Musik: Pädagogische Fachkräfte händeringend gesucht

Musik: Pädagogische Fachkräfte händeringend gesucht

Wie die Musikhochschule Lübeck dem Lehrermangel an Grundschulen begegnen will

Musik fällt aus. Wenn es um Fachkräfte geht, gehören Schulfächer im ästhetischen Bereich zu den Stiefkindern an deutschen Lehranstalten. Besonders rar sind pädagogisch und fachlich qualifizierte Lehrpersonen für den Musikunterricht und ganz hinten an steht dabei die Versorgung in den Grundschulen. Für Experten ist das ein Desaster, weil der Mangel nicht nur die Kinder, sondern eine ganze Gesellschaft prägt. Jetzt ist die Musikhochschule Lübeck (MHL) angetreten, das zu ändern: Vom Wintersemester 2024/25 startet dort der neue Masterstudiengang „MusikPlus“, der Studierenden aus künstlerischen und künstlerisch-pädagogischen Bachelor-Studiengängen einen Umstieg in die Grundschule ermöglicht.

Lesen, Schreiben, Rechnen – Wenn es um das Thema Grundschule geht, steht die Vermittlung dieser Fähigkeiten oben auf der Liste der Prioritäten. Mit Musik wird eher die lockere Seite des Schulalltags verbunden und was locker ist, läuft schnell Gefahr, hintenüber zu fallen. Der saure Apfel, in den man angesichts generellen Lehrermangels beißen muss, dürfe das nicht sein, warnen Musiker und Pädagogen. „Musik ist lebensrelevant. Sie gehört zu den prägenden Erfahrungen menschlichen Seins – ob in der Familie, in Kita, Schule oder Musikschule. Gerade in der Grundschule, wo alle Kinder erreicht werden, bietet sich die einmalige Chance, die kulturelle Vielfalt den nächsten Generationen zu vermitteln – vorausgesetzt, der Musikunterricht findet tatsächlich statt“, kommentierte 2020 der damalige Generalsekretär des Deutschen Musikrats, Prof. Christian Höppner eine Studie, die einen dramatischen Fachkräftemangel dokumentiert: Danach fehlen deutschlandweit 23.000 ausgebildete Musiklehrerinnen und Musiklehrer, wodurch bis zu 73 Prozent des Musikunterrichts fachfremd erteilt werden bzw. ausfallen. Werde nicht gegengesteuert, sei die Tendenz laut Erhebung garantiert steigend. Für das Jahr 2028 drohe demnach ein Defizit von 25.280 Musiklehrkräften. Schleswig-Holstein steckt in dieser Misere mittendrin. Für den Zeitraum 2021 bis 2032 hat das Kieler Bildungsministerium einen Bedarf an Neuanstellungen von 973 Musiklehrern ermittelt; aber nur 65 werden an den schleswig-holsteinischen Hochschulen ausgebildet.

Mit gründlicher Ausbildung in die Schulpraxis

Jetzt will die MHL gegensteuern. Im neu geschaffenen Masterstudiengang „MusikPlus“ können Studierende mit Lehrveranstaltungen, Seminaren und Praktika an ihre musikpraktischen Kompetenzen anknüpfen und für die musikpädagogische Arbeit mit Kindern im Grundschulalter ausbauen. „Die Kombination aus vertieften künstlerischen Kompetenzen, die die Studierenden in ihrem Grundstudium erworben haben und die intensive pädagogische Ausbildung im ,MusikPlus‘-Master werden die künftigen MHL-Absolvierenden auszeichnen. Diese Kombination birgt ein großes Potential, um Kinder an den Grundschulen mit Musik zu erreichen“, sagt Annette Ziegenmeyer. Gemeinsam mit der Grundschul-Musikpädagogin Anna Unger-Rudroff hat die Professorin für Musikpädagogik den neuen Studiengang entwickelt. Zentrale „MusikPlus“-Bestandteile sind studienbegleitende Schulpraktika. Um möglichst breit für die spätere Berufspraxis aufgestellt zu sein, gehört auch eine Grundbildung in den Fächern Deutsch und Mathematik zum Studienangebot. Und: „MusikPlus“-Absolvierende seien sogar doppelt qualifiziert, weil sie zusätzlich eine berufsbefähigende Bachelorqualifikation im Bereich „Elementare Musikpädagogik“ (EMP) erwerben können.
Master-of-Education-Studiengänge, die zum Referendariat für Lehrkräfte an Gymnasien und Sekundarschulen im Fach Musik qualifizieren, gibt es an der MHL bereits. Nun sind Bachelor-Absolventen angesprochen, die sich zugleich eine Qualifikation für das Grundschullehramt Musik vorstellen können. „Wir wollten das gesamte Lehrkräftepaket, von klein bis groß“, sagt Anna Unger-Rudroff. Warum der Fokus auf die Kleinen? „Weil alle wichtigen Fähigkeiten, also auch die musikalischen, im Alter von 5 bis 9 Jahren ausgebildet werden“, sagt Annette Ziegenmeyer. Und dabei geht es beileibe nicht nur darum, herausragende Talente zu entdecken oder das Konzertpublikum für morgen heranzuziehen. Es gehe um Persönlichkeitsentwicklung, um die Herausforderung, sich als Person einzubringen, einander zuzuhören, kulturelle Teilhabe, Empathiebildung, Demokratiebildung, so Anna Unger-Rudroff, und nennt auch Sprachbildung, die zentral sei im Fach Musik und wichtig insbesondere für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache erfahren.

