Um die biologische Vielfalt der Natur zu erkennen, muss niemand den Zoo besuchen. Wo immer du stehst, sieh dich um, und du entdeckst, dass verschiedene Tiere, Pflanzen, Vegetationen und klimatische Bedingungen miteinander existieren. Eine wilde Mixtur. Wir schließen daraus: Vielfalt ist „natürlich“!
Wir Menschen, bekanntermaßen die Krone der Schöpfung, tun jetzt so, als sei das Zusammenleben von menschlichen Kulturen an einem gemeinsamen Ort eine spektakuläre Erfindung der menschlichen Spezies. Wieso eigentlich? Ganz einfach: Wir lernen in der Schule, wie sich die menschlichen Kulturen in der Weltgeschichte gegenseitig das Leben schwer gemacht haben. Und in den Nachrichten hören und sehen wir täglich, dass sich dies offenbar noch nicht geändert hat. Und das ist das Problem – Ängste und Vorurteile gegenüber dem Andersartigen.
Und jetzt kommt’s. Die Erwachsenen haben nachgedacht: „Nur durch Bildung kann das Problem der Integration gelöst werden. Und deswegen muss die kulturelle Vielfalt an den Schulen gefördert und die interkulturelle Erziehung an den Schulen verbessert werden!“ War ja klar, dass die Probleme der Welt wieder von den nachkommenden Generationen gelöst werden müssen. Als gäbe es nicht schon genug Hausaufgaben.
Doch diesmal haben sie recht, die Politiker. Nur wer sich kennenlernt, kann lernen, sich zu vertrauen. Nur, wer sich täglich begegnet, lernt Toleranz und versteht das Andersartige nicht als Bedrohung. Die Schulen sind eben ein unglaublich gut geeigneter Ort dafür: Dort werden Gruppen von Gleichaltrigen gebildet, Mädchen und Jungs gemischt. Die Lehrer vermitteln den Stoff gerecht. Zwar individuell auf die Bedürfnisse des einzelnen Schülers angepasst, jedoch unabhängig von Hautfarbe oder Religion. Und ganz wichtig: Sie passen auf, dass die Gruppe funktioniert und harmoniert.
Wie viel Kultur hat deine Schule?
Das ist die Frage, der wir folgen wollen. Nähern wir uns dem Thema: Kulturelle Vielfalt gibt es immer und überall. In der Bildungs- und Integrationspolitik umfasst Kulturelle Vielfalt alles, was einen Kulturkreis ausmacht: Religion, Regeln, Gebräuche, Sprache, Sitten, Rituale, Essen & Trinken, Musik, Kleidung usw. Je unterschiedlicher die Kulturkreise sind, desto kleiner die Schnittmengen, desto fremder die Begegnung.
Wir sind zu Gast an der Brüder-Grimm-Schule in Billstedt-Horn, dem Stadtteil im Hamburger Osten mit einem hohen Anteil von Arbeiterfamilien und Familien mit Migrationshintergrund. Zwischen Bille, A1 und A24 liegt Billstedt in unmittelbarer Nähe zu vielen Industrie- und Gewerbeunternehmen. Die Anbindung an die Stadt ist gut, der Wohnraum noch bezahlbar. Dort an der Stadtteilschule haben wir Schüler und Lehrer einer 10. Klasse gefragt, wie sich kulturelle Vielfalt an ihrer Schule darstellt und anfühlt.
„Meine Schule ist bunt!“, sagt Rumeysa aus der 10e auf die Frage, was das Besondere der Brüder-Grimm-Schule sei. Und ihre Schwester Hazife meint: „Hier gibt es absolut keine Probleme mit den vielen gemischten Schülern.“
Auf den ersten Blick sieht alles so aus, wie es in jedem Klassenraum einer 10. Klasse ausieht: Tische, Stühle, Schulsachen, Schüler, Schülerinnen und ein Lehrer. Erst im Verlauf der Gespräche bieten die Vornamen der Zehntklässler den ersten Migrationshinweis. Wir sprechen mit Can, Hassib, Taha, Atakan, Rumeysa, Melissa, Ali-Cem, Hazife und Selma. Sie sind deutsche Schüler mit Migrationshintergrund. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, aus Afghanistan und Bosnien-Herzegowina.
