Digitalisierung der Schulen  – alternativlos? Das renommierte schwedische Karolinska-Institut tritt auf die Bremse!

Digitalisierung der Schulen – alternativlos? Das renommierte schwedische Karolinska-Institut tritt auf die Bremse!

Auf der Webseite der „Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.“ erschien am 9. Juli ein Beitrag von Peter Hensinger, der die Stellungnahme des Karolinska-Instituts zusammenfasst. Wir halten diesen Beitrag für so bedeutsam, dass wir ihn auch auf unserer Webseite veröffentlichen.
Es besteht ein übergreifender Konsens, dass die Digitalisierung eine Transformation von grundlegender gesellschaftlicher Bedeutung darstellt. Um so wichtiger sind unseres Erachtens jene Stimmen, die aus wissenschaftlicher Perspektive diesen Prozess kritisch begleiten. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt ME2BE Medienwissenschaftler in Schleswig-Holstein zu befragen, inwieweit die Stellungnahme des Karolinska-Instituts auch auf deutsche Verhältnisse übertragbar sein könnte.

Stellungnahme zum Vorschlag der schwedischen Bildungsbehörde für eine nationale Digitalisierungsstrategie für das Schulsystem 2023-2027 (Karolinska Institutet dnr 1-322/2023).

Zusammenfassende Bemerkungen von Peter Hensinger

Der von der Nationalen Agentur für Bildung vorgelegte Vorschlag für eine Digitalisierungsstrategie beinhaltet zwei übergreifende Ziele: 1) alle Kinder und Schüler sollen digitale Kompetenzen entwickeln, um aktiv am Unterricht, am sozialen Leben und am Arbeitsleben teilnehmen zu können, um zu einer nachhaltigen und demokratischen Gesellschaft beizutragen, und 2) die Qualität des Unterrichts, die Gleichwertigkeit und das Erreichen der Ziele sollen durch die Nutzung der Möglichkeiten, die die Digitalisierung in den verschiedenen Bereichen des Schulsystems bietet, verbessert werden. In ihrem Bericht beschreibt die Nationale Agentur für Bildung, wie die zunehmende Digitalisierung zu verschiedenen positiven Effekten sowohl für die Schulen als auch für die Gesellschaft führen wird. Wir sehen in dem Bericht insgesamt drei Probleme:

1. Die Annahme, dass die Digitalisierung die von der schwedischen Bildungsbehörde erwarteten positiven Effekte haben wird, ist nicht evidenzbasiert, d.h. nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhend. Wir fordern quantitative Studien, die die Auswirkungen der verschiedenen Maßnahmen auf den Wissenserwerb und die digitale Kompetenz messen.

2. Die Nationale Bildungsagentur scheint sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass die Forschung gezeigt hat, dass die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler hat.

3. Der Vorschlag der schwedischen Bildungsbehörde enthält keine konkreten Vorschläge, wie die Schulen bei der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie vorgehen sollen, obwohl der Behörde sehr wohl bewusst sein muss, dass viele Schulen (insbesondere in benachteiligten Gebieten) große Schwierigkeiten haben, qualifizierte Lehrkräfte zu finden, und dass nur sehr wenige Lehrkräfte im Umgang mit digitalen Werkzeugen geschult wurden.

In Bezug auf das erste Ziel der Strategie schreibt die schwedische Bildungsbehörde, dass die Digitalisierung mehr Gleichheit schaffen werde und dass mehr Kinder ein Interesse an digitaler Technologie entwickeln würden, was langfristig das Angebot an Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verbessern und die Innovation in der technologischen Entwicklung steigern würde. Die Digitalisierung, die bisher in schwedischen Schulen stattgefunden hat, bestand jedoch größtenteils in der Umstellung auf die Verwendung digitaler Lehrmaterialien oder im Fehlen von Lehrmaterialien in der Sekundarstufe II, um den Schülern stattdessen zu erlauben, ihr eigenes Wissen über das Internet zu suchen. Die Digitalisierungsstrategie bietet keinerlei Belege dafür, dass die Digitalisierung der Schulen die erwarteten Auswirkungen haben wird. Die Leserinnen und Leser des Berichts stellen sich daher folgende Fragen zum ersten Oberziel der Strategie:

1. Warum sollte ein verstärkter Einsatz von digitalen Werkzeugen in den Schulen dazu führen, dass sich mehr Schüler für eine Weiterbildung im Bereich der Technik interessieren?

