Wie Pandemie und Konflikte die Handelswege beeinflussen
Die Mitarbeiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft haben das große Ganze im Blick. Aktuell beschäftigen sie sich vor allem mit Krisen. Einer von ihnen ist Vincent Stamer. Er beobachtet internationale Handelsströme – und was Krieg und Pandemie mit ihnen machen.
Die Weltwirtschaft kommt nicht zur Ruhe: Corona-Pandemie, Container-Knappheit, Rohstoffmangel, explodierende Kosten – und jetzt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kein Wunder, dass sich auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) aktuell vor allem mit Krisen beschäftigt. „Das ist eine unheimlich wichtige Aufgabe, zu beobachten, was jetzt gerade passiert und zu den relevantesten Themen Daten und Analysen bereitzustellen“, sagt Vincent Stamer. Der 30-Jährige ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut und schreibt an seiner Dissertation. Er beschäftigt sich viel mit Containerschifffahrt, etwa der Havarie der „Ever Given“ im Suezkanal, davor aber auch mit dem Airbus-Boeing-Konflikt und mit dem Brexit. Aktuell ist der Krieg in der Ukraine hinzugekommen. Wirtschaftsforschung als Krisenforschung eben.
Stamer ist Handelsökonom und inzwischen gefragter Experte. Studiert hat er an der Brown University im US-Bundesstaat Rhode Island, später an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zwischendurch arbeitete der 30-Jährige für JPMorgan Chase und die Boston Consulting Group. In München war Stamer am ifo Institut für Wirtschaftsforschung, wo er sich unter Gabriel Felbermayr auf Handelspolitik spezialisierte. Als Felbermayr nach Kiel ans IfW wechselte, um dessen Präsident zu werden, nahm er Stamer mit, der hier seine Promotion begann. Felbermayr ist inzwischen weiter gezogen, Stamer blieb. „Wenn man mich am Anfang des Masters in München gefragt hätte, ob ich in die Forschung will, dann hätte ich auf keinen Fall gesagt“, erinnert er sich. „Aber mir hat die empirische, sehr datengetriebene Arbeit unheimlich viel Spaß gemacht.“
„Der Glaube ist, dass wir in Deutschland immer alles richtig machen und nur, wenn wir in Ausnahmesituationen nach Katar reisen und Gas kaufen, dann machen wir das Geschäft mit dem Teufel, mit dem Beelzebub“
-Robert Habeck
Forscher sorgen für Analysen und Prognosen
Aktuell beschäftigt sich Stamer auch mit dem Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Schon Wochen bevor bekannt wurde, dass der Handel zwischen Russland und Deutschland massiv eingebrochen ist, hatte Stamer auf seinem Schreibtisch Daten, die genau das voraussagten. „Schon Mitte März war der Umschlag an den drei größten Containerhäfen Russlands um 50 Prozent eingebrochen.“ Es sei spannend zu sehen, „dass die eigenen Daten funktionieren“. Und dass die Wissenschaft mit Analysen und Prognosen einen Beitrag leisten kann.
