„Eltern sehen sich nicht in der Verantwortung“: warum die Schule in Deutschland immer schlechter funktioniert

„Eltern sehen sich nicht in der Verantwortung“: warum die Schule in Deutschland immer schlechter funktioniert

Schüler haben grosse Defizite in den Fächern Deutsch und Mathematik. Sie können sich schwer konzentrieren und sind oft undiszipliniert. Was würde helfen?

„Ich bin robust“, sagt die Grundschullehrerin aus Berlin, „aber inzwischen gibt es Klassen, bei denen ich nicht mehr weiterweiss. Die Kinder schreien nur noch. Wenn irgendetwas nicht so ist, wie sie wollen, dann schreien sie. Keine Worte oder Sätze. Sie schreien einfach.“

Wenn sie einzelne – besonders arabisch- oder türkischstämmige – Schüler ermahne, werde ihr von diesen häufig entgegengeschleudert, sie sei eine „Rassistin“, sagt die 55-Jährige, die namentlich nicht genannt werden möchte – „von Drittklässlern!“.

Ein Schulleiter aus Nordrhein-Westfalen erzählt, dass zur Abschlussfeier vor den Sommerferien mehrere Väter im Muskelshirt erschienen seien:

„Ein Mann telefonierte, während der Chor sang. Eine Mutter ist drei Mal zum Rauchen hinausgelaufen. Mehrere Eltern kamen zu spät. Ich musste meine sechsminütige Rede vier Mal unterbrechen und um Ruhe bitten.“

Künftig werde man auf die Einladungen zur feierlichen Verabschiedung der Absolventen den Satz „Wir bitten um festliche Kleidung“ drucken – und einen genauen Ablaufplan, der die Eltern darüber in Kenntnis setze, wie lange jeder einzelne Programmpunkt dauere und sie mithin ohne Zigarette oder Handy auskommen müssten. „Es hilft ja nichts“, sagt der Schulleiter: „Wir können nur mit dem arbeiten, was wir haben.“

Die Disziplinprobleme in ihren Klassen seien oft so massiv, dass sie einigermassen zufrieden sei, wenn sie in einer 45-minütigen Schulstunde auf 20 Minuten effektive Unterrichtszeit komme, sagt die Lehrerin einer Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein: „Dann bin ich gut.“

Seit dem „Pisa-Schock“ ist wenig besser geworden

Drei Schularten, drei Bundesländer, sicher kein vollständiges Bild. Lehrer an Gymnasien, gerade im ländlichen Raum, berichten immer noch von motivierten Schülern, engagierten Eltern, heiler Welt. Doch auch sie beschreiben ähnliche Tendenzen wie ihre Kollegen von den stärker herausgeforderten Schularten: die kürzere Aufmerksamkeitsspanne der Jugendlichen; das Fehlen literarischer oder musischer Vorbildung; die unguten Einflüsse von Tiktok oder Instagram auf das Sozialverhalten der Schüler; die hohe Klagebereitschaft mancher Eltern, wenn sie mit der Benotung ihrer Kinder nicht einverstanden seien. Dabei korrigiere man die Noten sowieso schon nach oben, sagen Lehrer: Man könne ja nicht nur Fünfen und Sechsen verteilen.

Die Befunde der empirischen Bildungsforschung passen zu diesen Impressionen. Seit der „Pisa-Schock“ des Jahres 2000 den Deutschen die Augen dafür öffnete, dass ihre Schulen im internationalen Vergleich bei weitem nicht so leistungsstark waren, wie es zum Selbstbild des Landes gehörte, ist sehr viel ausprobiert worden: diverse neue Schreiblernmethoden, Leseförderprogramme, längere Unterrichtstage, schnellere Wege zum Abitur, „Schulen ans Netz“.

Trotzdem verschärfen sich einige zentrale Probleme weiter. Die Lesekompetenz der deutschen Grundschüler, also die unerlässliche Voraussetzung für jeden weiteren schulischen Erfolg, geht seit Jahren zurück, besonders stark seit 2016. Das ist das Ergebnis der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) 2023. Die Studie misst seit 20 Jahren die Lesekompetenzen von Grundschülern in 65 teilnehmenden Staaten. Deutschland liegt derzeit im Mittelfeld, weit hinter den Champions Singapur und Hongkong, aber auch hinter Bulgarien, Polen und England.

Die Mode-Methode „Lesen durch Schreiben“

Die Spitzengruppe der sehr guten Leser hat sich in Deutschland verkleinert. 25 Prozent der deutschen Viertklässler lesen nicht so, dass sie einen kurzen Text verstehen und adäquat wiedergeben könnten. Ebenso wenig beherrschen die Zehnjährigen die korrekte Rechtschreibung – was auch inzwischen überwundenen didaktischen Irrwegen wie der Mode-Methode „Lesen durch Schreiben“ geschuldet ist, die gerade schwache Schüler benachteiligte.

