Handschlag in der Blockchain

Handschlag in der Blockchain

Aktien und Schiffsfonds, Kaffee und Getreide – Waren und Wertpapiere aller Art werden seit Jahrhunderten an Hamburgs Börsen gehandelt. Inzwischen online und effizient, aber unpersönlich. Die Versicherungsbranche will jetzt die Vorzüge des Parketthandels in die digitale Welt retten.

Die Havarie des italienischen Passagierschiffs “Costa Concordia” gilt als eine der teuersten Schiffskatastrophen aller Zeiten. 2012 lief das Kreuzfahrtschiff auf einen Felsen vor der italienischen Küste und wurde abgewrackt. Der Schaden wird auf weit mehr als eine Milliarde Dollar geschätzt. Eine Versicherung allein wäre mit einer so hohen Summe überfordert. Große Risiken werden deshalb auf mehrere Schultern verteilt.

Wie das im Detail geschieht, wird an Versicherungsbörsen ausgehandelt. Weltweit gibt es nur drei, London, Rotterdam und Hamburg teilen sich das Geschäft auf. Zu tun gibt es genug, Havarien sind alles andere als selten. Etwa 150 größere Schiffsverluste gibt es pro Jahr. In der Nordsee sank zuletzt der mit Stahl beladene Frachter “Verity”. Zuvor war mit der “Freemantle Highway” ein Autotransporter in Brand geraten. Nicht nur auf See können die zu versichernden Risiken enorm hoch sein. Auch an Land liegen sie in Industrie und Gewerbe schnell im mehrstelligen Millionenbereich. Auf 60 Millionen Euro beläuft sich etwa die Bausumme für ein Rechenzentrum, das der Makler Claus Marcus Götte aktuell versichern will, von der Bauherren- über die Feuer- bis zur Montageversicherung.

Makler Claus Marcus Götte

Bis 2018 wären diese Policen noch vor Ort an der Hamburger Börse ausgehandelt worden. Rund 600 zugelassene Makler und Agenten hatten auf Bänken rund um die Säulen des Börsensaals ihre festen Plätze. Die Post wurde mit der Schrift nach unten auf den Holzbänken abgelegt, das reichte für Datenschutz und Vertraulichkeit. Mit ihrem Kürzel konnten sogenannte Assekuradeure, die gleich mehrere der etwa 200 Versicherungsfirmen vertreten, eine Deckung sofort und verbindlich zusichern. Was wichtig ist, wenn ein Schiff am nächsten Tag ausläuft. So wie Hamburger Kaufleute ihre Geschäfte per Handschlag besiegeln, gilt mit dem Kürzel auf dem Papier eine Versicherung als abgeschlossen. Dafür braucht es gegenseitiges Vertrauen, erklärt Götte:

„Man will wissen, mit wem man Geschäfte macht.“

Auf den digitalen Marktplätzen von heute gilt das nach wie vor. Seit Mitte 2023 können Geschäfte auf einer Plattform der Hanseatischen Versicherungsbörse online vereinbart werden. Zugang erhält, wer neben der fachlichen Qualifikation auch die finanzielle Integrität nachweist. Auf der Ausschreibungsplattform stellt ein Makler zum Beispiel im Auftrag eines Reeders ein Gesuch ein, um eine Schiffsladung zu versichern. Vertreter einer Versicherung geben daraufhin Angebote ab. Sind sich beide Parteien über die Konditionen einig, wird der Vertrag manipulationssicher in einer privaten Blockchain dokumentiert. So lässt sich im Streitfall beweisen, wer wann welche Unterlagen übermittelt hat. Die dezentrale Speicherung soll vor Hackerangriffen schützen.

