Sew What? – Im Atelier von Maßschneiderin Sünne Lindenthal

Sew What? – Im Atelier von Maßschneiderin Sünne Lindenthal

Mit Mode verbindet Maßschneiderin Sünne Lindenthal, dass ihr Trends herzlich egal sind. Wer sich auf den Weg in ihr Atelier mit den großen weißen Rundbogenfenstern im Torhaus von Gut Oppendorf am Ende des Klosterkamps begibt, der ist auf der Suche nach einem unverwechselbaren Kleidungsstück für den ganz besonderen Moment. Die Maßschneiderin aus Schönkirchen fertigt seit über drei Jahrzehnten Einzelstücke für ihre Kundschaft.

Ein Plädoyer für Wertschätzung

Hinter den Türen des Ateliers von Sünne Lindenthal verbirgt sich ein wahres Kaleidoskop des Schneiderhandwerks: In einem antiken Bauernschrank reihen sich Stoffmuster aller Couleur. Schneiderpuppen drapieren aufwändig genähte Einzelstücke – von eleganten Mänteln bis zu zarten Seidenkleidern. Historische Nähmaschinen im Fenster erzählen von vergangenen Zeiten der Textilverarbeitung, während die Regale, gefüllt mit bunten Garnrollen und Knöpfen in allen erdenklichen Farben und Formen, das kreative Potenzial des Raumes unterstreichen.

In der Mitte des Ateliers steht der große Schneidertisch. Dort sitzt Sünne Lindenthal mit Pinsel und Neon-Textilfarbe und schreibt konzentriert ein Wortspiel aus Love und Revolution auf einen salbeifarbenen knielangen Mantel aus Wollvelours – eine spezielle Anfertigung für eine Modenschau auf dem European Master Tailor Congress in St. Gallen. „Mit dieser Buchstabenverdrehung möchte ich zu bewusstem Handeln für Liebe überraschen. Das Wortspiel bringt für mich eine Haltung von Friedfertigkeit zum Ausdruck, die, aktiv in die Welt getragen, so wertvoll ist”, erklärt sie und schaut besonnen von ihrer Arbeit auf. „Ich würde mir wünschen, dass Kleidung, die in riesigen Containern nach Europa geschwemmt wird, wertschätzend behandelt und wahrgenommen wird. Das Herstellen eines Kleidungsstückes ist nicht trivial. Es wäre toll, wenn ein Verständnis für Stoffe und Nähte ebenso zur Grundbildung junger Menschen gehörte, wie zum Beispiel die Prozentrechnung.”

Frau malt

Sünne Lindenthal benutzt Pinsel und Neon-Textilfarbe.

Fast but not fair

In Zeiten von Fast Fashion scheint der traditionelle Beruf des Maßschneiders ein Relikt vergangener Tage zu sein. Während die Massenproduktion von Kleidung in großen Fabriken mit hoher Geschwindigkeit und niedrigen Kosten voranschreitet, kämpfen Maßschneider wie Sünne Lindenthal darum, ihr Handwerk am Leben zu erhalten. Mit ihrer Fähigkeit, exklusive Stücke anzufertigen, die gekonnt auf die Bedürfnisse und Vorlieben ihrer Kundinnen zugeschnitten sind, verkörpern sie und ihre Kolleginnen und Kollegen eine Gegenbewegung zur Einheitskleidung aus der Massenproduktion. Jedes ihrer Kleidungsstücke wird mit Wertschätzung für das Handwerk und die verwendeten Materialien gefertigt. Ihre Stoffe bezieht die Damenschneidermeisterin mittlerweile unter anderem von einer Weberei am Chiemsee. Aber da die Maßschneidereien nach und nach das Handwerk niederlegen, sind auch Stofflieferanten aus Deutschland immer seltener zu finden. „In ganz Schleswig-Holstein bilden nur noch drei zünftige Handwerksbetriebe den Beruf des Maßschneiders aus”, bedauert Sünne Lindenthal, die selbst viele Jahre erfolgreich ausgebildet und ihre Nachwuchstalente bis zum Landessieg geführt hat.

Von Stoffresten zu Meisterwerken: Mode als Ausdrucksmittel

Bereits als Jugendliche entdeckte Maßschneiderin Sünne Lindenthal das große Potenzial, im Selbermachen von Kleidung ein kreatives Ausdrucksmittel zu finden. Während sie sich in der Schule in manchen Fächern mühte, wusste sie: „Wenn ich die Schneiderei erlerne, wäre ich in der Berufsschulklasse auf jeden Fall ganz vorne.”

