Von Magischen Momenten und ‚Digitaler Depression‘ – ein Gespräch mit Prof. Dr. Doris Weßels von der Fachhochschule Kiel

Von Magischen Momenten und ‚Digitaler Depression‘ – ein Gespräch mit Prof. Dr. Doris Weßels von der Fachhochschule Kiel

Vor gerade mal zwei Jahren erblickte ChatGPT das Licht der Welt. Am 30. November 2022 veröffentlichte das Unternehmen OpenAI aus San Francisco sein Schreibwerkzeug namens ChatGPT im Netz. Binnen fünf Tagen hatten sich eine Million Nutzer bei OpenAI registriert, um ChatGPT auszuprobieren. Seitdem steigen die Nutzerzahlen exponentiell. 3,7 Milliarden weltweite Aufrufe soll es im Oktober 2024 gegeben haben. Das entspricht einem Plus von 17,2 Prozent zum Vormonat und einem Zuwachs von 115,9 Prozent im Jahresvergleich. Im Grunde sind die Zahlen jedoch schon in dem Moment Makulatur, in dem man sie aufschreibt. Wer soll da noch mitkommen?

Die Nachricht aus dem November 2025: „Nach vorläufigen Schätzungen von Similarweb erreichte ChatGPT im Oktober einen neuen Rekord mit 3,7 Milliarden weltweiten Besuchen. Das entspricht einem Plus von 17,2 Prozent zum Vormonat und einem Zuwachs von 115,9 Prozent im Jahresvergleich.“

Doris Weßels ist Wirtschaftsinformatikerin und Professorin an der Fachhochschule Kiel. Zudem eine der gefragtesten Expertinnen für generative KI im Bildungsbereich.
Empfehlung: Sie gehört zu denjenigen in der Fachwelt, die das disruptive Potenzial von KI-gestützten Schreibwerkzeugen früh erkannt haben.

Frau Prof. Dr. Weßels, wir haben uns vor ungefähr zwei Jahren über das unterhalten, was heute in aller Munde ist: ChatGPT!

Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir seinerzeit gemeinsam einige Tools ausprobiert, die damals am Markt waren. Das muss kurz vor der Geburt von ChatGPT gewesen sein. Seither hat die KI ein exponentielles Wachstum mit rasanter Geschwindigkeit hingelegt. Die Qualität der Ergebnisse hat sich ebenfalls nahezu täglich gesteigert. Das ist überhaupt nicht mehr mit dem damaligen Output zu vergleichen.

Was ist seitdem passiert?

Hinter jedem dieser KI-Tools stecken die großen Sprachmodelle, die sogenannten Large Language Models (LLM). Diese laufen im Hintergrund. ChapGPT ist ja nur eines von vielen Frontend-Systemen. Wenn man sich also die Entwicklung anschaut, wie rasant der Fortschritt erfolgt ist und immer noch weiter voranschreitet, dann ist das schon enorm. KI-gestützte Schreibsysteme wie ChatGPT haben eine besonders smarte und niederschwellige Benutzerschnittstelle geschaffen. Letztlich basiert die Qualität der Ausgabe – also das, was die KI auf eine Frage hin, den ‚Prompt‘, ausspuckt – immer auf der geschickten Formulierung der Frage und natürlich auf der Leistungsstärke der Sprachmodelle. Die kontinuierlich zu beobachtende Leistungssteigerung und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten lösen bei manchen Menschen grenzenlosen Enthusiasmus aus. Bei anderen Menschen dominieren Ängste und Sorgen, bis hin zum Arbeitsplatzverlust.

Vor zwei Jahren sprachen wir über Ihre Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich der Lehre. Was davon ist eingetreten?

Das, was mich am meisten überrascht hat – und zwar im negativen Sinne – ist, wie lange der Bildungsbereich gebraucht hat, um sich überhaupt mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die anfängliche Abwehr: ‚Das ist ein Hype, der vorübergeht‘, ‚Das braucht die Welt nicht‘, ‚Das ist so schlecht‘ war riesengroß. Ich bin ehrlich gesagt irritiert, dass ich nach wie vor auf Lehrkräfte treffe, die sich immer noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Gerade im Bildungsbereich benötigen wir eigentlich wegweisende Lehrende. Leider werden aber selbst hoch motivierte Lehrende durch fehlende Qualifizierungsangebote und rechtliche Unsicherheiten, ob und wie sie KI im Unterricht einsetzen dürfen, häufig ausgebremst. Das führt dazu, dass der Bildungsbereich an vielen Stellen kein Vorreiter ist, sondern hinterherhinkt.

Überrollt uns die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung?

