Berufsorientierung für Sinnsucher

Berufsorientierung für Sinnsucher

Wenn Fachkräftemangel auf Gen Z trifft

Das Gespenst des Fachkräftemangels spukt allgegenwärtig – auch am Tag. Bezeichnet man in Deutschland doch erwerbsfähige Menschen als Fachkraft, die eine mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein anerkanntes akademisches Studium absolviert haben – also den gelernten Fachlageristen ebenso wie die studierte Bauingenieurin. In der Pflege, dem Medizinsektor, bei MINT-Berufen und im Handwerk sind die Leerstellen am deutlichsten zu spüren. Neben dem demografischen Wandel leiden besonders Handwerk und Pflege unter einem Imageproblem und darunter, dass immer mehr junge Menschen das Abitur mit anschließendem Studium einer Ausbildung vorziehen.

Unternehmen stehen unter Druck, offene Stellen mit qualifizierten Fachkräften zu besetzen. Viele von ihnen möchten das Image betroffener Berufe verbessern, indem sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Vorzüge wie ein attraktiveres Gehalt, flexiblere Arbeitszeitmodelle oder Weiterbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten bieten. Denn gerade Generation Z und nachfolgende Generationen legen deutlich mehr Wert auf sinnstiftende und zukunftsfähige Berufe – gerne im Bereich Nachhaltigkeit.

Beruflichen Weg anvisieren, Alternativrouten kennen

Allein in Schleswig-Holstein gab es im April dieses Jahres 10.500 noch offene Lehrstellen. Dem gegenüber steht eine hohe Abbruchquote – sowohl im Ausbildungs- als auch im Hochschulbereich. Ein nicht unwesentlicher Schlüssel zum Umgang mit dem Fachkräftemangel und um dem verbreiteten Abbrechen entgegenzuwirken, setzt neben der Attraktivitätssteigerung von Berufen und Ausbildungsstellen noch früher an: bei der Berufsorientierung. Sie kann Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, frühzeitig eigene Talente und fachliche Vorlieben zu entdecken. An der Goethe-Gemeinschaftsschule in Kiel hat man das erkannt. Hier steht seit fünf Jahren Anne Ahrens von der Agentur für Arbeit einmal wöchentlich zur Verfügung, wenn es darum geht, Schülerinnen und Schülern beim Entdecken ihres Wunschwerdegangs zu unterstützen, schulmüden Jugendlichen Alternativen zum Abitur aufzuzeigen und Praktikumsplätze zu finden.

Links sitzt eine Frau an einem Schreibtisch recht sieht man unscharf ein Gesicht eines Schülers.

Finde deinen Weg! – Berufsberaterin Anne Ahrens über die Relevanz von Berufsorientierung

Eigentlich hatte Anne Ahrens Wirtschaftsinformatik studiert, doch dann wurde ihr bewusst: „Computer sind nicht so kommunikativ wie Menschen“ – und so orientierte sich die zweifache Mutter um. Neben dem Mut, zu wechseln, wenn einen eine andere Berufung ruft, möchte sie jungen Menschen helfen, bereits früh die eigenen Talente und beruflichen Wünsche zu entdecken, um rechtzeitig den geeigneten Weg einzuschlagen. In ihrer Rolle als Berufsberaterin der Agentur für Arbeit an der Goethe-Gemeinschaftsschule in Kiel betreut und begleitet sie junge Suchende von wissbegierig bis schulmüde. Sie zeigt ihnen berufliche Perspektiven und die oft ungeahnten Vorzüge des durchlässigen
deutschen Schulsystems auf und freut sich am meisten, wenn es am Ende freudestrahlend heißt: „Frau Ahrens, ich habe meinen Ausbildungsvertrag unterzeichnet!“

Es ist vielen Schülerinnen und Schülern gar nicht bekannt, dass man auch während einer Ausbildung die Fachhochschulreife erwerben kann. Wenn sie das erfahren, sind sie oft angetan. Viele sind auch etwas schulmüde und empfinden die Praxisorientierung einer Ausbildung als attraktiv und erkennen, ich bekomme das Ansehen und den Schulabschluss auch auf diesem Weg.

Schule ist eine Gemeinschaft. Sie kommen von außen, von der Agentur für Arbeit. Wie fühlen Sie sich angenommen?

Als ich damals angefangen habe, haben wir Berufsberater die Schule einmal im Monat besucht. Damals fühlte man sich nicht integriert, dafür war man einfach zu selten hier. Seit zwei Jahren bin ich einmal in der Woche hier, jeden Mittwochvormittag. Durch die häufige Präsenz ist man ganz anders in den Köpfen der Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler verankert und kommt auch mal mit ihnen ins Gespräch.

Wie kommen die Schülerinnen und Schüler auf Sie zu?

