind Energy Technology Institute (WETI) an der Hochschule Flensburg. Auf die 40 Studienplätze pro Jahr kommen allerdings mehr als 500 Bewerbungen, wie WETI-Leiter Torsten Faber erklärt. Er versucht der Windkrise nicht allein durch die Ausbildung von Ingenieuren entgegenzuwirken. Auch die Inhalte der Ausbildung sollen dabei helfen, den Rückhalt für Windräder zu erhöhen und Steine für die Energiewende aus dem Weg zu räumen. „Früher war das Motto dabei immer ‚höher, schneller, weiter‘. Der Trend geht heute aber mehr in Richtung Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz“, sagt Faber. Seine Studierenden haben eine Low-Emission-Turbine entwickelt, die möglichst leise und optisch dezent arbeiten soll und eine gute CO2-Bilanz aufweist.
Um die Klimabilanz von Windrädern zu verbessern, nimmt der WETI-Leiter vor allem die Komponenten in den Blick, aus denen sie konstruiert werden. Vor allem Holz könne eine wichtige Rolle spielen, um den Stahleinsatz zu reduzieren. Sowohl die Rotorblätter als auch der Turm von Windrädern könne aus dem nachwachsenden Rohstoff gebaut werden, sagt Faber, der allen Widrigkeiten der Vergangenheit zum Trotz eine Aufbruchstimmung in der Branche wahrnimmt.

Windräder können für Strom sorgen – und für Regen

Geht es nach den Forschern der Hochschule Flensburg, leistet die Windenergie künftig noch auf einem ganz anderen Weg einen Beitrag, um dem Klimawandel und seinen Folgen zu begegnen. Windräder sollen in trockenen Zeiten für Regen sorgen. Das ist die Idee von Clemens Jauch, Professor am Fachbereich Energie und Biotechnologie. In Gegenden, die über mehr Wasser verfügen, als sie benötigen, sollen Pumpen das kostbare Nasse in die Rotorblätter transportieren, von wo es über Düsen in die Luft abgegeben wird. Der Wind trägt es dann weiter auf trockene Felder, die bewässert werden müssen. Denn davon wird es in Zukunft immer mehr geben, der trockene und heiße Sommer dieses Jahres in Europa hat einen Vorgeschmack darauf gegeben.
„Der ideale Standort für die Anlagen sind Flussmündungen, wo sich Süßwasser in Kürze mit Salzwasser vermischt und damit für uns unbrauchbar wird“, sagt Jauch. „Dort wird niemandem das Wasser weggenommen. Denn hier geht es nicht nur um ein paar Liter, sondern um viele Kubikmeter – pro Sekunde.“
Windräder als Regenmaschinen – das ist eine Vision, auf die selbst die Windkraftpioniere der Siebziger und Achtziger nicht gekommen sind.

Dieser Artikel ist in der Campus Winter 2022 erschienen. Lies im nächsten Artikel, warum die Windkraft Ingenieure braucht.

TEXT Volker Kühn

FOTO Shutterstock,German LNG Terminal GmbH