Auf die gleiche Weise lassen sich Gewerbebauten gegenüber Sturmschäden und Brandkatastrophen absichern. Oder ein Öltanker erhält eine Kaskoversicherung über 200 Millionen Euro. „Im digitalen Ökosystem können wir effizienter, sicherer und rechtsverbindlicher agieren“, sagt Götte. Was ein deutlicher Vorteil gegenüber der Zeit zwischen dem Ende des Präsenzhandels und dem Start der Plattform sei. Im täglichen Geschäft gab es zunehmend Probleme. „Ohne den Börsensaal gibt es keinen Überblick mehr, wer welche Risiken versichert“, erläutert der 51-jährige Kaufmann, „also muss ich mir die Finger wund telefonieren.“ Und die Kommunikation per Fax und E-Mail lässt sich nur bedingt absichern, obwohl es oft um sensible Daten geht.

Die Plattform wird von der Hanseatischen Versicherungsbörse organisiert, in dem Verein ist Götte im Vorstand. “Von der Branche, für die Branche” lautet das Motto. Die Börse ist neutraler Vermittler und nicht gewinnorientiert. Nach und nach will der Verein den digitalen Marktplatz ausbauen. Der informelle Austausch, den es einst vor Ort gab, soll in einem integrierten sozialen Netzwerk abgebildet werden. Über Suchfunktionen ließen sich Makler mit spezieller Expertise finden. Auch die Regulierung eines Schadens, dafür sind die sogenannten Dispacheure zuständig, könnte über die Plattform erfolgen. Es gibt sogar Gedankenspiele für eine virtuelle Börse, bei der Makler und Versicherer als Avatare agieren. Viele Vorgänge ließen sich automatisieren. Dabei gibt es für Götte aber eine klare Grenze:

„Die individuelle Expertise, wie ich ein Risiko einschätze, bleibt entscheidend.“

Künstliche Intelligenz werde diese Kompetenz nicht ersetzen können.

Während das Präsenzgeschäft für Versicherungen erst vor fünf Jahren endete, wurden die Kurstafeln an der Hamburger Wertpapierbörse bereits 2002 abgebaut. Statt auf dem Parkett wird seitdem fast nur noch online gehandelt. Die Händler verließen das repräsentative Börsengebäude, das heute von der Handelskammer genutzt wird. Es bleibt damit ein Treffpunkt der Hamburger Kaufleute, ist aber nicht mehr das Handelsforum der Hansestadt, in der 1558 die erste Börse des Landes entstand. Im einst so betriebsamen Haus, Rücken an Rücken mit dem Rathaus, geht es meist ruhig zu.

Lebendig wird es in den großen Hallen beim alljährlichen Börsentag. Bei der 26. Auflage im November kamen rund 5.000 Privat- und Profianleger, um sich kostenlos über Finanzthemen zu informieren. Das Vortragsprogramm reicht von Kryptowährungen über Female Finance bis zur Anlage in Edelmetallen. Referenten geben Tipps für den Handel mit Hebelprodukten, berichten über Fallstricke bei Optionsgeschäften und erklären, wie Privatanleger technische Indikatoren für das Trading nutzen können. Manche der rund 60 Veranstaltungen stießen auf so großes Interesse, dass der Einlass begrenzt werden musste.

Gruppe Menschen

Die Mitglieder des Hanseatischen Börsenkreises der Universität zu Hamburg e.V.

Organisiert wird der Börsentag zu großen Teilen vom Hanseatischen Börsenkreis der Universität zu Hamburg.

„Deutschlandweit ist es die größte eintägige Finanz- und Anlegermesse,“ sagt Simon Stieger, Vorstandsvorsitzender des studentischen Börsenkreises. „Wir wollen über Börse und Kapitalmärkte informieren und zu einer aufgeklärten Anlegerkultur beitragen.“ Nur zwei bis drei Studierende bereiten das Event ehrenamtlich vor. Unterstützt wird das Kernteam von weiteren Mitgliedern. „Die Organisation der Messe leistet das Team parallel zum Studium mit Praktika und Klausuren, und das über rund ein Dreivierteljahr“, erklärt der Bachelorstudent Stieger. Beim Börsentag selbst hilft dann etwa die Hälfte der rund 120 Studierenden, die Mitglied im Börsenkreis sind. Viele sind an der Universität und anderen Hochschulen für Wirtschaftswissenschaften eingeschrieben, aber auch juristische und naturwissenschaftliche Sparten sind vertreten.