Eindeutig ja! Nehmen wir beispielsweite den rechtlichen Bereich. Texte, die eine KI verfasst, können beispielsweise nicht dem Urheberrecht unterliegen, da dieses Recht sich nur auf natürliche Personen anwenden lässt. Wem also gehört ein KI-generierter Text? Wir hätten dann aber auch Haftungsfragen zu klären: Wer ist verantwortlich für das, was die KI auswirft? Und wiederum im Bildungsbereich: Wie lassen sich individuelle Leistungen und Lernerfolge Studierender zu- und einordnen und vergleichbar überprüfen? Oder auf Schülerinnen und Schüler, also auf Kinder bezogen: Wie und ab wann unterstützt KI das kindliche Lernen? Gibt es ein ‚noch zu jung dafür‘?

Was schlagen Sie vor? Wie sollte man das Recht, die Erziehung, die Forschung und Bildung aufstellen, damit wir in Zukunft besser auf so etwas vorbereitet sind?

Das ist eine gute Frage. Genau aus dem Grund bin ich mit anderen Experten bereits vor zwei Jahren, im Frühjahr 2023, zu einem Bundestagsuntersuchungsausschuss eingeladen worden, der sich mit ChatGPT in Bezug auf Bildung, Forschung, Lehre und Technologiefolgenabschätzung beschäftigt hat. In diesem Rahmen sollte ich vorab eine Stellungnahme abgeben, die auch veröffentlicht worden ist. Darin habe ich empfohlen, möglichst schnell eine Task-Force KI und Bildung zu gründen, um alle Lehrenden an Hochschulen und Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen abzuholen und fit zu machen. Dann bräuchten wir aber auch ein weiterführendes verstetigendes Programm für die Weiterbildung. Denn mit einmaligem Updaten ist das ja nicht getan. Wir brauchen Formate, um uns kontinuierlich weiterzubilden.

Im Schulalltag scheitert das allerdings häufig. Warum erteilt man Lehrenden und Lernenden nicht die Erlaubnis, sich mit KI-gestützten Werkzeugen zu beschäftigen? Fehlt da der Wille zur Veränderung auch vonseiten der Verwaltung?

Auch Leitungsebenen in Bildungseinrichtungen sind verunsichert, wenn es aus den Bildungsministerien keine klaren Regelungen gibt. Daher herrscht immer die Sorge, man sei rechtlich angreifbar, wenn man den KI-Einsatz in Schulen und Hochschulen großzügig erlaubt. Aber es geht auch um die Finanzierung der Tools oder Lizenzen. Hinzu kommt der Bedarf für die Fort- und Weiterbildung der Lehrenden. Bisher erleben wir immer noch das eher punktuelle Engagement Einzelner, die sich um Austausch und um kollegiales Micro-Learning bemühen. Es ist an vielen Hochschulen, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen eher eine Bottom-up- als eine Top-down-Bewegung.

Wie ‚top‘ sollte Ihrer Auffassung nach ‚top down‘ aufgehängt sein?

Sehr hoch. Das hatte ich bereits in meiner Stellungnahme zum Bundestagsuntersuchungsausschuss zur Technologiefolgeneinschätzung geschrieben. Wir haben bislang ja noch nicht einmal ein dediziertes Digitalisierungsministerium! Bislang wurde ‚Digitalisierung‘ immer in anderen Ministerien ‚mal eben mit gemacht‘. Das beschreibt eigentlich gut das bislang vorherrschende digitale Mindset. Das ist leider ungenügend.

Zitat und Frau

Doris Weßels ist Wirtschaftsinformatikerin und Professorin an der Fachhochschule Kiel. Zudem eine der gefragtesten Expertinnen für generative KI im Bildungsbereich.

Was erhoffen Sie sich von der neu gewählten Bundesregierung?

Von den Rechtsfolgen der Einführung von generativer KI sind ja viele Lebensbereiche betroffen. Das Justizministerium muss sich mit rechtlichen Konsequenzen befassen. Das Bundeswirtschaftsministerium und das Finanzministerium müssen Auswirkungen für die Wirtschaft, unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Bundeshaushalte im Blick haben. Das Innenministerium muss sich u.a. mit neuen Herausforderungen für die Cyber-Sicherheit auseinandersetzen. Das Bildungs- und Forschungsministerium muss inhaltlich nachziehen. Und auch das Gesundheitsministerium, das Arbeits- und das Sozialministerium müssen sich mit den Folgen von KI und Digitalisierung auseinandersetzen. Man braucht für dieses Thema ein viel höheres Maß an interministerieller und interdisziplinärer Zusammenarbeit, als dies bisher der Fall ist. Diese digitale Disruption ist derartig tiefgreifend, dass wir ganz offensichtlich neue Strukturen benötigen.

Wie sollte ein digitales Mindset auf Bundesebene aussehen?

Ich wünsche mir, dass sich bei den Verantwortlichen auf den führenden Ebenen ein besseres allgemeines Verständnis für aktuelle technologische Entwicklungen fest verankert. Das Bewusstsein für die Relevanz dieser Zukunftstechnologie muss stärker entwickelt werden. Außerdem ist der Strukturkonservatismus im Bildungsbereich eine große Bremse auf dem Weg der Veränderung. Hinzu kommt, dass das agile Mindset bei vielen Köpfen der Führungsebene noch nicht sonderlich gut ausgeprägt ist.