2. Warum würde eine verstärkte Digitalisierung der Schulen zu einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis in den technischen Bildungsprogrammen beitragen?

3. Warum würde die Digitalisierung der Schulen das Angebot an Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt verbessern und die Innovation in der Technologieentwicklung steigern?

Man kann sicherlich argumentieren, dass es für Schüler wichtig ist, im Rahmen der Schule digitale Kompetenzen zu entwickeln, aber es ist unklar, warum die Nationale Agentur für Bildung glaubt, dass die Digitalisierung der Schulen das Angebot an Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt verbessern kann. Auch die Definition von digitaler Kompetenz und wie sie gemessen werden soll, ist unklar. Einige der im Vorschlag der Nationalen Agentur für Bildung angeführten Beispiele, wie z. B., dass Schüler „den Umgang mit einer Digitalkamera lernen“ und „die Fähigkeit entwickeln sollen, sich in digitalen Umgebungen zu orientieren“ (Seite 8), erscheinen naiv. In einem kürzlich erschienenen Bericht über den Bedarf an digitalen Kompetenzen wird darauf hingewiesen, dass der Arbeitsmarkt ganz andere Bedürfnisse hat (Makers & Shapers, 2022). Darin wird u. a. betont, wie wichtig es ist, digitale Kompetenzen im Rahmen eines eigenen Fachs zu entwickeln, da der Arbeitsmarkt fortgeschrittenere Kenntnisse benötigt. Außerdem wird die Notwendigkeit hervorgehoben, Lehrer kontinuierlich in digitalen Fähigkeiten zu schulen. Um die Wettbewerbsfähigkeit Schwedens zu steigern, erscheint es daher sinnvoll, bei der Ausbildung der Lehrer anzusetzen, damit diese ihrerseits die Kompetenzen der Schüler in bestimmten Fächern entwickeln können, statt eine nicht evidenzbasierte Digitalisierung der Schulen umzusetzen, die alle Aktivitäten durchdringt, auch die der kleinsten Kinder im Vorschulalter.

Das zweite Ziel der Digitalisierungsstrategie ist, dass die Qualität des Unterrichts, die Chancengleichheit und die Zielerreichung durch die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung in den verschiedenen Bereichen des Schulsystems verbessert werden. Auch hier schreibt die Nationale Agentur für Bildung, dass die Digitalisierung der Schulen eine Reihe positiver Auswirkungen haben wird, legt aber keinerlei Untersuchungen vor, die diese Annahme stützen. Lediglich im letzten Teil der Strategie heißt es, es sei wichtig, dass „Forschungsergebnisse und nachgewiesene Erfahrungen zu den Chancen, Herausforderungen und Risiken der Digitalisierung vorliegen und in die Aktivitäten einfließen“ (Seite 17). Es ist bemerkenswert, dass die Nationale Agentur für Bildung schreibt, dass Forschung wichtig ist, aber ihre Argumente nicht auf die große Menge an Forschung stützt, die tatsächlich bereits in diesem Bereich existiert. Wie wir weiter unten ausführlicher erläutern, zeigt die Forschung, dass die Digitalisierung der Schulen in dem Ausmaß, wie sie in Schweden bereits stattgefunden hat, viele Nachteile mit sich bringt, und dass eine verstärkte Digitalisierung weitere negative Folgen haben könnte.

Wir sind der Meinung, dass der Schwerpunkt wieder auf den Wissenserwerb über gedruckte Schulbücher und das Fachwissen des Lehrers gelegt werden sollte, anstatt das Wissen in erster Linie aus frei zugänglichen digitalen Quellen zu erwerben, die nicht auf ihre Richtigkeit überprüft wurden. Für eine detailliertere Zusammenfassung dieser negativen Auswirkungen verweisen wir auf Klingberg (2023) und geben im Folgenden einen allgemeinen Überblick über die Ergebnisse der Forschung. Es ist erwähnenswert, dass mehrere der Studien, auf die wir uns beziehen, vor relativ langer Zeit veröffentlicht wurden und deren Ergebnisse inzwischen in neueren Studien bestätigt wurden. Das Wissen über die negativen Auswirkungen der Digitalisierung ist also schon seit vielen Jahren vorhanden, aber die schwedische Bildungsbehörde scheint sich dessen nicht bewusst zu sein.

