Aus der ME2BE-Reihe „Seltene Berufe – Folge deiner Leidenschaft“
Jedes Jahr entscheiden sich in Deutschland rund 30.000 Jugendliche für eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann oder zur Einzelhandelskauffrau, ca. 3.000 für eine Fleischer/inlehre, knapp 300 möchten Steinmetz/-in und Steinbildhauer/-in werden, aber nur etwa 30 werden Flechtwerkgestalter/in. Für ME2BE Grund genug, diesen seltenen Beruf ins Rampenlicht zu rücken. In unserer Reihe „Seltene Berufe – Folge deiner Leidenschaft“ präsentieren wir ein traditionelles Handwerk, in dem sehr glückliche Menschen arbeiten! Zum Beispiel die Korbmacherfamilie Sell aus Kiel!
Das Korbmacher-Handwerk entstand vor rund 250 Jahren in Deutschland und ist eng mit der oberfränkischen Stadt Lichtenfels und den umliegenden Dörfern verknüpft. Vier Faktoren begünstigten die Entstehung des Berufsbildes: 1.) Die Landwirtschaft bot zu wenig Ertrag und Arbeit für die Bevölkerung. 2.) Es gab einen großen Bedarf an robusten, langlebigen Transportbehältern für Nahrungsmittel und Holz. 3.) Das Klima im Maintal bot ideale Wachstumsbedingungen für die Weide. 4.) Das Flechten eines Korbes bedurfte wenig Material und Werkzeug.
Körbe aus Deutschland – ein früher Exportschlager
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Korbmacherei zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Korbwaren wurden in Heimarbeit, meist unter Mithilfe der gesamten Familie, hergestellt und wurden nach Holland, Preußen, Russland und Amerika exportiert. Aufgrund der hohen Nachfrage wurden auch französische Sorten verwendet, indonesisches Rotan (Rattan) importiert und spanisches Espartogras, kubanisches Palmblatt, italienische Strohborten, böhmische Holzfasergeflechte oder chinesische Reisstrohzöpfe verwendet. Aus dem Korbhandwerk entwickelte sich eine Korbindustrie, sodass 1909 eine eigene Korbfachschule in Lichtenfels errichtet wurde. Diese Korbfachschule heißt heute „Staatliche Berufsfachschule für Flechtwerkgestaltung“. Sie ist deutschlandweit die einzige ihrer Art!
3 Jahre Ausbildung – nur in Lichtenfels
Das Flechthandwerk produziert nicht nur Weidekörbe für Kaminholz oder für die Armbeuge auf dem Wochenmarkt. Es umfasst viele andere Bereiche, Techniken und Materialien. Aus diesem Grund heißt der Ausbildungsberuf heute nicht mehr Korbmacher/-in, sondern „Flechtwerkgestalter/-in“. Die Ausbildung dauert 3 Jahre und könnte grundsätzlich als duale Ausbildung in Betrieben vorgenommen werden. Vorausgesetzt man findet einen Betrieb, der ausbilden will. Das ist zurzeit in Deutschland leider nicht der Fall. Deshalb bietet die Staatliche Berufsfachschule für Flechtwerkgestaltung in Lichtenfels eine dreijährige schulische Ausbildung an. Vorteile: Die Ausbildung ist kostenlos und wer die Ausbildung erfolgreich abschließt, gilt als perfekt ausgebildet und kann überall auf der Welt als Fachkraft in diesem Beruf arbeiten. Nachteil: Die Ausbildung wird nicht vergütet und findet nur in Lichtenfels statt.
Christin und Michael Sell – Miteinander verflochten
In Kiel lebt die Korbmacherfamilie Sell und stellt in dritter Generation Körbe und andere Geflechte her. In guter Tradition ist der Betrieb in voller Familienhand – Vater, Mutter, Tochter und Schwiegersohn arbeiten Seite an Seite. Die Korbmacherei Sell ist außerdem der einzige Betrieb seiner Art in Schleswig-Holstein und Hamburg. Das bedeutet: Arbeit gibt es reichlich! Wir haben das junge Ehepaar Christin und Michael Sell in ihrer Werkstatt besucht und einen spannenden Crashkurs im Flechthandwerk erhalten!
ME2BE: Moin, moin. Danke, dass ihr uns in eure Werkstatt eingeladen habt. Was für Produkte entstehen hier bei euch?
Christin: Ja, herzlich willkommen in unserem kleinen Familienbetrieb. Wir produzieren verschiedene Weidekörbe, zum Beispiel Einkaufskörbe und Wäschekörbe in allen Größen und Ausführungen, aber auch Tablette, Schalen, Brotbackformen, Flaschenträger, Beet-Einfassungen, Holzkörbe, Teppichklopfer und Puppenwagen sowie diverse Flechtwerkobjekte zur Gartendekoration und alles, was die Leute bei uns in Auftrag geben. Außerdem reparieren wir Flechtwerke, zum Beispiel die klassischen Stuhlgeflechte und bieten auch Flechtkurse an.