Zwei Frauen vor Trave

Mit „MusikPlus“ gegen den musischen Notstand in den Grundschulen: Musikpädagogin Prof. Dr. Annette Ziegenmeyer und Grundschul-Musikpädagogin Anna Unger-Rudroff haben den neuen Studiengang an der Musikhochschule Lübeck entwickelt.

Musik ist Kernfach in der Menschenbildung

Grundschullehrerin Anna Unger-Rudroff erzählt von einem als schwierig geltenden Schüler, der sich am Schlagzeug als jemand erlebt, der Befall bekommt. „Das ist die Erfahrung: ,Ich kann etwas‘“, sagt sie und fragt: „Wieviel weniger Geld würden wir für Resozialisierung ausgeben müssen, wenn alle Kinder Erfahrungen wie diese machen könnten?“ Annette Ziegenmeyer beschreibt Musik als ,Kitt der Gesellschaft‘. „Da ist es doch verheerend, wenn nur diejenigen teilhaben können, die sich außerschulische Angebote leisten können.“ Musikalische Bildung hat positiven Einfluss auf jedermann. Neben Sport seien vor allem die künstlerischen Schulfächer „die Kernfächer in der Menschenbildung und Ausgangspunkt schulischen Lernens für die Vernetzung mit den Geistes- und den Naturwissenschaften“, setzte Christian Höppner 2020 den Ergebnissen der Erhebung zum Zustand des Musikunterrichts entgegen.
Dass Musik mehr ist, als in der Freizeit genossener Wohlklang, ist auch für Christian Kuhn, Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals, keine Frage: „Wir wissen längst, dass Musik an Schulen Intelligenz wie auch soziale Kompetenz fördert. Sie kann Kinder zusammenbringen, die Sprachbarrieren haben, die vielleicht traumatisiert sind, nicht sprechen können oder wollen. Hier ist Musik ein perfekter Hebel, und deshalb müssen wir alles tun, damit Musik eine größere Rolle in den Schulen spielen darf als bisher.“ Und seine ganz persönliche Erfahrung? „Ich habe das unglaubliche Glück, von frühester Kindheit an mit Musik im Elternhaus konfrontiert gewesen zu sein. Dadurch habe ich den emotionalen Reichtum der Musik gespürt und trage ihn noch immer in mir. Für mich ist Musik ein substantieller Bestandteil des Lebens, weit über Unterhaltung hinaus.“

„Handlungsplan Lehrkräftegewinnung“

Die Musikhochschule sei ein starker Motor gegen den Fachkräftemangel im Fach Musik, heißt es von Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, „MusikPlus“ Teil des „Handlungsplanes Lehrkräftegewinnung“, den die Landesregierung zusammen mit der „Allianz für Lehrkräftebildung“ aufgelegt habe. Die Bedeutung, die das Land dem neuen Studiengang beimisst, zeigt sich in finanzieller Zuwendung: „MusikPlus“ läuft als Pilotprojekt über einen Zeitraum von fünf Jahren und wird bis 2028 mit jährlich 82.000 Euro vom Land gefördert. Und am Tag der Projekt-Präsentation hat die Bildungsministerin noch ein Präsent dabei: „Das Land gibt weitere 250.000 Euro, sodass ,MusikPlus‘ zukünftig als regulärer BA- und Masterstudiengang und als Umstiegsmaster ausgebaut werden kann. Wir erweitern damit an der Musikhochschule Lübeck das Angebot für Studierende auf Lehramt.“ Mit ersten ausgebildeten Lehrkräften rechnet die Ministerin 2026.
Doch nicht nur Grundschulkinder und mit ihnen die Gesellschaft sollen von „MusikPlus“ profitieren. Auch die Studierenden, die mit dem neuen Angebot auf ein zweites Standbein setzen können. Das Interesse sei deutlich spürbar, es gebe Nachfragen, die vielfach mit dem Bemerken „endlich das Grundschulalter!“ einher gegangen seien, sagt Annette Ziegenmeyer.

