Politische Bildung: Wie die Spinne im Netz – Ein Interview mit Dr. Christian Meyer-Heidemann

Politische Bildung: Wie die Spinne im Netz – Ein Interview mit Dr. Christian Meyer-Heidemann

Über Sportjournalismus und ein Mathematik-Studium zum „Landesbeauftragten für politische Bildung“ – Christian Meyer-Heidemanns Karriereweg ist so einzigartig wie sein Job. Denn nur Schleswig-Holstein hat einen Landesbeauftragten für politische Bildung, in allen anderen Bundesländern gibt es Landeszentralen. Der feine Unterschied: Christian Meyer-Heidemann und sein Team sind der Landtagspräsidentin zugeordnet, keinem Ministerium. Das schützt davor, bei jeder Regierungsbildung von vorn beginnen zu müssen. „Jede neue Ministerin möchte natürlich eigene Schwerpunkte setzen. Ist auch verständlich. Das könnte aber langfristige Projekte erschweren“, meint Meyer-Heidemann. Das Amt verlangt von ihm politische Neutralität.
Christian Meyer-Heidemann freut sich, dass unser Gespräch ganz in der Nähe seines Büros stattfindet – direkt gegenüber des Kieler Landtags. Er kommt in Jeans und Hemd angeradelt, nimmt sich ein Glas Wasser und viel Zeit.

Die erste Frage, das muss ich jetzt korrekt wiedergeben: Sie ‚beraten Landtag und Landesregierung in Fragen politischer Bildung’. Was ist Ihr aktuelles Thema?

Wir haben natürlich viele aktuelle Themen, aber ich glaube, ein großes Thema ist die Situation der politischen Bildung an den Schulen. Wir wollen das Fach Wirtschaft/Politik, wie es hier in Schleswig-Holstein heißt, noch weiter stärken und die politische Bildung an den Schulen noch ausbauen. Darüberhinaus ist es uns von besonderer Wichtigkeit sicherzustellen, dass in Zeiten des Lehrkräftemangels alle Lehrstellen ausreichend besetzt sind. Wir haben zumindest erreicht, dass im Fach Wirtschaft/Politik vier Stunden in der Sekundarstufe I, also zum Beispiel zwei Stunden in der neunten sowie zwei Stunden in der zehnten Klasse, unterrichtet werden.

Ich vermute, als Jugendlicher war Ihr Berufsziel nicht ‚Landesbeauftragter für politische Bildung’ zu werden. Auf welchem Weg sind Sie schließlich in das Amt gekommen?

Zu Schulzeiten habe ich als Sportjournalist gearbeitet und zum Beispiel Oliver Kahn beim FC Bayern München interviewt. Aber so ein journalistischer Alltag ist doch auch ganz schön stressig. In einem Vollzeit-Jahr nach der Schule habe ich an 50 Sonntagen gearbeitet. Ich studierte dann Wirtschaft/Politik und Mathematik. Also eigentlich eine ziemlich wilde Kombi. Zugegeben, Mathe war eine ganz schöne Quälerei. Das Studium habe ich aber abgeschlossen. Danach bekam ich das Angebot, in der Politikwissenschaft als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kieler Uni zu arbeiten und jemanden ein halbes Jahr zu vertreten, wie das halt immer so ist. Und aus dem halben Jahr wurde noch ein halbes Jahr und noch ein halbes Jahr; so bin ich an der Uni geblieben und habe promoviert.

2015 wurde ein Landesbeauftragter gesucht, in einem offenen Verfahren. Sie haben sich durchgesetzt, und müssen sich nun auch mit Social Media auseinandersetzen.

Mit 35 bin ich in das Amt gekommen. Vielleicht war das ein Vorteil. Aber gerade in dem Bereich Social Media sind die Trends unheimlich schnell. Wir haben zur Zeit eine junge Mitarbeiterin, die bei uns ihr Freiwilliges Soziales Jahr absolviert. Manchmal frage ich sie, wie sie unsere Posts auf Instagram findet? Und sie gibt immer ein ziemlich ehrliches Feedback. Neulich kam jemand und fragte, willst du mit auf mein BeReal? Man steht da und fragt sich: Ok, was muss ich jetzt machen? Was ist das? Und gleichzeitig will ich mich nicht anbiedern. Ich möchte ja kein Berufsjugendlicher sein.

Sie haben über das Thema ‚Selbstbildung und Bürgeridentität‘ promoviert. Keine Begriffe, die man jeden Tag liest.