Im Fach Mathematik sind 22 Prozent der Schüler laut Mint-Nachwuchsbarometer 2023 „gefährdet“ und verfügen kaum über das nötigste Verständnis für Zahlen und Rechenarten. Gegenüber 2011 ist das fast eine Verdoppelung der Risikogruppe. Obwohl Mädchen generell bei Noten und Schulabschlüssen vor den Jungen landen, sind sie in Mathematik deutlich im Hintertreffen.

Rund 15 Lernwochen liegen sie am Ende der vierten Klasse zurück – das überschattet ihre gesamte schulische Entwicklung. Auch deshalb dürfte das Interesse an Mint-Studienfächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) gesunken sein, es gibt viele Studienabbrecher. Für zukunftsträchtige Branchen verschärft das Desinteresse der jungen Leute den Fachkräftemangel.

Der Lehrerberuf selbst wird trotz guter Bezahlung immer unbeliebter. Die Zahl der Berufsanfänger hat sich sogar beim halbwegs stabilen Gymnasium in den vergangenen zehn Jahren halbiert. Insgesamt fehlten 40 000 Lehrer, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger. Die Bundesländer als Dienstherren behelfen sich mit Quereinsteigern, die zum Teil nützliche Praxis aus anderen Berufen mitbringen, zum Teil aber auch alles andere sind als pädagogische Naturtalente.

Bundesweit sind 10 Prozent des Lehrpersonals Quereinsteiger, in einzelnen Bundesländern auch mehr. Fachleute kritisieren, dass gerade an den weichenstellenden Grundschulen und an den Gemeinschafts- und Förderschulen besonders viele Quereinsteiger mit pädagogischer Kurzausbildung tätig seien.

Sechs Stunden Deutsch, fünf Stunden Mathematik

An fast jeder zehnten Grundschule fehlt überdies ein Schulleiter. Jeder vierte Grundschulrektor würde laut „Schulleitungsmonitor Deutschland“ (2023) der Wübben-Stiftung Bildung gern seinen Posten verlassen. Überbordende bürokratische Anforderungen, schwierige Beziehungen zur Elternschaft und geringe finanzielle Anreize machen die Funktion unattraktiv.

Das bleibt nicht folgenlos, denn die Qualität des Unterrichts hängt ganz wesentlich auch von guten Schulleitungen ab ­– und Unterrichtsqualität ist nach den Erkenntnissen von Bildungsforschern noch entscheidender für den Lernerfolg von Schülern als die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden.

Der Faktor Zeit spielt allerdings auch eine wichtige Rolle. In Deutschland wird an Grundschulen laut Iglu-Studie 141 Minuten lesebezogener Unterricht pro Woche erteilt, im EU-Durchschnitt sind es 194 Minuten. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (KMK) empfiehlt denn auch für die Zukunft sechs Wochenstunden Deutsch- und fünf Wochenstunden Mathematikunterricht. Das ist sicherlich eine vernünftige Idee – wenn sich denn die Lehrer für dieses Ziel finden.

In anderen Feldern, in denen die Kommission Vorschläge macht, wird deutlich, wie einseitig dieses Gremium mit Theoretikern besetzt ist und wie sehr darin Schulpraktiker fehlen. Einerseits fordert dessen Co-Vorsitzender Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) in Kiel, die Länder müssten angesichts der Integrationsdefizite vieler Kinder einen verbindlichen Sprachstandstest im Alter von viereinhalb Jahren mit einer verbindlichen vorschulischen Förderung kombinieren.

Kinder können sich nicht selbst an- und ausziehen

Wie man die Teilnahme am Test und vor allem einen verpflichtenden Kita-Besuch politisch durchsetzt, ist andererseits eine völlig offene Frage.

Die bereits zitierte Berliner Grundschullehrerin beschreibt die fehlende Kooperationswilligkeit mancher arabischstämmiger Mütter: „Vor allem verwöhnen sie ihre Söhne viel zu sehr, geben sie natürlich nicht in die Kita, fahren sie bis zum fünften Lebensjahr im Buggy herum, füttern sie mit Süssigkeiten und nehmen ihnen jeden Handgriff ab.“

Die Folge: Manche Erst- und Zweitklässler müsse sie für den Sportunterricht an- und ausziehen, allein seien die Kinder dazu nicht in der Lage. „Und zu hoffen, dass in diesen Familien mal ein Bilderbuch angeschaut oder eine Geschichte vorgelesen wird, ist völlig utopisch.“ Häufig seien die Eltern auch für Gespräche über ihre Kinder kaum zu erreichen.

