Wilhelm von Humboldt bleibt für Universität und Bildung aktuell

Wilhelm von Humboldt bleibt für Universität und Bildung aktuell

Mit dem Humboldtschen Bildungsideal gegen den Zeitgeist: Neben dem Naturforscher Alexander von Humboldt wird der Bruder Wilhelm oft ignoriert. Dabei hätte er zur Freiheit von Wissenschaft und Bildung viel zu sagen.

Der auf Umweltschutz und sozialen Ausgleich gepolte Zeitgeist blendet den älteren Humboldt-Bruder oft aus. Er wusste noch, wie autonom eine Universität und wie offen Debatten sein sollten.

In letzter Zeit ist Alexander von Humboldt, der weitgereiste Naturforscher, weithin gefeiert worden. Vor drei Jahren wurde sein 250. Geburtstag begangen. Die Welle der Verehrung ist seitdem nur wenig abgeebbt.

Die Anbetung, die Alexander heute erfährt, ist allerdings in vielen Fällen ein Symptom des Zeitgeists. Artenvielfalt, Klima, die indigene Bevölkerung Lateinamerikas – alles Themen, die heute weit über Gruppen von Links- und Umweltaktivisten hinaus ungeheuer attraktiv sind, weil sie in die Werbung für eine sozialökologische Umformung der Gesellschaft passen. Eine historische Figur wie Alexander von Humboldt eignet sich da hervorragend als Held und Prophet, und in diesem Sinne interpretieren manche auch all seine Leistungen. Damit werden sie ihm aber kaum gerecht. Und sein Bruder wird beim Blick durch diese Brille nahezu unsichtbar.

Der gleiche Zeitgeist, der Alexander auf ein Podest hebt, sorgt dafür, dass Wilhelm, der ältere Bruder, deutlich weniger bekannt ist. Dabei war er für Wissenschaft und Bildung ebenso bedeutsam. Wie autonom Hochschulen sein sollten, wie Studiengänge aufgebaut und wie tolerant Debatten geführt werden – zu allen drei Aspekten finden sich wertvolle Anregungen bei Wilhelm.

Der jüngere Humboldt wird zum Teil überhöht

Ausstellungen und Medienberichte haben Alexander vor allem als einen kosmopolitischen Naturgelehrten gepriesen. Und gewiss – für die Wissenschaft war der Berliner Gelehrte ein Pionier, denkt man an seine Expeditionen nach Lateinamerika, Sibirien und in andere Weltregionen. Doch zum Teil ist der Enthusiasmus arg übertrieben. So wird Alexander als erster Ökologe und Klimaforscher bezeichnet, obwohl viele grundlegende Einsichten erst Forschern gelangen, die nach ihm lebten.

Durch seine Studienfahrten in ferne Länder hat Alexander von Humboldt den Horizont der Wissenschaft stark erweitert. Er sammelte etliche Belege und erkannte wichtige ökologische Zusammenhänge. Dadurch trug er zu dem Fundament bei, auf dem Disziplinen wie die Umweltwissenschaften und die Klimaforschung entstehen konnten. Aus der Taufe gehoben hat er diese Disziplinen aber nicht. Das wäre zu viel der Ehre. Die moderne Ökologie entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts, die moderne Klimaforschung sogar noch später.

Der ältere Bruder bleibt im Schatten

Die Wirkung, die Wilhelm von Humboldt ausübte, steht der seines Bruders keineswegs nach. Seine Theorie zur Bildung und sein praktisches Wirken als Bildungsreformer in Preußen waren wegweisend für die Entwicklung der modernen Schulen und Hochschulen des Westens. Eng mit seinem Namen sind außerdem die Anfänge der vergleichenden Sprachwissenschaften und der Anthropologie verknüpft. Nicht zuletzt gilt Wilhelm, der auch als Diplomat tätig war, als einer der frühen Ideengeber des Liberalismus, auf den sich beispielsweise der britische Philosoph John Stuart Mill bezogen hat.

Dass man heute noch vom „Humboldtschen Bildungsideal“ spricht, geht nicht auf Alexander zurück, sondern auf Wilhelm. Dieses Ideal steht ganz im Zeichen der freien Selbstentfaltung des Individuums. Das zugrunde liegende Menschenbild hielt Wilhelm in den «Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen» fest, einer politischen Schrift aus dem Jahr 1792.

Zwei Sätze charakterisieren sein Menschenbild besonders gut: Der wahre Zweck des Menschen (. . .) ist die höchste und proportionierlichste (gleichmäßigste, Anm. der NZZ Red.) Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.

Gerade in einer Zeit, in der Universitäten vermehrt politischem Druck ausgesetzt sind, ist es lohnend, sich mit Wilhelm von Humboldts Wirken zu beschäftigen und seine Schriften zu lesen. Ihm, der aus adliger Familie stammte, aber gemeinsam mit seinem Bruder von dem fortschrittlichen Pädagogen Joachim Heinrich Campe unterrichtet und früh zu selbständigem Denken erzogen wurde, war die autoritäre Führung von Menschen höchst suspekt.

Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern, schrieb er einmal. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu thun, wenn er ihre Leitung erwartet und folgt.