Es gibt eindeutige wissenschaftliche Belege dafür, dass digitale Werkzeuge das Lernen der Schüler eher beeinträchtigen als verbessern:

  • Digitale Werkzeuge enthalten viele Ablenkungen, die die Konzentration und das Arbeitsgedächtnis behindern, was wiederum das Lernen beeinträchtigt (Klingberg, 2023). In einer Studie wurde beispielsweise festgestellt, dass Studierende, die ihren Computer während einer Vorlesung angeschlossen hatten, bis zu 40 Prozent der Unterrichtszeit mit irrelevanten Dingen verbrachten, die nichts mit dem Unterricht zu tun hatten (Kraushaar & Novak, 2010). In einer anderen Studie wurde untersucht, wie es sich auswirkte, wenn die Hälfte der Studierenden ihren Laptop während einer Vorlesung geöffnet hatte, während die andere Hälfte ihn geschlossen halten musste. Nach der Vorlesung mussten sie Fragen zum Inhalt beantworten. Die Schüler, die ihre Laptops geöffnet hatten, schnitten um 30 Prozent schlechter ab als ihre Kommilitonen (Hembrooke & Gay, 2003). Diese Studien betrafen Universitätsstudenten, und die negativen Auswirkungen von Computern auf Grund- und Sekundarschüler sind wahrscheinlich noch größer, da jüngere Kinder über schlechtere exekutive Funktionen (z. B. Impulskontrolle) verfügen. Für Grundschüler hat die OECD einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass ein hohes Maß an Computernutzung in Schulen eindeutig negativ mit den PISA-Ergebnissen in Mathematik und Lesen korreliert (OECD, 2015). Selbst wenn ein Schüler in der Lage ist, sich nicht von seinem eigenen Bildschirm ablenken zu lassen, besteht ein hohes Risiko, von den Bildschirmen der anderen Schüler abgelenkt zu werden. Wenn Sie den Schülern erlauben, ihre Computer während des Unterrichts offen zu halten, sollten Sie damit rechnen, dass immer einige Schüler etwas anderes tun, als der Lehrkraft zuzuhören, und das Risiko ist natürlich für diejenigen Schüler besonders hoch, die bereits Schwierigkeiten haben, die Wissensanforderungen der Schule zu erfüllen.
  • Multitasking führt zu schlechterem Lernen, weil unser Gehirn nur begrenzt in der Lage ist, relevante Informationen im Arbeitsgedächtnis zu speichern (van der Schuur et al., 2015). Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass junge Menschen, die ihr Handy beim Lernen neben sich haben, deutlich länger brauchen, um den Stoff zu lernen. Wenn die Schüler ihren Computer benutzen müssen, um online nach Informationen zu suchen, sind sie einer Vielzahl von Ablenkungen ausgesetzt. Außerdem ist die Online-Werbung jetzt personalisiert, so dass es noch schwieriger ist, ihr zu widerstehen.
  • Das Lesen und Schreiben auf einem Bildschirm hat negative Auswirkungen auf das Leseverständnis. Es ist schwieriger, sich an Informationen zu erinnern, die auf einem Bildschirm gelesen oder geschrieben wurden, als die in einem Buch gelesenen Informationen, (Clinton, 2019; Delgado et al., 2018). Studien haben gezeigt, dass es nicht nur darum geht, dass die Schülerinnen und Schüler durch andere Dinge am Computer abgelenkt werden, sondern dass der Effekt auch dann bestehen bleibt, wenn man die Ablenkungen am Computer einschränkt. Die negativen Auswirkungen des Lesens am Bildschirm statt auf Papier sind ebenfalls groß – der Effekt beträgt 36 %, was etwa zwei Jahren Leseentwicklung in der Mittelstufe entspricht (Klingberg, 2023). Die oben genannten Auswirkungen gelten auch für neuere Studien, die Schüler einbeziehen, die von klein auf an den Computer gewöhnt wurden. Studien zeigen auch, dass es sich schlechter auf das Lernen auswirkt, wenn Schüler Notizen am Computer statt mit Papier und Bleistift machen (Mueller & Oppenheimer, 2014). Fragt man Schüler selbst, geben sie oft an, dass sie digitale Hilfsmittel bevorzugen, aber wenn man ihre Fähigkeiten mit objektiven Tests prüft, zeigen diese eindeutig, dass sie schlechtere Leistungen erbringen, wenn sie über einen Computer lesen und Notizen machen (Singer & Alexander, 2017). Dies zeigt auch deutlich, dass qualitative Studien, wie z. B. reine Interviews, die die Meinungen der Schüler selbst erkunden, nicht ausreichen, um Rückschlüsse auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Lernen zu ziehen.
Die Vorstellung, dass Kinder die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen und sich selbst Wissen aneignen sollen, ist oft fehlgeleitet