Ich beginne stets mit den achten Klassen. Vor Corona besuchten die Klassen das Berufsinformationszentrum und zum Einstieg in das Treffen bereitete ich einen kleinen Vortrag zum Thema vor: Wie entwickle ich eine Idee, was ich später einmal werden möchte? Danach durften die Kinder an den PCs des BIZ eigenständig recherchieren. In der neunten Klasse folgt dann eine intensivere Zusammenarbeit, da es für einige, die bald die Schule verlassen, bereits konkretere Pläne braucht. Aber auch diejenigen, welche noch die zehnte Klasse absolvieren
möchten, sollten sich dann bereits Gedanken machen – auch in Richtung Praktikum. In der neunten und zehnten Klasse biete ich im Rahmen dessen eine kurze Veranstaltung in den Klassen an und erinnere daran, dass ich jeden Mittwochvormittag für Beratungen zur Verfügung stehe.

Wie wird dieses Angebot genutzt?

Das Angebot wird sehr gut angenommen. Viele kommen von sich aus mit Fragen. Wenn an einem Tag nicht so viel los ist, winke ich auch einmal in die Klassen und gebe Bescheid, dass ich da bin. Gute Erfahrungen habe ich auch mit Doppelgesprächen gemacht. Diejenigen, die das Angebot noch nicht genutzt haben, spreche ich freundlich an. Meist kommen sie danach doch auf mich zu. Grundsätzlich ist die Berufsberatung freiwillig – keiner muss, aber ich habe noch niemanden erlebt, der sich auf keinen Fall über berufliche Zukunftspläne unterhalten wollte.

Was stellen die Schülerinnen und Schüler für Fragen?

An dieser Schule fällt mir auf, dass die allermeisten weiter zur Schule gehen wollen. Die Schülerinnen und Schüler wissen, hier ist ab der zehnten Klasse schluss und sie müssen sich rechtzeitig orientieren, ob sie auf ein berufliches Gymnasium oder auf eine Gemeinschaftsschule mit Oberstufe wechseln möchten. Da wünschen sich viele Informationen darüber, welche Profile an welcher Schule angeboten werden. Wenn man anhand der bisherigen Zeugnisse ablesen kann, dass das Gymnasium nicht unbedingt die naheliegendste Idee ist, leite ich das Gespräch auch in Richtung Ausbildung als Alternative.

Stichwort Durchlässigkeit an deutschen Schulen …

Genau. Ähnlich ist es mit dem Ersten Allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA). Vielen ist nicht bekannt, dass sie auch während der darauffolgenden Ausbildung den Mittleren Schulabschluss erhalten können, wenn sie einen Notendurchschnitt von 3,0 oder besser schaffen. Das ist gerade dann für diejenigen Schülerinnen und Schüler interessant, die sagen, sie sind eher der praxisorientierte Typ.

Liegt das Problem darin, dass das Abitur gesellschaftlich anerkannter ist?

Ja, die anderen Abschlüsse leiden unter einem Imageproblem. Bei einigen Schülerinnen und Schülern üben aber auch die Eltern Druck aus. Oftmals, weil sie gar nicht wissen, wie viel Anstrengung hinter dem Weg bis zum Abitur steht.

Was vermitteln Sie den Schülerinnen und Schülern neben der Durchlässigkeit des Systems noch?

Die meisten fragen sich: Wie finde ich einen Beruf, der zu mir passt und wie plane ich die nächsten Schritte? Gerade in Coronazeiten war es oft schwierig, ein geeignetes Praktikum zu finden. So kennen die Schülerinnen und Schüler häufig nur die Schule und waren noch gar nicht draußen, sodass sich das zunächst fremd anfühlt. Da vermittle ich dann, wie man sich am besten mit seinen Interessen und Fähigkeiten auseinandersetzt und – jetzt, da es gerade wieder geht – wie man gezielt für die Ferienzeit einen Praktikumsplatz sucht und findet. Große Resonanz hatten wir beispielsweise auf das Projekt „Praktikumswochen“, bei dem sich Schülerinnen und Schüler für ein einwöchiges Praktikum in fünf Unternehmen anmelden konnten. Das Projekt soll den Mut wecken, sich dem Thema Ausbildung zuzuwenden und die eigenen Stärken, Schwächen und Vorlieben zu entdecken.

Gibt es Kooperationen der Agentur für Arbeit, von denen die Schülerinnen und Schüler profitieren?

Wir kooperieren eng mit Kammern wie Industrie- und Handelskammer, der Handwerkskammer sowie der Ärzte- und Zahnärztekammer und bieten Eltern gemeinsame Informationsabende an. Auch die Kammern bieten tolle Angebote zum Thema Berufsorientierung.

Haben die Schülerinnen und Schüler viel Respekt vor der Arbeitswelt?

Die Arbeitswelt ist für sie oft fremd und das ist in meinen Augen eines der größten Probleme, dass die Zeiten, die die Schule zur Berufsorientierung einräumt, zu knapp sind. Andererseits sind vielen Unternehmen die Schülerinnen und Schüler beim Schülerpraktikum noch zu jung – das erschwert die Praktikumssuche. In Folge dessen sind sich viele unsicher, was sie werden möchten, können sich nicht festlegen und gehen daher erst einmal weiter zur Schule, wenngleich sie eigentlich schon wissen, dass dies nicht der optimale Weg für sie ist.

Welche Rolle spielen die Eltern bei Ihrer Arbeit an der Schule?