Als jüngstes von 12 Geschwistern und Tochter eines Architekten und einer Mutter, die viel Wert auf Musik und Literatur legt, wuchs Sünne Lindenthal in einem kulturell geprägten Umfeld auf. „Meine Eltern haben schon früh unsere musikalische Entwicklung gefördert, sodass wir regelmäßig Hauskonzerte spielten. Meine Mutter schrieb zudem Texte für die Oppendorfer Chronik, während mein Vater die Bucheinbände gestaltete. Neben seiner Tätigkeit als Architekt hatte er auch seine besondere Gabe aus Jugendtagen immer wieder belebt und griff zu zierlicher Schere und schwarzem Papier: die Kunst des Scherenschnittes. Beide Elternteile haben mich in meinen beruflichen Bestrebungen immer unterstützt, worüber ich im Nachhinein sehr dankbar bin“, erläutert Sünne Lindenthal.

So gab es nach dem Abitur nur einen Weg für die gebürtige Oppendorferin: Eine Schneiderausbildung in der Nähe von Kiel. Nach der Gesellenzeit zog es Sünne Lindenthal nach Düsseldorf, wo sie an einer renommierten Meisterschule ihre Fähigkeiten weiter verfeinerte und schließlich den Meistertitel – Grundlage für einen eigenen Betrieb und für das Ausbilden in dem Handwerksberuf – erlangte. Mit 26 Jahren zog sie dann der Liebe wegen zurück in die Heimat zu ihrem Mann nach Schönkirchen, mit dem sie bereits seit der Schulzeit glücklich liiert war. Da die Region beruflich jedoch kaum Perspektiven für eine ambitionierte Schneidermeisterin bot, wagte sie den Sprung in die Selbständigkeit und eröffnete ihre eigene Maßschneiderei.

Schneiderin

Sünne schätzt die Freiheit, die ihr Beruf ihr bietet.

Berufung nach Maß

Jedes von Sünne Lindenthal kreierte Kleidungsstück erzählt eine eigene Geschichte und soll die Einzigartigkeit seiner Trägerin oder seines Trägers widerspiegeln. Die Maßschneiderin wählt Stoffe, Schnitte und Farben nicht nur danach aus, den Körper zu kleiden, sondern um individuelle Identitäten zu betonen. „Meine Kundinnen und Kunden suchen etwas ganz Persönliches. Etwas, das weit über aktuelle Modetrends hinausgeht“, betont Sünne. „Sie streben nach kreativem Ausdruck und legen großen Wert auf Individualität.“
Ein Beispiel für ihre maßgeschneiderten Werke ist der „Pink Wintermantel mit Polartauglichkeit“, ein Projekt aus der Corona-Zeit. Dieses aufwendige Stück wurde für eine Erzieherin gefertigt und zeichnet sich nicht nur durch seine ästhetische Schönheit aus, sondern auch durch seine Wind- und Wärmeschichten gegen die rauen norddeutschen Winter. „Dieser Mantel ist ein Kokon gegen das Wetter und ein fröhlicher Ausdruck der Persönlichkeit der Trägerin“, erklärt Sünne.
Sünne schätzt die Freiheit, die ihr Beruf ihr bietet: „Es ist ein Privileg, Ideen in die Realität umzusetzen und meine Kunden auf ihren individuellen kreativen Reisen zu begleiten.“ Jeder Auftrag ist eine neue Gelegenheit, gemeinsam etwas Einzigartiges zu erschaffen – ein Prozess, der Einfühlung für das Gegenüber sowie Kreativität und handwerkliches Können vereint.

Mehr:

Neben ihrer maßgeschneiderten Arbeit bietet Sünne Lindenthal auch spezielle Nähkurse in ihrer Sommerakademie sowie jeden Dienstag auf Gut Oppendorf an. Sie richten sich an alle, die sich für das Schneiderhandwerk interessieren, unabhängig von ihrem Können oder beruflichen Hintergrund.
Die Sommerakademie 2024 umfasst Termine im Juli und August, die gezielt darauf ausgerichtet sind, sowohl Anfängern als auch Fortgeschrittenen praktische Fertigkeiten und Einblicke in die Kunst des Schneiderns zu vermitteln.

TEXT und FOTO Sophie Blady