Christin, du bist gebürtige Kielerin und führst den Familienbetrieb in dritter Generation. Dein Mann Michael kommt aus dem bayerischen Oberfranken. Wie habt ihr euch kennengelernt?
Christin: Tja, wir haben uns tatsächlich auf der Berufsfachschule in Lichtenfels kennengelernt. Michael stammt ja dort aus der Gegend. Er war damals im dritten und ich im zweiten Lehrjahr. Irgendwann hat’s zwischen uns gefunkt! Michael hat anschließend seinen Zivildienst absolviert und als ich mit der Ausbildung fertig war, hab ich ihm vorgeschlagen, mit nach Kiel zu ziehen und in unseren Betrieb zu kommen. Das war vor 15 Jahren!
Wie ist das, Michael, auf engem Raum mit der Familie zusammenzuarbeiten und im gleichen Haus zu wohnen? Wird euch das manchmal zu viel?
Michael: Nein, überhaupt nicht. Man muss sich nur mögen … dann ist das geradezu ideal. Es gibt nichts Schöneres als das zu tun, was einem Spaß macht! Wir üben unser Handwerk mit Leidenschaft aus. Und die Chance auf Selbständigkeit, die das Handwerk auch grundsätzlich bietet, war für uns immer wichtig!
Christin: Ich sag immer … ‚ich spiele kein Lotto oder muss irgendwo das Glück suchen, denn ich hab das Oberglück, das ich das lernen konnte, was ich immer lernen wollte!‘
Ihr arbeitet mit dem Rohstoff Weide. Und wie lässt es sich damit arbeiten? Und woher bezieht ihr das Material?
Michael: Die Weide ist ein schönes und dankbares Material, mit dem sich gut arbeiten lässt. Da Weiden sehr lang sind, müssen sie vor der Verarbeitung der ganzen Länge nach in Wasser eingeweicht werden. Das passiert hier gleich hinter der Werkstatt. Für die hellen, weißen Weideprodukte müssen die Weiden geschält werden, für das rot-braune Aussehen werden sie in kochendes Wasser gelegt, mit dem Gerbstoff Salizin gefärbt und anschließend geschält. Den Großteil unserer Weiden bauen wir selbst im Garten an.
Was waren die ungewöhnlichsten Auftragsarbeiten?
C: Wir erhielten mal den Auftrag, ein Strandkorbmuster anzufertigen, das anschließend industriell in Serie produziert werden sollte, mit eingearbeiteten Bullaugen und in größeren Maßen als die herkömmlichen Strandkörbe. Das müssen wir ganz gut hinbekommen haben, denn die Strandkörbe sehen wir heute überall bei einer bekannten Sylter Fisch-Gastronomie. Auch einen Weide-Käfig für eine Theaterkulisse haben wir schon hergestellt. Das war für die Aufführung des Stücks „Kasper Hauser“ am Nürnberger Burgtheater.
Welche Voraussetzungen sollte man für euer Handwerk erfüllen?
Michael: Die wichtigste Voraussetzung ist, dass es Spaß macht! Das Handwerk selbst erlernt man in der dreijährigen Schulausbildung. Grundsätzlich hilfreiche Eigenschaften für Flechtwerkgestalter/-innen sind Kreativität, handwerkliches Geschick, Fingerfertigkeit, Geduld, logisches Denken und räumliches Vorstellungsvermögen.
Welche Chancen und Risiken gibt es für Schülerinnen und Schüler, die sich für diese Ausbildung entscheiden?
Christin: Etwas schwierig ist es zu Beginn, da die Ausbildung ausschließlich in Lichtenfels stattfindet und nicht vergütet wird. Man muss sich also selbst versorgen oder ggf. BaföG beantragen. Dafür ist die Ausbildung kostenfrei und man kann alle Objekte, die man in der Ausbildung herstellt auch selbst verkaufen und muss nur das Material bezahlen. Ich glaube, der Beruf bietet gute Chancen für Leute, die selbst etwas herstellen und kreativ arbeiten möchten. Es gibt nach der Ausbildung mehrere Perspektiven. Neben der Anstellung in Betrieben gibt es die Möglichkeit, im sozialen oder therapeutischen Bereich zu arbeiten, zum Beispiel in der Ergotherapie oder in Behindertenwerkstätten. Einige studieren anschließend Design. Auch die Selbständigkeit ist eine Option. Es gibt eine stabile Nachfrage an Korbwaren. Und da es nicht so viele von uns gibt, sind die Chancen, seinen Platz zu finden, nicht so schlecht.
TEXT Christian Dorbandt
FOTOS Sebastian Weimar