Bisher älteste befestigte Siedlung der Welt nachgewiesen

Bisher älteste befestigte Siedlung der Welt nachgewiesen

Internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Exzellenzclusters ROOTS legt 8000 Jahre alte Siedlung in Sibirien frei.

In einer bahnbrechenden archäologischen Entdeckung hat ein internationales Team unter der Leitung von Archäologinnen der Freien Universität Berlin und unter Beteiligung des Exzellenzclusters ROOTS an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) die bisher älteste befestigte Siedlung der Welt freigelegt. Die prähistorische, etwa 8000 Jahre alte Festungsanlage in einer abgelegenen Region Sibiriens wurde einst von Jägern und Sammlern errichtet. Die Entdeckung könnte zu einer Neubewertung der Frage führen, wie komplexe Gesellschaften entstanden sind. Die Studie wurde Anfang Dezember in der internationalen Fachzeitschrift Antiquity veröffentlicht.

Feldforschung an der nördlichsten steinzeitlichen Wallanlage Eurasiens

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass Jäger und Sammler in Sibirien bereits vor 8000 Jahren komplexe Verteidigungsanlagen um ihre Siedlungen errichteten. „Diese Erkenntnis verändert unser Verständnis der frühen menschlichen Gesellschaften und stellt die Vorstellung infrage, dass die Menschen erst mit dem Aufkommen der Landwirtschaft begannen, dauerhafte Siedlungen mit monumentaler Architektur zu bauen und komplexe soziale Strukturen zu entwickeln“, betont Prof. Dr. Henny Piezonka vom Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin. Das Team der Feldforschungen 2019 stand unter der Leitung von Henny Piezonka, die damals noch an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel forschte, und Dr. habil. Natalia Chairkina und umfasste deutsche und russische Forschende aus Berlin, Kiel und Jekaterinburg.

Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die befestigte Siedlung Amnya, die als nördlichste steinzeitliche Wallanlage Eurasiens gilt. Tanja Schreiber, Archäologin am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin und Doktorandin am Kieler Exzellenzcluster ROOTS, eine Mitautorin der Studie, erklärt: „Bei den detaillierten archäologischen Untersuchungen in Amnya haben wir Proben für Radiokohlenstoffdatierungen gesammelt, die das steinzeitliche Alter der Stätte bestätigen und sie als das älteste bekannte Fort der Welt ausweisen. Unsere neuen paläobotanischen und stratigraphischen Untersuchungen zeigen, dass die Bewohner Westsibiriens einen hoch entwickelten Lebensstil führten, der auf den reichhaltigen Ressourcen der Taiga basierte.“ Die prähistorischen Bewohner fingen den Forschungsergebnissen zufolge Fische im Fluss Amnya und jagten Elche und Rentiere mit Knochen- und Steinspeeren. Um ihre Vorräte an Fischöl und Fleisch zu konservieren, stellten sie kunstvoll verzierte Töpferwaren her.

Das Forschungsteam konnte bislang zehn steinzeitliche Festungsanlagen mit Grubenhäusern, die von Erdwällen und Holzpalisaden umgeben waren, nachweisen. Die Bauten belegen fortschrittliche architektonische und defensive Fähigkeiten der Taiga-Gesellschaften. Diese neue Entdeckung stellt unter Forschenden nun die bisherige Auffassung infrage, dass dauerhafte Siedlungen mit Verteidigungsanlagen erst mit der Entstehung bäuerlicher Gesellschaften verbunden waren. Die nun entdeckte Siedlung Amnya widerlegt die Vorstellung, dass Ackerbau und Viehzucht Voraussetzungen für diversifizierte Gesellschaftsstrukturen waren.

Laut US-Magazin „Archaeology“ eine der zehn wichtigsten archäologischen Entdeckungen 2023

„Die sibirischen Funde tragen zusammen mit anderen weltweiten Beispielen wie etwa Göbekli Tepe in Anatolien zu einer umfassenderen Neujustierung bisheriger evolutionistischer Vorstellungen bei, die eine allmähliche Entwicklung von einfachen zu komplexen Gesellschaften nahelegen. In verschiedenen Teilen der Welt, von der koreanischen Halbinsel bis nach Skandinavien, entwickelten Jäger-Sammler-Gemeinschaften große und oftmals sesshafte Siedlungen, indem sie vor allem aquatische Nahrungsquellen nutzten. Der Reichtum an natürlichen Ressourcen in der sibirischen Taiga, wie z. B. jährliche Fischzüge und wandernde Herden, spielte wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Jäger-Sammler-Forts. Die befestigten Siedlungen mit Blick auf die Flüsse dienten möglicherweise als strategische Standorte zur Kontrolle und Ausbeutung der ergiebigen Fischgründe. Der Wettbewerbscharakter, der sich aus der Lagerung von Ressourcen und der Zunahme der Bevölkerung ergibt, ist in diesen prähistorischen Bauten offensichtlich und widerlegt frühere Annahmen, dass es in Jäger- und Sammlergesellschaften keine größeren Konflikte gab“, betont Prof. Dr. Henny Piezonka.

Die neuen Forschungsergebnisse belegen die Vielfalt gesellschaftlicher Möglichkeiten, die zu komplexer sozialer Organisation führten, welche sich in der Entstehung von Monumentalbauten wie dem sibirischen Fort in Amnya widerspiegelt. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen zudem die Bedeutung der lokalen Umweltbedingungen für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Das US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Archaeology zählt die Untersuchungen in Amnya zu den Top 10 der wichtigsten archäologischen Entdeckungen des Jahres 2023.

Über den Exzellenzcluster ROOTS

Der Exzellenzcluster ROOTS – Konnektivität von Gesellschaft, Umwelt und Kultur in vergangenen Welten – an der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel (CAU) untersucht seit 2019 die Wurzeln sozialer, umweltbedingter und kultureller Phänomene und Prozesse, die die menschliche Entwicklung nachhaltig prägen. Dafür erforschen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Geistes- Sozial-, Natur- und Lebenswissenschaften in einem interdisziplinären Ansatz archäologische und historische „Laboratorien“ unter der Annahme, dass Menschen und ihre Umwelt sich gegenseitig geprägt haben und dabei soziale und umweltrelevante Konnektivitäten geschaffen haben, die bis heute existieren.

Mehr unter www.cluster-roots.uni-kiel.de

TEXT Jan Steffen, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Exzellenzcluster ROOTS
FOTO Nikita Golovanov