Rumeysa und Hazife sind in Deutschland geboren. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Sie sind in der türkischen und islamischen Kultur verwurzelt und tragen Kopftücher.
Auch Selma ist 15. Ihre Familie kommt aus Bosnien. Sie kam als Dreijährige mit ihren Eltern nach Deutschland. „Ich gehe gern zur Schule, vor allem wegen meiner Freunde“, lacht sie. Ihre langen, braunen Haare wehen durch ihr Gesicht. Sie trägt kein Kopftuch.
Wir möchten ein paar Fotos machen und bitten die Klasse 10e auf den Schulhof. Selma, Rumeysa, Hazife und Melissa laufen auf den Hof: „Wir haben hinten auf dem Schulhof eine Wand mit internationalen Flaggen. Davor könnten wir doch die Fotos machen“, schlagen sie vor. Passt hervorragend! Uns fällt auf: Es gibt keine sichtbaren Berührungsängste der Mitschüler, schon gar nicht wegen kultureller Zugehörigkeit. Die Jungen und Mädchen stellen sich in Gruppen zusammen, als seien Fotoshootings an der Tagesordnung. Sie lachen, sie scherzen, sie kennen und respektieren sich. Angst, Ausgrenzung, In-sich-gekehrt-Sein, Scham, Isolierung, Gehänsel … keine Spur.
„Es gibt hier einfach ein angenehmes Klima“, stellt Ali-Cem fest, „denn es spielt absolut keine Rolle, woher man kommt. Wir kommen alle irgendwo her!“
„Kulturelle Vielfalt ist an unserer Schule alltäglich und selbstverständlich“, sagt Klassenlehrer Jörn Pingel. „Bewusst fällt es mir kaum noch auf, höchstens, wenn in einem Elterngespräch die Sprache zum Hindernis wird.“
An der Brüder-Grimm-Schule werden ca. 940 Schülerinnen und Schüler an zwei Standorten unterrichtet. Das Angebot könnte größer kaum sein: Grundschule, Stadtteilschule, teilgebundene Ganztagsschule, Transferklassen, Inklusion, Berufsorientierung und Sprachförderung.
Wir fragen Schulleiter Kristof Dittrich nach dem Geheimnis der Brüder-Grimm-Schule. Was macht die Schule, um kulturelle Vielfalt zu fördern?
„Unsere Aufgabe ist es, aus allen Schülern, egal woher sie stammen, das Bestmögliche herauszuholen und ihnen eine Perspektive für ihr späteres Leben zu ermöglichen. Dieser Weg ist steinig. Dabei helfen uns zwei Grundsätze: 1. Alle sind uns gleich lieb. Es gibt keine Extrawürste, sondern Chancengleichheit. 2. An der Schule wird Deutsch gesprochen, auch auf dem Schulhof, denn die Sprache ist sowohl für die Verständigung als auch für die Gleichbehandlung und Perspektive von elementarer Bedeutung“, erklärt er uns.
Nach vielen Besuchen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie zahlreichen Gesprächen mit Schülern und Lehrern in Hamburg und Umgebung haben wir Folgendes festgestellt: 1.) Kulturelle Vielfalt an Schulen ist alltäglich und allgegenwärtig. 2.) Das Miteinanderlernen und -leben von Schülern und Schülerinnen wird durch kulturelle Vielfalt bereichert, nicht erschwert. 3.) Die Politik, die Schulen und Lehrer haben die Bedeutung interkultureller Bildung erkannt.
Wir werden dieses Thema nicht mehr verlassen und weiterhin Schulen auf diesen Aspekt prüfen, beobachten, Schüler und Schülerinnen fotografieren und befragen. Nicht, weil das Thema „Kulturelle Vielfalt“ so bunt ist, sondern weil kulturelle Vielfalt unsere Zukunft ist: friedlich, plural, tolerant, bunt, vielfältig und … gebildet.
Text & Fotos Christian Dorbandt