Ein großer Teil der schulischen Digitalisierung besteht darin, dass die Schulen nicht mehr mit Schulbüchern oder gar digitalen Lernmaterialien arbeiten, sondern dass von den Schülerinnen und Schülern schon relativ früh erwartet wird, dass sie sich ihre eigenen Informationen über digitale Quellen suchen. Diese Suche nach Wissen nimmt viel Zeit in Anspruch, Zeit, die vom Lernen des Stoffes abgezogen werden muss. Eine Studie (Weinstein et al., 2010) zeigte beispielsweise, dass Schüler, die ihre eigenen Fragen (Anm. d. Üb.: zum Lernstoff) formulierten und diese dann beantworteten, zwar genauso viel lernten wie Schüler, die nur die Fragen der Lehrkraft beantworteten. Allerdings brauchte die erste Gruppe mehr als doppelt so lange, um den gleichen Wissensstand zu erreichen. Wenn die Schülerinnen und Schüler, wie es in schwedischen Schulen üblich ist, online nach Informationen suchen, dann ihre eigenen Fragen erstellen und schließlich beantworten müssen, kostet dies viel zusätzliche Zeit. Letztlich führt das zu einem geringeren Lernerfolg. Im Einklang mit dieser Erkenntnis hat die OECD kürzlich einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass Länder, die viel selbsterforschenden Unterricht einsetzen, bei PISA deutlich schlechter abschneiden (Denoël et al., 2017). Die Lernenden brauchen nicht nur viel Zeit, um ihr eigenes Wissen online zu recherchieren, sondern es besteht auch die Gefahr, dass sie eher horizontal lesen (d. h. schnell viele verschiedene Quellen überfliegen) als vertikal (d. h. nach tieferem Wissen suchen). Die Schüler lernen, dem schnellen Abrufen von Informationen Vorrang vor einer tiefgreifenden Analyse zu geben, was wiederum zu oberflächlichem Wissen führen kann, das schneller verloren geht.

Wenn Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Wissen in digitalen Quellen suchen, ist das Risiko groß, dass das Gelernte falsch ist. Der Schwerpunkt scheint zunehmend darauf zu liegen, dass die Lernenden ihre eigene Meinung äußern und dann im Internet nach Belegen dafür suchen – und nicht darauf, dass sie zuerst Wissen finden und dann ihre Meinung auf das vorhandene Wissen stützen. Der Begriff „evidenzbasiert“ wird zunehmend verwendet, aber viele scheinen zu denken, dass dies bedeutet, dass alle Perspektiven berücksichtigt werden sollten, anstatt dass das, was gelehrt wird, wissenschaftlich fundiert sein sollte. Selbst auf Universitätsebene fällt es den Studenten immer schwerer, längere Texte zu lesen und die relevanten Informationen zu erfassen.

Leider spiegelt auch der Bericht der schwedischen Bildungsbehörde diese Haltung wider, da sie eine Vielzahl eigener Meinungen zu den Auswirkungen der Digitalisierung vertritt, ohne dies durch wissenschaftlichen Literatur zu belegen. Die schwedische Bildungsbehörde verweist stattdessen auf einen Blogbeitrag, was zeigt, wie schwierig es selbst für eine Behörde ist, glaubwürdige Quellen zu finden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zunehmende Digitalisierung der Schulen unseres Erachtens bereits erhebliche negative Folgen aufweist, da sie vermittelt, dass Wissen etwas Relatives ist – ein solcher Ansatz stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Wissenserwerb der Schüler dar.

