Ein Gespräch mit Dr. Ulf Schweckendiek
Das System Schule erlebte der vierfache Vater (20, 17, 17, 14 Jahre) über seine Kinder viele Jahre hautnah mit. Dass er jedoch selbst einmal die Leitung übernehmen würde, hätte der promovierte Meeresphysiker Ulf Schweckendiek bis vor ein paar Monaten selbst nicht gedacht. In seiner neuen Rolle als Schulleiter hat er sich aufs Segel geschrieben, seine jahrelange Erfahrung aus der Wissenschaft einzubringen und vor allem eines zu sein: offen für konkrete Umsetzungen von Digitalisierungsstrategien, Kooperationen und Unterricht, der Schülerinnen und Schüler auf das wahre (Berufs-)Leben vorbereitet. Warum er für diese Aufgabe bestens gewappnet ist und welche Ziele er als neuer Schulleiter der Friedrich-Junge-Gemeinschaftsschule noch ansteuert, erfahren wir im Interview.
Herr Schweckendiek, wie sind Sie zum Thema Bildung gekommen und wie sah Ihr beruflicher Werdegang aus?
Zum Thema Bildung bin ich so ein bisschen wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Zunächst habe ich Meeresphysik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel studiert und war anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geomar (ehem. Institut für Meereskunde) im Bereich der Klimawissenschaften tätig. Als das Land Schleswig-Holstein im Jahr 2005 Personen suchte, die Mathematik und Physik unterrichten und ich als Familienvater auf der Suche nach einer sicheren beruflichen Perspektive war, ergriff ich die Chance und wagte den Quereinstieg in die Lehrtätigkeit. Weiterhin war das Thema Klimawandel für mich sehr bedeutsam, und das Landesinstitut suchte Fachleute, die im Bereich der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften Seminare am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein durchführen sollten – so kam ich zum IQSH. Seit 2014 war ich dort vollzeit tätig, habe über die Jahre unterschiedliche Aufgaben übernommen und leite derzeit die Fachfortbildungen in allen 34 Fächern. Meine neue Aufgabe als Schulleiter empfinde ich als sehr sinnstiftend, das treibt mich an.
Zeigen nicht gerade Lebenswege mit vielen Abzweigungen, wie wichtig es ist, Mut zu haben und Entscheidungen zu treffen und dennoch das zu leben, wofür man brennt?
Berufswahl hat immer ganz viel mit Chancen und Gelegenheiten zu tun. So ist es bei mir auch gewesen. Die Arbeit in der Wissenschaft machte mir zwar großen Spaß, passte irgendwann jedoch nicht mehr zu meiner Lebensrealität als vierfacher Familienvater. In die Lehre zu wechseln, ermöglichte mir daher Beruf- und Privatleben sinnvoll miteinander zu verbinden. Ich wechselte daher nicht von der Wissenschaft in den Schulsektor, weil Ersteres nicht mehr spannend war, sondern weil ich Lust hatte, etwas Neues auszuprobieren und mich weiterzuentwickeln. Neue Wege zu beschreiten – auch wenn man andere gut kennt – ist attraktiv, herausfordernd und erhält das innere Feuer.
Welche Ideen würden Sie als Leiter der Friedrich-Junge-Gemeinschaftsschule gern verwirklichen?
In den vergangenen Jahren habe ich Fortbildungen für Fächer sowie Workshops für Schulleitungen geleitet, daher beobachte ich seit langem, dass lernwirksame Verbesserungen in der Schule behutsam und zielorientiert entwickelt werden müssen. Ich empfinde es als eine besondere Herausforderung, wie wir das System mit garantiert nicht wachsenden Ressourcen dennoch weiterentwickeln können.
Können Sie konkrete Handlungsfelder nennen?
