Wie zeitgemäß ist es eigentlich noch, wenn Bewerberinnen und Bewerber unter den Blicken der zukünftigen Arbeitgeber, Psychologen und potenziellen Kollegen in eine Stresssituation versetzt werden, um Aufgaben zu lösen oder ihre Teamfähigkeit in fingierten Rollenspielen unter Beweis zu stellen? Für viele Arbeitgeber sind Assessment-Center immer noch eine legitime Methode, um geeignete Auszubildende oder Mitarbeitende für ihr Unternehmen zu rekrutieren. Dass das auch anders geht, beweist ein junges Start-up aus Flensburg: Level up! HR (lvlup!HR UG).
Level up! HR: Der Spielplatz für Azubis und Jobsuchende
„Wir haben uns gedacht, warum spielen sie nicht einfach?“, sagte Frank Simoneit, Geschäftsführer des Start-up Level up! HR. Als passionierter E-Sportler und Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fachbereich Wirtschaft an der FH Westküste nutzte er mit seinem Team die Coronazeit, um seine Idee in die Tat umzusetzen: den angeborenen Spieltrieb junger Menschen für die Kompetenzanalyse in der Personalauswahl und Personalentwicklung zu nutzen.
„Wir holen die Jugendlichen da ab, wo sie sich wohl fühlen und nutzen den natürlichen Spieltrieb, um authentische Informationen über ihre Kompetenzen zu gewinnen. Im Gegensatz zum Assessment Center können sich die Jugendlichen auf eine Gaming Competition nicht vorbereiten. Sie handeln intuitiv und können sich nicht hinter auswendig gelernten Floskeln verstecken“, erklärte Frank Simoneit. „Im Spiel wird sehr schnell deutlich, wer sich als teamfähig, strategisch, impulsiv oder aber zurückhaltend erweist.“
Um eine möglichst realitätsnahe Einschätzung entwickeln zu können, beobachten Simoneit und seine Kollegen nicht nur das Spielverhalten der Jugendlichen, sondern analysieren zusätzlich Daten auf der Basis von Verhaltensankern, die im Vorfeld gemeinsam mit dem Unternehmen festgelegt wurden und auf eine hohe Kompetenzausprägung schließen lassen. Positive Verhaltensanker erkennen beispielsweise, ob ein Teilnehmer Handlungsbedarf erkennt, die Initiative ergreift, Verbesserungsvorschläge einbringt und bei Unklarheiten auch mal nachfragt. „Wie geübt die Teilnehmenden im Gaming sind, spielt dabei keine Rolle”, betont Frank Simoneit. „Ob ungeübt oder Profi: Verliert ein Spieler beispielsweise regelmäßig mit seinem Team, gibt sein Verhalten aufschlussreiche Einblicke in seinen Umgang mit Frustration und Resilienz– gibt er auf? Versucht er zu trainieren? Reagiert er gleichgültig?”, so Frank Simoneit weiter. Hinzu komme, dass E-Sport ein sehr inklusiver Sport sei, der keine Personengruppe diskriminiere. Ob männlich, weiblich, ob mit Migrationshintergrund oder mit körperlicher Beeinträchtigung, jeder könne mitmachen.
GMSH goes Level up!
Zwei Tage von 9 bis 16 Uhr Computer spielen statt arbeiten heißt es für die Nachwuchskräfte des 1. Lehrjahres der GMSH. „Ziel ist, unseren Auszubildenden spielerisch zu zeigen, welche Kompetenzen sie bereits besitzen und wie sie diese nutzen können um ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Durch die E-Sport-Veranstaltung sollen die Azubis ein konstruktives Feedback erhalten und lernen, dieses für sich zu nutzen. Auch wir können auf diese Weise weitere Maßnahmen ableiten, um die Nachwuchskräfte auf ihrem weiteren Weg zu unterstützen”, erklärt Kim-Kristin Haß, Ausbildungsleiterin bei der GMSH.
Welche Kompetenzen für die Ausbildungsbereiche der GMSH tatsächlich relevant sind, wurde bereits im Vorfeld mit der Personalberatung Level up! erarbeitet. „Dafür haben wir zusammen mit ausgelernten Azubis die Aufgaben unserer Ausbildungsberufe aufgegliedert und eruiert, welche Eigenschaften man benötigt, um die gewünschten Tätigkeiten besonders gut umzusetzen”, erklärt Leonie Bahr, zuständig für Recruiting und Azubigewinnung im Team Nachwuchskräfte der GMSH.
Zocken mit Kollegen – Wer macht das Rennen?