Finanzwissen vermittelt der Hanseatische Börsenkreis auch mit seinem Investment-Team. Studierende und drei Schüler verwalten gemeinsam ein Demonstrations-Portfolio. Das öffentlich einsehbare Wikifolio setzt eher auf langfristige Engagements und wenige Trades, ETFs dominieren. „Wir zocken nicht und nutzen zum Beispiel keine Turbozertifikate“, sagt Johannes Heuel, der Erfahrenste im Team. „Es geht uns darum, Berührungsängste vor der Börse zu nehmen und ein Gefühl für die Dynamik der Kapitalmärkte zu bekommen.“ Die beste Investition war zuletzt die Aktie eines Fotodienstleisters mit einem Plus von 141 Prozent. Mit einem Fonds zur Batterietechnologie verzeichneten die Nachwuchstrader dagegen ein Minus von 17 Prozent.

Die Motivation für sein Engagement formuliert Heuel so: „Ich will meinen Horizont erweitern, mich austauschen und andere Sichtweisen kennenlernen.“ Das geschieht zum Beispiel mit Workshops, bei denen Finanzdienstleister ihre Arbeit vorstellen. So lassen sich Kontakte zu Profis knüpfen. Und das Netzwerken schadet sicherlich nicht bei der Karriere. Aktuell konzentriert sich Heuel allerdings auf seine Promotion. Dabei geht es um Maschinelles Lernen und Big Data für die Finanzbranche. Bei seinem Kommilitonen Stieger sind die beruflichen Ziele bereits klar. Er will im Investmentbanking arbeiten, am liebsten im Bereich Mergers & Acquisitions.

Ob ihre berufliche Zukunft in Hamburg liegen wird? Dafür sprechen neben der kaufmännischen Kultur, den traditionsreichen Banken und dem Venture-Kapital in der Stadt vor allem die mehr als 90 sogenannten Fintechs, bei denen auch Alumni des studentischen Börsenkreises vertreten sind. Während diese jungen Unternehmen für Zuwachs in Hamburgs Finanzbranche sorgen, sind einige ältere Firmen abgewandert. Im renommierten Global Financial Centres Index rangiert Frankfurt bei 121 bewerteten Städten aktuell auf Platz 14. Hamburg liegt an 49. Stelle und hat zuletzt sechs Plätze eingebüßt. Der Stadtstaat will seine Position als Finanzstandort wieder stärken. Seit zwei Jahren gibt es einen Masterplan, der auf innovative Impulse für die Branche und die Ansiedlung neuer Unternehmen zielt.

Hamburgs Börsen – Handelsplätze mit Tradition

Hamburger Kaufleute betonen oft die lange Geschichte als Handelsstadt. Tatsächlich gibt es mehrere historische Superlative. An der Elbe wurden 1558 die landesweit erste Börse und 1590 die erste Privatbank gegründet. 1676 entstand die älteste Versicherung der Welt in der Hansestadt. Auch beim Handel mit Wertpapieren war man im Jahr 1815 Pionier in Deutschland. Die Börse gilt bis heute als Zentrum des Finanzplatzes und unterteilt sich in vier eigenständige Bereiche für Immobilien, Versicherungen, Getreide und Wertpapiere – rund 8.500 Aktien, Anleihen und Fonds werden gehandelt. Die regionalen Wertpapierbörsen Hamburg, Hannover und Düsseldorf agieren inzwischen unter einem Dach.

TEXT Peter Ringel
FOTO Hanseatischer Börsenkreis der Universität zu Hamburg e.V. / Nicolas Döring