Kleine Kinder sollten digitale Werkzeuge überhaupt nicht nutzen

Internationale Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2019) besagen, dass Kinder unter zwei Jahren überhaupt keine Bildschirme nutzen sollten und dass die Bildschirmzeit während der restlichen Vorschulzeit auf maximal eine Stunde pro Tag begrenzt werden sollte. Viele andere Länder wie die USA, Kanada, Australien und Norwegen haben diese Empfehlung übernommen. In Schweden erarbeitet der Schwedische Kinderärzteverband ähnliche Empfehlungen. Die schwedische Bildungsbehörde geht jedoch in die entgegengesetzte Richtung und verlangt von allen Vorschulen den Einsatz digitaler Hilfsmittel. Zwar sind in diesem Bereich noch weitere quantitative Untersuchungen und Längsschnittstudien erforderlich, doch gibt es bereits einige eindeutige Ergebnisse:

  • Wenn man vergleicht, ob ein Kind beim Lernen eine reale Person oder eine gefilmte Person oder aufgezeichnete Stimme nachahmt, zeigt die Forschung, dass kleine Kinder große Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was sie auf einem Bildschirm sehen (Yadav et al., 2018).
  • Im Alter von zwei Jahren lernen Kinder von allen 2D-Medien nur halb so viel und können sich nur halb so lange daran erinnern, verglichen mit der Interaktion mit lebenden Menschen (Moser et al., 2015). Menschliche Interaktion ist also für das Lernen in diesem Alter unerlässlich.
  • Die frühe Nutzung von Bildschirmen ist mit einer schlechteren Sprachentwicklung verbunden (Madigan et al., 2020). Genauer gesagt hat die Forschung gezeigt, dass bei der Nutzung von Bildschirmen durch Kinder die menschliche Interaktion gehemmt wird – die Kinder landen in einer „digitalen Blase“ (Bochicchio et al., 2022). Vorschulen haben eine wichtige kompensatorische Aufgabe, insbesondere für Kinder mit einer anderen Muttersprache als Schwedisch. Die im schwedischen Lehrplan vorgesehene Verpflichtung zur Nutzung digitaler Werkzeuge in der Vorschule ist daher kontraproduktiv.
  • In vielen Vorschulen herrscht ein großer Personalmangel, und bei unseren Kontakten mit Vorschulen hat sich gezeigt, dass Bildschirme leider oft eingesetzt werden, um Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu beruhigen, die sonst die Aktivitäten stören würden. Dies wiederum kann dazu führen, dass sich die Probleme mit der Zeit verschlimmern (Radesky et al., 2023; Thorell et al., 2023).

Illustration von Kind

Die Digitalisierung gefährdet die Gleichstellung der Geschlechter

Eines der Argumente der schwedischen Bildungsbehörde für eine verstärkte Digitalisierung der Schulen ist, dass sie zu mehr Gleichberechtigung führen wird. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Auswirkungen das Gegenteil bewirken werden. Im obigen Text haben wir Untersuchungen beschrieben, die gezeigt haben, dass digitale Werkzeuge ernsthafte negative Auswirkungen auf das Lernen von Kindern haben können. Diese Auswirkungen sind natürlich noch negativer für Schüler, die zu Hause keine unterstützenden Eltern haben, die die Tatsache kompensieren können, dass das Kind den Unterricht damit verbracht hat, YouTube zu schauen oder Spiele zu spielen, anstatt dem Lehrer zuzuhören.

Eine schwedische Studie zeigte beispielsweise, dass Schulen, die 1:1 (ein Schüler, ein Computer) einführten, schlechtere Ergebnisse erzielten als Schulen, die dies nicht umsetzten, und zwar in Bezug auf die Leistungen in Mathematik und den Anteil der Schüler, die an einem Studienvorbereitungsprogramm für die Sekundarstufe II teilnahmen, allerdings nur bei Schülern mit Eltern mit niedrigem Bildungsstand (Hall et al., 2019). Schüler mit Eltern mit niedrigem Bildungsstand scheinen also stärker negativ von der Digitalisierung betroffen zu sein als solche mit hoch gebildeten Eltern, und nicht umgekehrt, wie die schwedische Bildungsbehörde in ihrer Digitalisierungsstrategie behauptet.

Die Digitalisierung droht einige Kinder besonders hart zu treffen

Forschungsergebnisse zeigen, dass die Digitalisierung der Schulen Kinder mit besonderen Bedürfnissen, wie z. B. bei ADHS, besonders hart trifft. Kinder mit ADHS lassen sich eher als andere durch irrelevante Eindrücke und Informationen ablenken, wenn sie freien Zugang zu einem Computer haben. Darüber hinaus wirkt sich die Tatsache, dass ablenkende Informationen vom Computer nicht ausgeblendet werden können, für Kinder mit besonderen Bedürfnissen noch negativer auf das Lernen aus, da diese Kinder länger brauchen und sich mehr anstrengen müssen, um die Wissensanforderungen der Schule zu erfüllen.