Mein Thema war -vereinfacht gesagt-  in der Bildung nicht immer nur auf den Output zu schauen, also etwa abzufragen: Wie heißen denn die Hauptstädte der Bundesländer? Ich habe damals schon gespürt, dass Emotionen eine ganz große Rolle spielen, dass die Wahrnehmung von Politik keine rein rationale Sache ist. Es geht um Gefühle, auch um Ängste, die viele Rechtspopulisten und Rechtsextremisten nutzen und verstärken, weil sie gar kein Interesse daran haben, dass die Menschen zufrieden sind und gelassen reagieren. Wenn ich Angst habe, neige ich dazu, irrationalen Argumenten auf den Leim zu gehen. Das kann man nur mit politischer Bildung angehen, und daraus entsteht im Idealfall eine Bürgeridentität. Man merkt dann, dass Demokratie alle angeht und man selbst ein Teil des Ganzen ist.

Heißt denn politische Bildung auch, dass man Schülerinnen und Schülern erklärt, welche Folgen es hat, wenn sie sich zum Beispiel auf der Straße festkleben?

Das ist natürlich ein sehr, sehr heißes Thema, bei dem man wirklich schauen muss, inwieweit das zur politischen Bildung gehört. Mein Eindruck ist aber, sich auf der Straße festzukleben, nützt nicht dem politischen Anliegen, sondern es wird eher von anderen instrumentalisiert und auch unverhältnismäßig kriminalisiert. Aber wichtig ist aufzuzeigen, wo es noch konkrete andere Möglichkeiten gibt, sich für eine Politik gegen den Klimawandel einzusetzen und stark zu machen.

Darum geht es ja bei der politischen Bildung: Dass man lernt, sich mit Aktionen und Folgen auseinanderzusetzen.

Ja, genau. Wir schaffen einen Möglichkeitsraum. Und dafür muss ich natürlich wissen, wie ich mich engagieren kann. Auch Fachwissen gehört dazu. Aber es ist eben nicht allein eine Wissensfrage, sondern eine emotionale Frage. Es ist eine Grundfrage, inwieweit man sich eingebunden fühlt und das auch für sich ernst nimmt. Und wenn das gelingt, dann kann man, glaube ich, vielen jungen Menschen zeigen, was Politik alles ist und kann.

Wie sieht das praktisch aus, zum Beispiel an Schulen?

Wenn es darum geht, Schülerinnen und Schüler anzusprechen, merken wir, dass diese ganz unterschiedliche Hintergründe und Ressourcen mitbringen. Natürlich gibt es diejenigen, die eher aus bildungsaffinen Haushalten kommen, sie haben einfach einen Vorteil. Darin besteht ja auch ein Teil der Bildungsungerechtigkeit, über die viel diskutiert wird. Wenn aber zum Beispiel Zeitzeugen in Schulen ihre Lebensgeschichte erzählen, erlebt man eine Aula mit 200 Menschen und denkt: ‚Na, geht das gut?’ Und man kann dann eine Stecknadel fallen hören, wenn jemand als Zeitzeuge erzählt, wie er in der DDR Repression erlebt hat und wie er mit diesem Staat umgehen musste.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie bei der Landesregierung auch wirklich ernst genommen werden? Müssen Sie sich zum Beispiel bei Terminwünschen mal vordrängeln?

Nein, vordrängeln nicht. Wir stehen mit unseren Ansprechpartnern im guten Austausch. Ich bin tatsächlich nach sechs Jahren wiedergewählt worden und das von allen Fraktionen außer der AfD. Die Stimmen habe ich nicht gebraucht und auch nicht gewollt. Von daher zeigt sich schon, dass es einen überparteilichen Konsens für die politische Bildung gibt und auch eine Wertschätzung.

Zwei Männer sitzen auf einer Treppe

Nur Schleswig-Holstein hat einen Landesbeauftragten für politische Bildung: Christian Meyer-Heidemann

Sie sind zu neunt in Ihrem Team. Bei der Menge an Themen, die anstehen, nicht gerade viele.

Ja, es ist natürlich so, dass wir tatsächlich für das ganze Bundesland relativ wenige sind. Das heißt, als kleines Team könnten wir natürlich nie Bildungsangebote für ganz Schleswig-Holstein realisieren, sondern wir arbeiten mit vielen Partnern zusammen, sind ein bisschen die Spinne im Netz und bringen möglichst viele zusammen, beispielsweise in Form einer Lehrkräftefortbildung zum Thema Antisemitismus im digitalen Raum. Dass Lehrkräfte dann, wenn sie selbst damit in Kontakt kommen oder vielleicht im Klassenchat irgendetwas sehen, Antisemitismus erkennen und wissen, wie sie darauf reagieren können.

Junge Menschen verbringen pro Woche mehr als 60 Stunden auf Social-Media-Kanälen und werden auch mit politischen Botschaften konfrontiert. Sie müssen lernen, diese als seriöse oder Fake News einzuordnen.