Regeln gibt es so gut wie keine. Denn bei dieser Potenzialanalyse steht der Spaß am Spiel im Vordergrund. In zwei Teams treten die Auszubildenden in vier Sessions gegeneinander an, um sich beim Autofußball die Bälle abzuzocken. Regelmäßige Pausen ermöglichen den Teilnehmenden, ihre Strategie zu besprechen und sich in kleinen Trainingseinheiten auf die nächste Runde vorzubereiten. Jedes Team besteht aus vier Spielerinnen und Spielern sowie einem wechselnden Coach, der alles im Blick behält und das Spiel durch strategische Anweisungen lenkt. „Dass die Jugendlichen beobachtet werden, gerät schnell in Vergessenheit: Unsere Herangehensweise nutzt den angeborenen Spieltrieb des Menschen, um eine möglichst natürliche Verhaltensweise zu erleben”, betont Frank Simoneit. Und so wird geflucht, gejohlt und gelacht, während die Autos sich auf acht Bildschirmen und einer großen Leinwand die Bälle zupassen. „Besonders gefällt mir an der Veranstaltung, meine Mitazubis mal von einer ganz anderen Seite kennenzulernen. Durch die lockere Atmosphäre beim Zocken ist der Umgang viel persönlicher und direkter”, freut sich Sina Kunz, GMSH-Auszubildende zur Kauffrau für Büromanagement im ersten Lehrjahr. Sie spielt im Gewinnerteam und gibt sich sowohl bei der Arbeit als auch im Spiel direkt und kommunikativ.
Das Potenzial des Homo ludens
Ob Monopoly, Fußball oder Schach, der Spieltrieb ist in jedem Menschen verankert und unterstützt die Entwicklung sozialer und kognitiver Fähigkeiten wie Planung, strategisches Denken und Problemlösung. Spiele aller Art bieten eine Möglichkeit, Spaß zu haben und sich mit anderen zu messen, während gleichzeitig wichtige Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt werden. Der Spieltrieb ist also nicht nur ein Vergnügen, sondern auch ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Natur und Entwicklung. Da E-Sport ein sehr wettbewerbsintensiver Bereich ist, erfordert er Teamwork, strategisches Denken und schnelle Entscheidungen – Fähigkeiten, die auch in vielen anderen Bereichen der Wirtschaft gefragt sind.
Sei es für die Rekrutierung neuer Talente, für das Teambuilding oder im Bereich der beruflichen Orientierung: E-Sport bietet eine zeitgemäße Alternative zu zahlreichen Maßnahmen, die traditionell in der Personalgewinnung und- entwicklung eingesetzt werden.
„Der „Homo ludens“, der spielende Mensch, ist authentisch, er verhält sich also natürlich, während er spielt. Genau darauf zielt ein Assessment Center ab – eine natürliche Verhaltensweise zu erleben. lvlup!HR nutzt dieses Modell für die Potenzialanalyse”, erklärt Frank Simoneit.
Warum nicht schon viel früher ansetzten und Schülerinnen und Schüler spielend ihr berufliches Potenzial vor Augen führen, dachte sich der Lehramtsstudent und Mitbegründer von Level up! HR Nick Wichert. „Mir ist aufgefallen, wie wenig Aufmerksamkeit dem Thema Berufsorientierung an den Schulen in Schleswig-Holstein gewidmet wird. Das möchte ich ändern und mich in meiner Masterarbeit mit dem Thema Game-Based Assessment und Game-Based Education beschäftigen.” Ein Teil seiner Forschungsarbeit wird sich mit einem Kompetenz-Cluster für unterschiedliche Berufsrichtungen beschäftigen, sodass die Schülerinnen und Schüler sich in der Fülle der beruflichen Möglichkeiten besser orientieren und positionieren können.
„Mit meiner Arbeit möchte ich eine innovative Alternative zu herkömmlichen Tests aus dem Bereich Berufsorientierung entwickeln und Klarheit schaffen. Der technische Fortschritt gibt uns die Mittel, das Thema Berufsorientierung neu zu denken. Ich, als passionierter E-Sportler und angehender Lehrer, möchte dazu beitragen, dass Berufsorientierung Spaß macht.”
Mehr zur GMSH: Seit 2020 hat die GMSH eine neue Leiterin für duale Ausbildung. Kim-Kristin Haß hat ME2BE zum Gespräch getroffen (inklusive Podcast).
Mehr zur Potentialanalyse bei der GMSH:„Wir können auf diese Weise weitere Maßnahmen ableiten, um die Nachwuchskräfte auf ihrem weiteren Weg zu unterstützen”, erklärt Kim-Kristin Haß.
TEXT und FOTO Sophie Blady