Die Forschung zeigt auch, dass die Fähigkeit, gute Online-Recherchen durchzuführen, stark mit unseren exekutiven Fähigkeiten zusammenhängt, insbesondere mit unserer Arbeitsgedächtniskapazität (Choi et al., 2019). Die Exekutivfunktion ist eine spät reifende Fähigkeit, die erst im Alter von 20 Jahren voll entwickelt ist, was bedeutet, dass viele Schulkinder einfach nicht über die kognitiven Fähigkeiten verfügen, um sich ihr Wissen selbst über das Internet zu erschließen. Die These, dass Kinder in der Lage sein sollten, allein mit Hilfe eines Computers zu lernen, ist wiederholt widerlegt worden (Klingberg, 2023). Besonders schwerwiegend sind die Probleme für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen im Bereich der exekutiven Fähigkeiten, wie z. B. bei Kindern mit ADHS.

Es sollte jedoch auch betont werden, dass digitale Werkzeuge, wenn sie richtig eingesetzt werden, eine gute Unterstützung für Schüler mit besonderen Bedürfnissen sein können (Klingberg, 2023). In diesem Zusammenhang verweist die Nationale Agentur für Bildung auf die Bewertung der vorherigen Digitalisierungsstrategie, in der darauf hingewiesen wird, dass „zwei von zehn Lehrern in der Primarund unteren Sekundarstufe keinen Zugang zu den digitalen Werkzeugen haben, die sie für die Gestaltung des Unterrichts für Schüler mit besonderen Bedürfnissen benötigen.“ Die neue Digitalisierungsstrategie enthält jedoch keine Vorschläge zur Lösung dieses Problems.

Der Zusammenhang zwischen Bildschirmnutzung und psychischer Gesundheit

Schließlich schreibt das Bildungsministerium, dass es auch Meinungen über die Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Schüler im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Werkzeuge einholen möchte. Aus Platzgründen kann hier nicht vollständig darauf eingegangen werden, aber wir verweisen auf eine kürzlich veröffentlichte Zusammenfassung des schwedischen Medienrats (Nutley & Thorell, 2022), in der ein positiver Zusammenhang zwischen der Bildschirmzeit und verschiedenen Aspekten der psychischen Gesundheit (z. B. Depressionen, Angstzustände, Konzentrationsprobleme, geringes Selbstwertgefühl, Essstörungen, Schlafprobleme) und der körperlichen Gesundheit (z. B. Fettleibigkeit, Kurzsichtigkeit, schlechtere motorische Fähigkeiten) beschrieben wird. Es ist jedoch schwierig, in diesen Studien genau zu bestimmen, was was verursacht. Es gibt Hinweise darauf, dass der kausale Zusammenhang in beide Richtungen geht, d. h. dass Kinder, die bereits psychische Probleme haben, ein erhöhtes Risiko haben, Bildschirme ausgiebig zu nutzen, und dass dies bestehende Probleme noch verschlimmern kann.

Wie bereits erwähnt, wirkt sich die Digitalisierung also nicht auf alle Schüler gleichermaßen aus, und diejenigen, die bereits Schwierigkeiten haben, sind oft am stärksten gefährdet. In diesem Bereich besteht auch ein Bedarf an mehr Studien, die sich nicht nur auf die Bildschirmzeit und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit junger Menschen konzentrieren, sondern genauer untersuchen, was Kinder und Jugendliche tun, wenn sie Bildschirme nutzen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass bei einer mehr oder weniger ständigen Nutzung digitaler Hilfsmittel in der Schule ein hohes Risiko besteht, dass sich dies auf andere Lebensbereiche der Kinder überträgt. Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass es für Eltern schwieriger wird, die Bildschirmzeit ihrer Kinder zu Hause zu begrenzen, wenn sie für ihre Schularbeiten einen Computer benutzen müssen. Wenn digitale Werkzeuge bereits bei sehr kleinen Kindern im Vorschulalter eingesetzt werden, wird es für die Eltern unmöglich sein, die Empfehlungen zu befolgen, dass Kinder vor dem zweiten Lebensjahr keine Bildschirme benutzen sollten.