Digitalisierung ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Wenngleich bei Lehrkräften häufig ein Vorbehalt besteht – wir werden in Zukunft mehr über Themen als über Fächer reden. In Schleswig-Holstein stehen 35 Fächer auf dem Lehrplan, aber es geht zunehmend um thematische, fächerübergreifende Zusammenhänge, die in der Schule eine Rolle spielen müssen, damit Kinder und Jugendliche sinnvoll lernen können. Eine zentrale Herausforderung besteht also darin, wie man Fächer verbinden kann. Zusätzlich wird sich das Unterrichten verändern. Bisher verbringen Lehrkräfte viel Zeit damit, Unterrichtsinhalte zu vermitteln. In Zukunft wird die Beratungsfunktion sehr viel wichtiger sein. Die Digitalisierung sorgt dafür, dass sehr viele Lerninhalte leicht zugänglich sind. Wissensvermittlung ist daher keine alleinige Aufgabe von Lehrkräften mehr. Wenn ich Digitalität in der Schule zulasse, selbst wenn die Schülerinnen und Schüler nur googlen, dann ist meine Rolle als Lehrkraft gleich eine ganz andere, weil dort ‚jemand’ ist, der viel mehr weiß als ich. Es geht also mehr um das Vermitteln von Kompetenzen.
Wie muss man sich einen Unterricht vorstellen, der zunehmend Themen statt Fächer fokussiert?
Wir haben den Fachunterricht, aber es wäre sehr gut, wenn es uns gelänge, dass die Lehrkräfte fächerübergreifend Inhalte verbinden. Ein Beispiel: Im Fach Deutsch gab es eine Fortbildung zum Thema ‚Märchen bearbeiten’. Als Lehrkraft wäre es gut, im Rahmen dieses Themas auch das Fach Kunst mit einzubeziehen oder das Fach Geschichte, um das Märchen in seinem ursprünglichen gesellschaftlichen Kontext zu verorten. So entsteht für die Kinder und Jugendlichen ein Zusammenhang, eine Lernlandschaft. Keine kleine Herausforderung, weil es meist an Zeit mangelt.
Gibt es Konzepte, die Sie vom Institut für Qualitätsentwicklung (IQSH) in die Schule mitnehmen?
Ich habe seit 2010 den Bereich Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) und das Programm Zukunftsschule.SH in Schleswig-Holstein geleitet. Beide Bereiche würde ich gerne in der Schule stärken. Was sich in den letzten Jahren immer mehr zeigt, ist die Wirksamkeit projektorientierten Lernens. Es bündelt verschiedene Aspekte, eben nicht nur Wissenserwerb, sondern auch Kompetenzschulung. Kinder lernen da etwas für ihr Leben.
Welchen Stellenwert wird Berufsorientierung und die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf ein Leben nach der Schule unter Ihrer Leitung spielen?
Wir wissen, dass Schülerinnen und Schüler enorm gut lernen, wenn sie eine Zielorientierung haben, deshalb ist sie eigentlich schon viel früher wichtig. Kinder lernen auch gut, wenn sie in der fünften Klasse schon davon träumen, etwa bei der Feuerwehr zu sein. An der Friedrich-Junge-Schule ist die Berufsorientierung ein durchgängiges Prinzip. Eigentlich sollte sie möglichst in jedem Fachunterricht stattfinden, so dass am Ende eines Unterrichts jeder für sich die Frage stellen kann: Was könnte das für meine berufliche Laufbahn bedeuten, was wir heute gelernt haben? Das hört sich jetzt vielleicht etwas dogmatisch an, aber es fördert ein spezifisches Bewusstsein. Wir möchten eine kontinuierliche Berufsorientierung leisten, weil das die zentrale Aufgabe der Schule ist.
Sehen Sie die Gemeinschaftsschule als Chance, das Bildungssystem durchlässiger zu gestalten?
Durch die Pisa-Studien hat sich die Denkweise verbreitet, ein guter Bildungsabschluss könne in erster Linie die Hochschulreife sein. Aber aktuell stellen wir fest, spätestens wenn man einen Handwerker sucht, kann das nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Gerade unsere dualen Ausbildungsgänge sind weltweit ein Exportschlager. In der Sekundarstufe I von Klasse fünf bis zehn werden interessengeleitet die wesentlichen Weichen für späteren beruflichen Erfolg gestellt. Die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems ist leicht gestiegen – eine Notwendigkeit, ohne links und rechts zu schauen das Abitur anzupeilen, passt längst nicht für alle. Hohe Abbrecherquoten im Studium sind ein Beleg dafür. Mein Leitspruch daher: ‚Umwege erhöhen die Ortskenntnis’. Es gibt viele Wege und Möglichkeiten, und wir als Schule können ganz viele Optionen aufzeigen.
Welchen Stellenwert nehmen dabei Projekte außerhalb der Schule für Schülerinnen und Schüler?
