Der Philosoph aus Königsberg hat das Denken und damit das Leben revolutioniert. Wer war der Mann?
Da ist kein reiches Elternhaus, in dem Bildung leicht zugänglich und selbstverständlich wäre. Im preußischen Königsberg wird Kant am 22. April 1724 in eine angesehene, aber verarmte Handwerkerfamilie geboren. Er ist das vierte Kind des Sattler- und Riemenmeisters Johann Georg Kant und dessen Frau Anna Regina. Insgesamt wird das Ehepaar neun Kinder bekommen, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichen. Der Taufname des vierten Kindes lautet Emanuel, im preußischen Kalender ist sein Geburtstag der Tag des Heiligen Emanuel. Nach dem Tod des Vaters 1746 nennt er sich „Immanuel“.
Die Mutter Anna Regina Kant, eine als fromm und der Bildung aufgeschlossen beschrieben Frau, stirbt, als Kant 13 Jahre alt ist; sie gilt ihm sein Leben lang als Inbegriff eines moralischen Menschen. Und sie ist es wohl auch, die seine Lust am Lernen, Nachdenken und Forschen entfacht. Vor den Toren der Stadt zeigt sie ihrem sechs Jahre alten „Manelchen“ den Sternenhimmel. Das Erlebnis ist offenbar prägend. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz“, schreibt Immanuel Kant 1788 in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“.
Vorerst fällt er durch Wissbegierde und Intelligenz auf. Er besucht eine Elementarschule, wo ein Lehrer dem Achtjährigen den Weg zum angesehenen Gymnasium Collegium Fridericianum ebnet – durchaus kein üblicher Weg für ein Kind seiner Herkunft. Kant lernt klassische Sprachen. Mit 16 Jahren studiert er an der Albertus-Universität Königsberg Naturwissenschaften und Philosophie, Naturphilosophie und elementare Mathematik.
Stubenhocker im Elfenbeinturm?
Ein eigenbrötlerischer Streber? Ein Pedant? Ein Stubenhocker im Elfenbeinturm? Kant, der wohl bedeutendste deutsche Philosoph, wird auch Zielscheibe von Gespött. „Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte“, wird Heinrich Heine über ihn schreiben, und: „Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben, in einem stillen, abgelegenen Gäßchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, daß die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagwerk vollbrachte wie ihr Landsmann Immanuel Kant.“
Tatsächlich: In der Mitte seines Lebens wird Kant ein „Genie der Pedanterie und Pünktlichkeit“, wie der Philosoph Wilhelm Weischedel schreibt. Der junge Kant zeigt sich aber durchaus offenherzig und dem lustigen Leben zugetan. Als Student finanziert er seinen Lebensunterhalt mit Nachhilfeunterricht und Billardspielen. Als er das so meisterhaft beherrscht, dass niemand mehr gegen ihn antreten will, verlegt er sich aufs Kartenspiel. Mit 22 veröffentlicht Kant seine erste Schrift: „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“.
Dann stirbt, neun Jahre nach der Mutter, auch der Vater und Kant ist verantwortlich für die Geschwister. Er bricht sein Studium ab, wird Hauslehrer im heutigen Russland, dann im heutigen Polen. Acht Jahre geht das so, dann, 1754, setzt der nun 30jährige sein Studium in Königsberg fort und schreibt an seinem ersten wichtigen Werk: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“. Kant bekommt eine Lehrbefugnis als Privatdozent. Er ist beliebt bei seinen Studenten, Anhänger und Kritiker bewundern ihn gleichermaßen. Manfred Kühn zitiert in seiner 2003 geschriebenen und nun neu aufgelegten Biografie „Kant“ einen Zeitgenossen, der sich an den Herrn Magister Kant als den galantesten „Mann von der Welt“ erinnert. Von der Welt? Kant kommt aus Königsberg nicht mehr heraus. Aber muss er das, um an seinem philosophischen Haus zu bauen? Er ist Kosmopolit. Das Königsberg seiner Zeit, von Heinrich Heine als alte „Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands“ genannt, ist eine lebendige Metropole.
Der Wandel zum „Genie der Pedanterie und Pünktlichkeit“ vollzieht sich um das 40. Lebensjahr Kants, er geht mit der Konzentration auf Ethik und Politik einher. Und nicht mehr lange, dann wird mit der französischen Revolution die ganze Welt im Wandel sein und Immanuel Kant bei aller Brutalität und Schreckensherrschaft Anhänger dieser Revolution.