Die Strategie enthält keine Leitlinien dafür, wie die Schulen mit der Digitalisierung umgehen sollten

Ein schwerwiegender Kritikpunkt an der von der schwedischen Bildungsbehörde vorgeschlagenen Digitalisierungsstrategie ist das völlige Fehlen von Leitlinien für den Umgang der Schulen mit der Digitalisierung. Dies ist besonders merkwürdig, weil in einigen Fällen sehr spezifische Beispiele für Arbeitsmethoden vorgestellt werden, die nichts mit der Digitalisierung zu tun haben. So schreibt die Nationale Agentur für Bildung, dass es bei den Bemühungen, Geschlechtermustern entgegenzuwirken, „darum gehen kann, wie Kinder und Schüler in der Vorschule und im Klassenzimmer behandelt werden, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Sprechräumen oder mit welchen Vorbildern sich Kinder und Schüler identifizieren können.“ (S. 10-11). Wir möchten darauf hinweisen, dass es trotz der eindeutigen Risiken der Digitalisierung von Schulen auch Belege dafür gibt, dass sich bestimmte digitale Lernmaterialien positiv auf das Lernen auswirken können (Clark et al. 2016). Eine Strategie für die Digitalisierung von Schulen sollte selbstverständlich auch einen Vorschlag enthalten, wie politische Gremien, staatliche Stellen, private Akteure und unabhängige Forscher zusammenarbeiten können, um wirksame digitale Lernmaterialien zu entwickeln und zu bewerten.

Abschließende Bemerkungen

Zusammenfassend sind wir der Meinung, dass der Bericht der Nationalen Agentur für Bildung zur schulischen Digitalisierung sehr mangelhaft ist, da er die Forschungsergebnisse, die negative Folgen im Zusammenhang mit der schulischen Digitalisierung zeigen, weitgehend ignoriert. Wir finden es bemerkenswert, dass die Nationale Agentur für Bildung nicht eine Gruppe von Forschern aus verschiedenen Forschungsbereichen zusammengestellt hat, die sich mit diesem sehr wichtigen Thema befasst. Wie oben erwähnt, glauben wir, dass das Bildungsministerium gute Gründe hat, diesen Vorschlag für eine Digitalisierungsstrategie für Schulen abzulehnen. Für die Zukunft ist es vielleicht noch wichtiger, von der schwedischen Bildungsbehörde zu verlangen, dass sie evidenzbasiert arbeitet (d.h. ihre Berichte und Empfehlungen immer auf einer wissenschaftlichen Grundlage erstellt und besonders auf die Notwendigkeit quantitativer Studien achtet) und interdisziplinär arbeitet, um Fachwissen aus allen relevanten Forschungsbereichen einzubringen.

Schließlich ist zu betonen, dass digitale Lernmaterialien zwar erheblich billiger sind als gedruckte Schulbücher. Untersuchungen zeigen aber, dass sie negative Folgen haben, die längerfristig zu höheren sozialen Kosten führen können. Daher gibt es starke wirtschaftliche Anreize für die Schulen, mehr auf digitale Medien umzusteigen. Daher sollten den Schulen zweckgebundene Mittel zur Verfügung gestellt werden, um den Bedarf der Schüler an gedruckten Schulbüchern zu decken. Die erziehungswissenschaftliche Forschung in Schweden sollte ebenfalls gestärkt werden, so dass der Schwerpunkt stärker auf quantitative Studien mit einer Kontrollgruppe liegt, um die Auswirkungen verschiedener Reformen untersuchen zu können, bevor sie umgesetzt werden.

Wichtige schulpolitische Entscheidungen sollten nicht getroffen werden, ohne dass man vorher weiß, was die Forschung sagt.

Für eine ausführlichere Diskussion der Forschungslage stehen wir selbstverständlich zur Verfügung, wenn Interesse daran besteht.
Lisa Thorell, Professorin für Entwicklungspsychologie
Torkel Klingberg, Professor für Kognitive Neurowissenschaften
Agneta Herlitz, Professorin für Psychologie
Andreas Olsson, Professor für Psychologie
Ulrika Ådén, Professorin und Oberärztin für Neonatologie

Veröffentlicht durch den Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. am 09.07.23. Die Übersetzung der Stellungnahme befindet sich hier. Stellungnahme des Karolinska-Institutes zur nationalen Digitalisierungsstrategie in der Bildung (Schwedisch) mit Referenzen ist hier zu finden.

TEXT Peter Hensinger, Karolinska-Institut
ÜBERSETZUNG Peter Hensinger (Diagnose Funk) und Prof. Dr. phil. Ralf Lankau für die GBW
ILLUSTRATIONEN Raphaelle Martin