Ja, das stimmt. Wir alle sitzen nicht jede Woche im Bundestag und schauen uns an, was gerade entschieden wird, sondern wir nehmen Politik über Medien wahr. Und da hat sich in den letzten Jahren der Trend von den etablierten und journalistisch hochwertigen Medien stark verlagert hin zu sozialen Netzwerken. Und das ist natürlich eine große Gefahr: unzählige Telegram-Gruppen zu Zeiten von Corona, die Unwahrheiten verbreiten. Rechte Trolle bei Insta. Auch TikTok wurde ja massiv politisch instrumentalisiert, obwohl man zunächst denken könnte: ‚Ach, nett, ne lustige Plattform’. So ist es leider nicht.

In der Jugendsozialarbeit ist aufsuchende digitale Arbeit ein großer Trend. Da sind fachlich geschulte Teams gezielt unterwegs, von Instagram bis Discord. Ist das ein Modell für die politische Bildung? Raus aus den Schulen, rein ins Netz?

Absolut. Wir bieten beispielsweise das Projekt ‚Tatort soziale Netzwerke’ an. Dafür haben wir mit Carsten Janz einen Journalisten gewonnen, der in die Schulen geht und innerhalb von zwei Jahren 40 Projekttage leitet, und dazu auch wieder als Doppelstrategie mit Lehrkräftefortbildungen anbietet. Ein solches Projekt lebt nicht nur davon, dass jemand einmal kommt, sondern dass Lehrkräfte kompetent sind, wie sie mit Konflikten umgehen, wie sie das Thema aber auch immer wieder an verschiedenen Unterrichtsgegenständen und auch in verschiedenen Fächern einbinden.

Sie haben zwei Kinder, sind diese schon online unterwegs?

Zum Glück nicht. Mein Sohn ist sechs, meine Tochter acht. Sie haben neulich ein altes Handy von mir bekommen, mit dem sie über WLAN Hörspiele hören können. Wir sprechen mit beiden darüber. Damit sie merken, dass selbst das ein gewisses Suchtpotenzial hat.

An Schulen gab es anfangs auch eine Zeit mit striktem Handyverbot. Für Grundschulen ist das nach wie vor richtig. Aber an weiterführenden Schulen merke ich, dass sich das mit dem Alter auch umkehren kann. Einerseits sind Handys verboten und nur für Notfälle erlaubt; aber wenn nicht genug iPads zur Verfügung stehen, dann ist so ein Smartphone im Klassenraum, andererseits auch ganz gut. Dahin müssen wir kommen, nicht nur Risiken zu sehen, sondern auch Chancen, und dass wir frühzeitig einen verantwortlichen Umgang einüben.

Also geht es um das Befähigen und Trainieren; auch für Ihren Bereich der politischen Bildung. Wenn wir Handys immer früher erlauben, muss dann die politische Bildung auch früher einsetzen?

Ich finde es wichtig, damit früher anzufangen. Jetzt beginnt politische Bildung in der achten, neunten Klasse. Warum nicht schon früher? Vielleicht auch schon ab der fünften Klasse – zumindest punktuell? Das ist aber angesichts der Ressourcen völlig utopisch.

2024 ist der 300. Geburtstag Immanuel Kants. Für den politischen Wissenschaftler sicher ein großes Ereignis. Gehört die Erinnerung an diesen Denker zwangsläufig zur politischen Bildung oder sehen Sie ihn eher im Geschichtsunterricht?

Mir ist wichtig, dass wir Denkerinnen und Denker der Vergangenheit für unsere heutige Wahrnehmung von Politik heranziehen. Ganz besonders Kant. Aber für junge Menschen ist nicht so entscheidend, ob er nun 1724 oder 1728 geboren wurde. Wichtig aber ist, welche Gedanken Kant formuliert hat, zum Beispiel ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen’, also sei mündig und autonom. Wenn das kein aktuelles Leitbild ist? Und: ‚Menschen haben eine Würde und keinen Preis’. Überlegen Sie das mal im Zusammenhang mit aktuellen Fragen der Migrationspolitik. Da reden wir jetzt über Kontingente, die wir aufnehmen. Aber weil jeder Mensch eine Würde hat, die nicht verletzt werden darf, kann es beim Recht auf Asyl keine Zahlen und Quoten geben, die man gegen andere aufrechnet. Das lernen wir auch heute noch von Kant. Er ist für mich als Vordenker absolut relevant.

Sie haben jetzt beim Ministerpräsidenten einen Wunsch frei, welcher wäre das?

Dann würde ich sagen, politische Bildung, so wie wir sie besprochen haben, verbindlich ab der fünften Klasse einzuführen. Da müsste Daniel Günther schon zaubern können. Aber letztendlich gehört zur politischen Bildung auch immer ein gewisser Optimismus.

TEXT Christian Bock
FOTO Anna Leste-Matzen