Das ist ganz unterschiedlich. Für mich sind die Eltern sehr wichtige Kooperationspartner, weil sie ihre Kinder kennen. Ich freue mich immer, wenn die Eltern beim Gespräch dabei sind, weil es dem Gespräch mehr Tiefe gibt. Viele Schülerinnen und Schüler erzählen auch stolz, dass ihre Eltern ihnen bei den Bewerbungen helfen. Das finde ich gut. Ich erlebe aber auch das Gegenteil. Schülerinnen und Schüler, die sagen, sie würden gerne eine Ausbildung absolvieren, aber die Eltern wollen, dass sie studieren. In solchen Fällen biete ich das Gespräch an und informiere über Kompromisse.

Was macht den Reiz Ihrer Arbeit aus, junge Menschen auf das Berufsleben vorzubereiten?

Es macht wirklich Spaß. Wenn man die Schülerinnen und Schüler in der achten Klasse kennenlernt, sind sie oft noch weit vom Berufsorientierungsprozess entfernt. Für mich ist es schön, sie in den drei Jahren bis zum Abschluss zu begleiten und sie wachsen zu sehen. Ich bekomme eine große Bandbreite mit, von dem Entdecken von Stärken und Talenten über die Suche nach einem Praktikum bis hin zu dem Punkt, an dem die Schülerinnen und Schüler freudestrahlend zu mir kommen und sagen: ‚Frau Ahrens, es hat geklappt, ich habe meinen Ausbildungsvertrag unterzeichnet.‘ Wir Berufsberater bleiben noch ein Jahr nach dem Schulabschluss für die Jugendlichen zuständig, für den Fall, dass Schwierigkeiten im Betrieb oder an der Berufsschule auftauchen. Als Agentur für Arbeit sind wir sehr daran interessiert, dass die Jugendlichen nicht nur die Ausbildung starten, sondern auch erfolgreich abschließen. Deshalb bieten wir das Projekt ‚Assistierte Ausbildung‘ an – hierbei handelt es sich um einen kostenlosen Nachhilfeunterricht zum Berufsschulunterricht. Schülerinnen und Schüler wenden sich dann zum Beispiel an mich und sagen, die Ausbildung macht mir großen Spaß, aber ich habe Schwierigkeiten in Elektrotechnik, Rechnungswesen oder Mathematik – dann können wir unterstützen.

Was raten Sie Schülerinnen und Schülern, worauf sie bei der Berufswahl achten sollten?

Häufig ist die erste Frage: Was verdiene ich denn da? Dann schauen wir nach und sehen, das ist je nach Stadt und Unternehmensgröße sehr unterschiedlich. Diese Frage ist also schwer zu beantworten. Dann kommen wir schnell darauf, dass neben dem Gehalt auch andere Dinge wichtig oder sogar wichtiger sind. So ist zum Beispiel die Work-Life-Balance für die heutige Jugend von großer Bedeutung. Zudem erlebe ich die jungen Menschen sehr engagiert; so suchen viele nach sinnstiftenden Berufen, zum Beispiel im Umweltbereich. Es bewegt sich auch im Studienbereich einiges und das macht meinen Job so spannend, weil ich Jugendliche dahingehend beraten kann.

Auf der einen Seite gibt es die heute selbstbestimmter aufwachsenden jungen Menschen, deren Berufsorientierung mit neuen Werten und Erwartungen einhergeht, auf der anderen Seite teilweise Arbeitgeber, die anders aufgewachsen sind und es kennen, sich am Anfang durchbeißen zu müssen. Wie bereiten Sie junge Menschen darauf vor?

Auch in der Arbeitswelt hat sich bereits einiges getan und es gibt inzwischen viele sehr moderne Unternehmen, die wissen, dass man Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwas bieten und sie weiterqualifizieren muss, um sie zu halten. Ein gutes Beispiel dafür ist die GMSH. Was dieser Betrieb für die Auszubildenden und die Weiterentwicklung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unternimmt, ist vorbildlich.

Ihr ultimativer Tipp zum Thema Berufsorientierung?

Mein Tipp ist, frühzeitig zu beginnen, sich bereits ab der achten Klasse Gedanken zu machen und dann vieles auszuprobieren und die Gelegenheiten zu nutzen, mit Eltern und Verwandten zu reden und mal einen Tag in Berufe reinzuschnuppern, um mutiger auf die Entscheidung der eigenen Berufswahl zusteuern zu können. Macht man sich zu spät Gedanken, holt einen das Thema irgendwann ein. In Studiengängen liegt die Abbruchquote in Universitäten bei 30 Prozent, da hätte vorher ein Tag an der Uni oder ein Gespräch mit Studierenden oder anderen Auszubildenden manches Mal helfen können. Wirtschaftsinformatik war für mich der richtige Weg, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass Computer nicht so kommunikativ sind wie Menschen und habe mich umorientiert. Das möchte ich jungen Menschen auch mitgeben, dass man immer wechseln kann – ob den Arbeitgeber, das Berufsfeld oder das Ausbildungs- oder Studienmodell. Es gibt immer Alternativrouten.

TEXT Sophie Blady, Kristina Krijom

FOTO Henrik Matzen