Deutschland fällt in Zukunftstechnologien immer weiter zurück. Befinden wir uns in einer Abwärtsspirale?

Holger Schmidt – er schreibt für die FAZ und das Handelsblatt – hat Ende des Jahres 2024 den Begriff der ‚Digitalen Depression‘ geprägt, auf die wir uns zubewegen. Gemeint ist, dass Deutschland bei digitalen Zukunftstechnologien immer weiter zurückfällt. Wir sind in internationalen Rankings – sei es die digitale Anpassungsfähigkeit der Industrie, sei es die Roboterdichte oder andere Zukunftsprojekte wie autonome Mobilität, Elektromobilität oder Erneuerbare Energien – stark zurückgefallen. Wir müssen also einen Weg finden, um wieder nachhaltig wettbewerbsfähig zu werden und unsere Position zu verbessern. Wenn wir aber nun wieder am falschen Ende, nämlich bei Investitionen und an der Forschung sparen, wird der Rückstand größer statt kleiner. Das können wir uns nicht leisten! Die Frage an die neu gewählte Bundesregierung, aber auch an uns alle, muss daher lauten: ‚Schaffen wir es, uns einen neuen Duktus, einen neuen Modus zuzulegen, um aus der Digitalen Depression wieder heraus zu finden?‘

In einem mitreißenden Keynote-Vortrag im Rahmen der Woche der digitalen Berufsbildung haben Sie vor Schülerinnen und Schülern am RBZ Wirtschaft . Kiel angekündigt: ‚Die KI-Agenten sind da!‘ – Was soll das heißen?

Im Grunde heißt es, dass wir gerade die nächste Evolutionsstufe der KI-Technologie erleben. Generative KI-Agenten unterscheiden sich von KI-Chatbots durch ihre Fähigkeit, komplexe und langfristige Aufgaben ausführen zu können. Dafür nutzen sie ihr ‚Gedächtnis‘, um Informationen aus früheren Interaktionen abzurufen, sie planen strategisch für längere Zeiträume und agieren gemäß ihrer zugewiesenen Rolle. Von daher wirken KI-Agenten wie ein eigenständig denkender und handelnder Akteur, den wir für unterschiedlichste Aufgaben einsetzen können. Aber wir Menschen müssen diese Agenten auch zielgerichtet steuern. Und dafür brauchen wir eine hohe digitale Kompetenz. KI-Agenten erreichen einen bisher nie dagewesenen Autonomiegrad, bergen aber zugleich vielfältige neue Risiken.

Nobelpreisträger und KI-Koryphäe Geoffrey Hinton hat geäußert, er habe dabei geholfen, ein Monster zu erschaffen. Wie ist es um die ‚German Angst vorm Schwarzen Mann KI‘ bestellt?

Geoffrey Hinton ist sicher ein Ausnahmewissenschaftler und einer der Urväter dieser Technologie. Andererseits muss man aber auch wissen, dass man mit extremen Positionen, mit denen man an die Öffentlichkeit geht, sehr einfach Presse machen kann. Selbstverständlich nehme ich – im Übrigen auch bei der ganz jungen Generation der sogenannten Power User – eine gesunde Skepsis wahr, die auch Ängste widerspiegelt. Ich betone immer, dass die KI bzw. generative KI – wie jedes andere Werkzeug auch – zwei Seiten derselben Medaille prägt. Auf der einen Seite erleben wir eine großartige Assistenzfunktion durch die KI-Tools, auf der anderen Seite wachsen aber auch viele Gefahren, wie die digitalen Abhängigkeiten, das von vielen Bildungsexperten befürchtete ‚Deskilling‘, bis hin zum Machtmissbrauch durch politische Akteure. Wir müssen uns der Herausforderung stellen. Die KI-Technologie ist nicht nur gekommen, um zu bleiben, sondern entwickelt sich täglich rasant weiter. In sehr vielen Bereichen der Gesellschaft findet die Auseinandersetzung mit KI noch nicht in ausreichendem Maße statt. Das müssen wir dringend ändern, um einen noch weiterwachsenden ‚digital divide‘ zu verhindern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern.

Zum Abschluss folgende Frage: Können Sie noch hoffnungsvoll in die Zukunft schauen?

Na klar, (lacht)! Wenn ich nicht optimistisch wäre, könne ich meinen Job nicht mehr machen.

Frau Prof. Dr. Weßels, vielen Dank für das Gespräch.

Quellen:

ChatGPT-Zahlen

Link zur Stellungnahme Doris Weßels im Bundesuntersuchungsausschuss

TEXT Natascha Pösel
FOTO Michael Ruff