Außerhalb der Schule müssen Projekte natürlich immer mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu tun haben. Wenn die Bremse meines Fahrrades nicht funktioniert und ich an meinen Physikunterricht denke, ist das positiv. Die Zukunftsschule zertifiziert zum Beispiel bildungs- und nachhaltigkeitsorientierte Projekte: Schülerinnen und Schüler sollen Medienkompetenz erwerben, also wissen, wie sie sinnvoll und kritisch mit Medien umgehen. Für uns als Lehrkräfte spielt Mediendidaktik daher eine wichtige Rolle. Ziel ist es, mit Hilfe von Digitalität besseres Lernen zu ermöglichen – dazu würde ich auch das Onlineangebot der DIGI:BO zählen. Distanzlernen gehört durchaus zur Mediendidaktik. Außerdem wächst sogar die Relevanz des fachlichen Lernens im Hinblick auf Digitalität. Es geht um die Frage, wie sich Fächer im Zuge der Digitalität verändern, im Grunde analog zu den Berufsbildern, die sich ebenso in einem Wandel befinden. Darauf muss Schule eine Antwort geben. Nehmen wir das Fach Mathematik. Meine Tochter hat vor drei Jahren Abitur gemacht und genauso gelernt wie ich damals. Wir wissen aber, dass wir mehr in eine Richtung lenken sollten, dass beispielsweise der Umgang mit Daten eine Rolle spielt. Stichwort ‚Künstliche Intelligenz’ und ‚Mustererkennung’ – zu diesen Themen können Fächer wie Mathematik Wichtiges beitragen.
Die BOM ist im Ursprung ein Gemeinschaftsprojekt der Friedrich-Junge-Schule und ME2BE. Auch die Plattform DIGI:BO ist in enger Abstimmung entwickelt worden. Welchen pädagogischen Stellenwert besitzen Ihrer Ansicht nach derartige Kooperationen oder auch solche mit der Kommune oder Akteuren aus der Wirtschaft?
Schulen tun sich manchmal nicht so leicht mit solchen Kooperationen, auch damit nicht, Berufliche Orientierung als gemeinsame Aufgabe zu verstehen. Wir müssen, im Hinblick auf Messen, ebenfalls darauf achten, dass diese kein ‚One Shot’ bleiben. Das schafft die Schule nur durch sehr konkrete Vor- und Nachbereitung. Insofern ein klares Ja zu Kooperationsmöglichkeiten. Schule profitiert auch für das fachliche Lernen davon. Alle wissen doch um den Arbeitskräftemangel. Was das angeht, müssen sich Schule wie Unternehmen bewegen. Viele junge Menschen brechen noch immer eine Ausbildung ab. Ein Dialog zwischen Schule und Wirtschaft ist da wichtig.
Wie viel der eigenen Erfahrung wird in den Bereich der Beruflichen Orientierung einfließen – auch vor dem Hintergrund, dass Ihre Kinder in einem Alter sind, in dem sie sich beruflich orientieren oder bereits orientiert haben?
Mein eigener Weg war nicht so gut organisiert. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob es mal ausreichen würde, eine Familie zu ernähren. Im Nachhinein war das für mich genau richtig, aber ich hatte auch viel Glück. Was meine Kinder anbelangt, bin ich heute entspannter. Ich finde es wichtig, einen Weg einzuschlagen, für den man brennt. Wer nach dem MSA weiter zur Schule geht, sollte dies daher nicht nur aus Bequemlichkeit tun. Manchmal lohnt es sich, das Altbekannte zu verlassen und eine Ausbildung zu beginnen. Denn viele Ausbildungsbetriebe bieten die Möglichkeit, sich mit dualen Studiengängen im Unternehmen weiterzuentwickeln. Ich plädiere daher für Mut, Offenheit und einen entspannten Umgang mit der eigenen Biografie – kein Weg ist in Stein gemeißelt.
Welchen Wunsch haben Sie für Ihre neue, verantwortungsvolle Tätigkeit an der Friedrich-Junge-Gemeinschaftsschule?
Ich wünsche mir, dass ich durch viele Gespräche und Abstimmungen mit den Lehrern, den Eltern und den Schülern schon bald wirksame Impulse setzen und zu einer positiven Schulkultur beitragen kann.
Text: Sophie Blady, Kristina Krijom
Foto Sebastian Weimar