Der Konflikt in der Ukraine und die dadurch für jeden sichtbare Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas hat eine Debatte um Handelsbeziehungen mit autokratischen Staaten aufgeworfen. Jahrelang hat Deutschland Russland durch Handelsbeziehungen finanziell gestärkt – und kommt heute nicht ohne russisches Gas aus. Um die Lieferungen aus Russland zu kappen, verhandelte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) mit dem umstrittenen Golfstaat Katar – und geriet dafür heftig in die Kritik. „Der Glaube ist, dass wir in Deutschland immer alles richtig machen und nur, wenn wir in Ausnahmesituationen nach Katar reisen und Gas kaufen, dann machen wir das Geschäft mit dem Teufel, mit dem Beelzebub“, rechtfertigte sich der Vizekanzler in der ZDF-Sendung Markus Lanz. Und er fügte hinzu: „Wenn wir unseren Alltag leben, wenn wir unsere Autos tanken, wenn wir unser Hack aufs Mettbrötchen draufschmieren, immer sind wir auf der Seite der Guten? Das können nur Leute glauben, die noch nie im Schweinestall waren.“
Ethische Handelsbeziehungen sind möglich – zumindest langfristig
Dass es innerhalb kürzester Zeit möglich sein wird, nur noch mit „guten“ Staaten zu handeln, glaubt auch Stamer nicht. Auf lange Sicht sehe das aber anders aus. „Mittel- und langfristig sind die Wirtschaftszweige viel flexibler und adaptiver, als wir weithin denken“, prognostiziert der Wissenschaftler. „Man kann seine Handelspartner durchaus dazu bringen, zum Beispiel unter ethischen Voraussetzungen Produkte herzustellen. Wenn wir einen starken Handel unter Demokratien haben, dann besteht auch die Möglichkeit, autokratisch regierte Staaten zum Umdenken zu bringen.“ Hätte Deutschland schon heute eine Alternative zu russischem Gas, „würde sich Wladimir Putin sicherlich zweimal überlegen, damit zu drohen, den Gashahn abzudrehen“. Trotzdem: Zu glauben, dass autokratische Staaten durch Handel automatisch zu lupenreinen Demokratien würden, wäre falsch. „Das sieht man eben an Russland“, sagt Stamer. „Aber wir wissen auch nicht, wie die Welt aussähe, wenn wir nicht mit Autokratien handeln würden. Vielleicht hätte Putin die Ukraine schon 2014 komplett angegriffen statt auf der Krim Halt zu machen.“
Aus Stamers Sicht sind die aktuellen Krisen und Konflikte Teile einer Gesamtentwicklung. „Die Globalisierung, die in den 90er und frühen 2000er Jahren noch ziemlich kräftig vorangeschritten ist, hat seit der Finanzkrise an Fahrt verloren“, stellt er fest. „Das sieht man zum Beispiel an den Freihandelsabkommen wie TTIP, das zwischen Europa und den USA nie zustande gekommen ist – vor allem wegen des gesellschaftlichen Widerstands.“ Hinzu komme der Makrotrend, dass alles teurer wird. „Die Transportkosten steigen, Ressourcen werden knapp. Das führt vor allem zur Inflation.“ Die Krisen machten uns bewusst, wie abhängig wir vom internationalen Handel seien. „Aber auch, wie stark wir eigentlich in der Vergangenheit vom Freihandel profitiert haben“, betont der Kieler Wissenschaftler.
Man kann seine Handelspartner durchaus dazu bringen, zum Beispiel unter ethischen Voraussetzungen Produkte herzustellen. Wenn wir einen starken Handel unter Demokratien haben, dann besteht auch die Möglichkeit, autokratisch regierte Staaten zum Umdenken zu bringen.
Stamer sieht die Weltwirtschaft am Scheideweg
Hinzu komme der Trend zur Nationalisierung. Die hohe Zustimmung für Marine le Pen in Frankreich, die Präsidentschaft Donald Trumps und die in manchen Bundesländern große Unterstützung für die AfD seien „Symptome“ von wirtschaftlicher Abgehängtheit – und für die wird oft die Globalisierung verantwortlich gemacht. „Die Rufe nach Nationalisierung von Wirtschaft werden immer stärker“, diagnostiziert Stamer, der die Welt an „einem Scheideweg“ sieht. „Entweder stärken wir den Freihandel und sorgen dafür, dass möglichst alle Menschen davon profitieren, etwa durch die Verteilung des Profits. Oder wir machen weiter wie bisher. Dann sind Deglobalisierung und Nationalisierung von Wirtschaft kaum noch aufzuhalten.“
Dieser Artikel ist in der Campus Winter 2022 erschienen. Wenn dich die internationale Schifffahrt interessiert, lies doch den nächsten Artikel.
TEXT Robert Otto-Moog
FOTO IfW Kiel