Ein akribisch getaktetes Leben
Privates und Berufliches sind kaum zu trennen. Der akribische Denker taktet nun akribisch sein Leben. Wecken ist um 4.45 Uhr. Täglich. Das Frühstück besteht aus zwei Tassen Tee und einer Pfeife. Anschließend: Vorlesungen vorbereiten und ab Schlag 7 Uhr halten. 9 Uhr: Denken und Schreiben. „Es ist Dreiviertel“ soll er seiner Köchin immer um 12.45 Uhr zugerufen haben, damit diese die einzige Mahlzeit des Tages pünktlich auf den Tisch bringe. Die nimmt er in Gesellschaft zu sich, denn: „Allein zu essen ist für einen philosophierenden Gelehrten ungesund. Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeiten an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit, die er dagegen gewinnt, wenn ein Tischgenosse ihm durch seine abwechselnden Einfälle neuen Stoff zur Belehrung darbietet; welchen er selbst nicht hat ausspüren dürfen.“
Kants Mittagsgäste sind männlich. Kluge Frauen sind ihm suspekt bzw. gelten ihm nicht als „richtige“ Frauen. Hatte er Beziehungen? Wahrscheinlich. Die Ehe sah er jedoch als Problemfall, denn „sie ist eine vertraglich geregelte Geschlechtsgemeinschaft über den wechselseitigen Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorgan und Vermögen macht.“
Der große Denker ist auch nur ein Mensch seiner Zeit. Überhaupt ist Kant vor Vorurteilen nicht gefeit. Sein „Wissen“ über Ethnien etwa übernimmt er höchst unkritisch aus Reiseberichten: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen …“ beginnt eine Behauptung, von der man indessen sicher sein darf, dass der Aufklärer Kant sich heute dafür entschuldigen würde. Allerdings übereignet er mit seiner Philosophie der Welt genau die Instrumente, mit denen Rassismus zu überwinden ist: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ , verlangt er mit dem Kategorischen Imperativ, den er in der „Kritik der praktischen Vernunft“ diskutiert. Der Volksmund hat seine Grundformel moralischen Handelns vereinfacht: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
An seiner Mittagstafel ist rein Philosophisches indessen kein Thema. Man bespricht Politisches. Nach dem Essen steht Spazierengehen auf dem Stundenplan und anschließend der Besuch bei einem engen Freund, dem Kaufmann Joseph Green. Um 22 Uhr ist Schlafenszeit.
Bahnbrechende Werke im reifen Alter
Es ist das Jahr 1770, in dem die Universität Königsberg Immanuel Kant endlich zum Professor für Metaphysik und Logik kürt. Da ist er ein reifer Mann von 46 Jahren. In der Festrede zu seinem 50. Geburtstag wird ihn der Rektor der Universität mit „ehrwürdiger Greis“ anreden. Gemessen an der Lebenserwartung seiner Zeit ist Immanuel Kant in der Tat bereits betagt, und doch hat er noch viel vor. Seine Hauptwerke – „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788), „Kritik der Urteilskraft“ (1790), „Zum ewigen Frieden“ (1795) und „Metaphysik der Sitten“ (1797) sind noch nicht geschrieben.
An seine bahnbrechenden Werke macht er sich mit Mitte 50. Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Das sind die entscheidenden Fragen seines Lebens, die zum Zentrum seines Denkens führen: Was ist der Mensch? Genau darum gehe es, nämlich was es heißt, ein Mensch zu sein, sagen die bekennenden Kantianer Omri Boehm und Daniel Kehlmann, die zum Kant-Jahr mit ihrem Buch „Der bestirnte Himmel über mir“ ein Gespräch über den Philosophen herausgebracht haben. Für Kant ist der Mensch ein vernunftfähiges Wesen, das nach Prinzipien leben kann, die es sich selbst gegeben hat – mit der Pflicht beispielsweise zur Hoffnung auf dauerhaften Frieden und zur Arbeit daran. Eine Utopie? Was, fragt der Kantianer, was ist die Alternative?
Kant ist 60 Jahre alt, als sein Freund Joseph Green, der Freund, den er täglich besucht hat, stirbt. Der Verlust ändert sein Leben. Kant zieht sich zunehmend zurück. 20 Lebensjahre liegen noch vor ihm, es sind Jahre, in denen Freunde und gewiss auch er selbst einen allmählich von statten gehenden körperlichen und geistigen Abbau konstatieren. Selbst seine Pedanterie vergeht. Er könne der Welt nicht mehr nützen und wisse nicht, was er mit sich anfangen soll, klagt er dem Theologen Ehregott Andreas Wasianski, der ihm als Sekretär zur Hand geht. Kant stirbt am 12. Februar 1804 um 11 Uhr. „Es ist gut“, sind seine letzten Worte. Dankt er für den Schluck Wein, dem man ihm gerade zu trinken gegeben hat? Verabschiedet er sich vom Leben? Blickt er zurück auf das Geschaffene? Letzteres jedenfalls prägt Demokratien und ist Ideengeber der Vereinten Nationen.
TEXT Karin Lubowski
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