Frau fotografiert Landschaft.Wilhelms Konzept für Hochschulen trug Früchte – in den USA

Insofern ist es folgerichtig, dass die Einheit von Forschung und Lehre eine tragende Rolle in Wilhelms Hochschulkonzept spielt. Die Universität sollte demnach nicht die unkritische Übernahme von Lehrmeinungen fördern, sondern Neugier und selbständiges Denken. Darum sollten die Studenten bereits sehr früh zu forschen beginnen – im ständigen Austausch mit Gleichaltrigen und mit erfahrenen Wissenschaftlern.

Wilhelm war darüber hinaus einer der Ersten, die eine Unabhängigkeit der Hochschulen von staatlichem Einfluss forderten: Öffentliche Erziehung scheint mir (. . .) ganz ausserhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss.

Auf seine Initiative geht die Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität im Jahr 1809 in Berlin zurück, der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin. In ihr konnte er sein Hochschulkonzept erstmals in Teilen umsetzen. Schon bald hatte die Berliner Universität durchschlagenden Erfolg.

Auf besonders fruchtbaren Boden fiel das liberale Hochschulkonzept von Wilhelm allerdings gar nicht in Europa, sondern in den USA. Gerade die dortigen Eliteuniversitäten haben sich später an dem Humboldtschen Modell orientiert.

Berufsbildung gründete für Wilhelm auf Allgemeinbildung

Das heutige Universitätswesen in Europa mit dem Bologna-Punktesystem würde Wilhelm nur bedingt gefallen. Zwar würde er die Ermunterung zu Gastsemestern im Ausland und zur Mehrsprachigkeit gutheißen. Doch dass bereits die Bachelor-Studiengänge für den Beruf qualifizieren müssen, hätte er nicht gut gefunden. Denn das schränkt den Spielraum für den Erwerb der akademischen Allgemeinbildung ein, was nicht in seinem Sinne gewesen wäre.

Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnung und des Charakters, die keinem fehlen darf, schrieb Wilhelm einmal ganz grundsätzlich. Er hätte die Spezialisierung ans Ende des Studienplans gestellt. Gegen eine Hochschulpolitik, die ständig auf die ökonomische Eignung der Absolventen schielt, hätte er also wahrscheinlich protestiert.

Heute zählt der Name Humboldt zur Allgemeinbildung. Wer der populären Vorstellung anhängt, dass sich der Mensch demütig in die vielfältigen Zusammenhänge der Natur einfügen soll, zitiert heute gerne Alexander. Ob das diesem immer gefallen würde, sei dahingestellt. Doch Wilhelm, der so oft im Schatten seines Bruders steht, ist nicht minder aktuell.

Zu den laufenden Debatten lassen sich auch in dem Werk des liberalen Bildungsreformers eine Menge Anregungen finden. Das betrifft nicht nur die von ihm propagierte Hochschulautonomie, die bis heute von Autokratien wie Russland beschnitten wird, sondern auch die Debattenkultur an Hochschulen der westlichen Demokratien.

Frau sitzt an Strand und neben ihr ein übergroßer Haufen Bücher.Was hätte Wilhelm von Humboldt zum Diversity-Streit gesagt?

In manchen westlichen akademischen Institutionen lösen Meinungen, die dem «progressiven» Zeitgeist widersprechen, zum Teil Reaktionen größter Empfindlichkeit aus. So löschte zum Beispiel die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2020 vorübergehend einen Audiobeitrag des Kabarettisten Dieter Nuhr zum Wert von Wissenschaft von ihrer Website. Der Beitrag hatte Proteste von Wissenschaftlern ausgelöst, die an Nuhrs Auftritten Anstoß nahmen.

Wilhelm hätte für derlei Empfindlichkeiten wenig Verständnis gehabt. Er plädierte dafür, sich mit einer großen Vielfalt der Charaktere und Meinungen zu konfrontieren, um die Mündigkeit der Urteilsbildung zu fördern. „Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus“, hielt er einmal fest.

Wie Wilhelm von Humboldt auf Trendthemen wie die Förderung von Diversity reagiert hätte – darüber kann man nur spekulieren. Die Grundidee hätte er wahrscheinlich begrüßt. Er hätte aber darauf hingewiesen, dass echte Diversity sich nicht auf Herkunft oder Hautfarbe beschränken sollte, sondern auch eine Vielfalt der Weltanschauungen einschließen müsste. Je mehr der Mensch sich vielfältigen Einflüssen öffne, desto mehr neue Seiten würden in ihm angespielt, fand der Berliner Gelehrte. Dieses Prinzip beschrieb er als anspruchsvoll, aber lohnend.

Es wird Zeit, den älteren der Humboldt-Brüder wieder mehr ins Rampenlicht zu rücken. Seine Grundidee einer Universität, die von staatlicher Einflussnahme frei ist und in der mit größter Offenheit diskutiert wird – sie könnte heute noch auf so manchen Hochschulmanager eine belebende Wirkung ausüben.

TEXT Neue Zürcher Zeitung AG

FOTOS UND ILLUSTRATIONEN Ölporträt von Joseph Karl Stieler (1843), Lithographie von Friedrich Oldermann nach einem Gemälde von Franz Krüger (1872), Illustrationen von Raphaelle Martin