Wie es sein kann, als Musiker an einer Schule zu unterrichten, erfahren der 21 Jahre alte Linus Lemke und der 22 Jahre alte Chris Wagner bereits. Sie gehören zu den MHL-Studierenden, die nach dem Bachelor of Arts das Lehramt am Gymnasium anstreben, und vor allem gehören sie zu denen, die in ihren Schulen die Bedeutung von Musikunterricht erfahren haben, die bei ihnen immerhin zukunftsweisend war und sie selbst in eine musikalische Elite befördert hat. Beide unterstreichen jedoch die Bedeutung von musikalischer Breitenförderung. Sie, Musiker mit Leib und Seele, betonen, wie wichtig qualifizierte Lehrkräfte in Schulen sind, denn dort sollte es im Fach Musik nicht nur um das fraglos wichtige Singen und (Zu-)Hören gehen, sondern das Fach umfasse darum auch, Instrumente kennenzulernen, in die Musikgeschichte, -wissenschaft und -produktion einzutauchen – und darum, von der Begeisterung eines Musikers angesteckt zu werden. „Es ist toll, von jemandem unterrichtet zu werden, der musikalische Berufserfahrung hat“, sagt Linus Lemke.

Zwei Studenten im Musikraum

Die Musikstudenten Chris Wagner (22) und Linus Lemke (21) sind Musiker mit Leib und Seele und zugleich in ein Studium für Lehramt an Gymnasium umgestiegen.

Wie Kinder ihre Stärken kennenlernen

Er spricht von Musik als „Inselfach“, in dem Themen verhandelt werden können, die in vielen anderen Fächern der Themendichte wegen schnell mal unter den Tisch fallen, im Musikunterricht jedoch zu zentralen Inhalten gehören. Da wäre etwa die Sozialkompetenz fördernde gemeinsame Arbeit an einem Projekt oder die Erfahrung, wie persönliche individuelle Zurücknahme ein Gesamtprodukt begünstigt. „Zum Beispiel im Chor“, ergänzt Chris Wagner, „wo das Miteinander besser sein kann, als die Stimme eines Einzelnen.“ Da wäre insbesondere eben auch die Erfahrung, sich etwas nicht Alltägliches zuzutrauen. Der angehende Lehrer Linus Wagner berichtet von einer Schülerin, die auf dem Weg zu einem Ersten allgemeinbildenden Schulabschluss bei einem Musical-Projekt erfahren hat, dass es sich lohnt, auch bei Rückschlägen am Ball zu bleiben: „Das ist eine Schlüsselkompetenz.“
Was kann Musik für mich sein? Dies sei die Frage, die sie an ihre Grundschüler herantrage, sagt Anna Unger-Rudroff. Ihr Ziel: So zu unterrichten, dass jedes Kind seine Stärken kennenlernt, statt an den Schwächen gemessen zu werden. Für sie und Annette Ziegenmeyer ist klar: „Grundschulmusik ist ein Fach, das man studiert haben muss.“

Informationen zum Studiengang „MusikPlus“ und seinen Zulassungsvoraussetzungen gibt es auf der Internetseite der Musikhochschule Lübeck unter www.mh-luebeck.de

Info: Die Musikhochschule Lübeck

Die Musikhochschule Lübeck (MHL) ist eine von 24 Musikhochschulen in Deutschland und die einzige des Landes Schleswig-Holstein. In den Studiengängen „Musik vermitteln“ und „Musikpraxis“ werden mehr als 400 Studierende von über 170 Dozierenden zu Solisten, Orchestermusikern, Sängern, Komponisten, Kirchenmusikern, Musikpädagogen ausgebildet. Praxistraining ist im Studienplan fest verankert. Bei zirka 300 Veranstaltungen im Jahr stellen sich Studierende einem Publikum; mit diesen meist kostenlosen Angeboten ist die MHL größter Konzertveranstalter im Land. Höhepunkt im Konzertprogramm ist das jährlich stattfindende Brahms-Festival Lübeck, bei dem Studierende und Dozierende gemeinsam auf den Bühnen stehen. Das diesjährige Festival widmet sich vom 3. bis 12. Mai dem Thema „Rausch“.

TEXT Karin Lubowski
FOTO Karin Lubowski / iStock_South_agency