Der Psychologe Ahmad Mansour, ein Fachmann für Integrationsprobleme und kulturelle Differenzen, sagt dazu, in den fraglichen Kulturen werde die Schule komplett als staatliche Aufgabe begriffen:

„Die Eltern sehen sich da gar nicht in der Verantwortung.“

Man erreiche diese Klientel am besten, wenn man allgemeinere Veranstaltungen anbiete, zum Beispiel zur gesunden Ernährung oder zur Wahl der richtigen weiterführenden Schule. „Gespräche müssen am Kindeswohl anknüpfen, nicht immer nur an Konflikten.“ Das verpflichtende Kita-Jahr sei der einzige Weg, die Kinder schulfähig zu machen.

Wenn aber die Schule die Erziehung für diese migrantischen Milieus vollständig allein übernehmen muss, braucht sie eine ganz andere personelle Ausstattung – und andere Sanktionsmöglichkeiten als etwa den Ausschluss vom Unterricht.

Digitalisierung kann negative Wirkung haben

Das alles könnten der KMK-Berater Köller und seine Mitautoren wissen. Trotzdem lesen sich ihre Empfehlungen zur „Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen“ weltfremd: Von „Verabredung und gemeinsamer Implementation von schulischen Regeln, mit dem Ziel der Sicherstellung von Normkohärenz und der Etablierung einer positiven Peerkultur“ ist da die Rede. Oder von „Massnahmen zur Förderung der Selbstregulation, des Wohlbefindens und der sozialen Integration“ sowie „gezielter Unterstützung positiver Peernetzwerke in Unterricht und Ganztag“. Für Lehrer, die mühsam versuchen, wenigstens 20 Minuten pro Schulstunde wirklich zu unterrichten, muss das wie Hohn klingen.

Beim Thema Digitalisierung schleicht sich ein ähnlich ideologischer Unterton ein. Dabei hat beispielsweise das schwedische Karolinska-Institut jüngst in einer umfangreichen internationalen Meta-Studie dargelegt, dass „digitale Werkzeuge“ ausgesprochen negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche haben, wenn sie im Unterricht zu früh eingesetzt werden. Ausserdem benachteiligen sie gerade Kinder aus bildungsfernen Familien. Trotz solchen Erkenntnissen empfiehlt die KMK-Kommission die Arbeit mit Bildschirmmedien schon in der Kita – und „Informatikinhalte“ bereits im Grundschulunterricht. Für das Leben in der „digitalen Welt“ sei das erforderlich.

„Es geht dabei eher um ökonomische Interessen und eine gewisse Zeitgeisthörigkeit der Politik“

, sagt Karl-Heinz Dammer, Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er hat im Auftrag des Philologenverbandes Nordrhein-Westfalen ein Gutachten erstellt, das sich für die Digitalisierungsstrategien deutscher Kultusminister geradezu vernichtend ausnimmt.

Lesen lernt man mit Büchern

Demnach ist die beste Vorbereitung auf ein Leben in der „digitalen Welt“, gut lesen und schreiben zu können – egal, ob es um Informationsbeschaffung oder um das Programmieren von Apps geht. Das Lesen selbst lernen Kinder offenbar besser analog als digital. Aus zahlreichen Studien der Stiftung Lesen könnte auch in Deutschland bekannt sein, welche zentrale Rolle dabei das Elternhaus spielt.

Kinder, die mit Büchern aufwachsen, denen regelmässig vorgelesen wird und die ihre Eltern selbst zum Vergnügen lesen sehen, haben es viel leichter als Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Wenn aber die Familien mit einem guten Leseklima rar sind, müssen Kita und Schule in dieser Hinsicht deutlich mehr tun.

Die Leseforschung hat klare Erkenntnisse dazu, was hilft: Schon in der Kita müssen gemeinsam Bilderbücher betrachtet und es muss vorgelesen werden. Bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache und bei Kindern aus schwierigen sozialen Verhältnissen ist intensive Wortschatzarbeit nötig: Jede Handlung – „Wir decken den Tisch, das ist der Teller, das ist der Becher“ – muss sprachlich begleitet werden.

Diktate sind notwendig

In der Grundschule muss laut und bisweilen auch im Chor gelesen werden. Verbundene Handschrift und das Abschreiben von Texten fördern die Sprachsouveränität. Diktate sind zur Übung nötig.

Der Stadtstaat Hamburg, der in der günstigen Lage ist, zugleich Schulträger, Schulaufsicht und Kultusbehörde in einem zu sein, hat mit einer intensiven Leseförderung gute Ergebnisse erzielt und ist im bundesweiten Ranking weit nach oben geklettert. Zum dort verwendeten Instrumentenkasten gehören unter anderem sogenannte „Lesebänder“ – 20 Minuten an jedem Schultag, in denen, unabhängig vom Fach, laut gelesen wird.

Schulen, die ihre Lage verbessern wollen, greifen jetzt auch in anderen Bundesländern auf das Hamburger Modell zurück. „Das ist der richtige Weg“, sagt Karl-Heinz Dammer:

„Was auch immer man unter der ‹digitalen Welt› verstehen mag: Die Kompetenzen, um in ihr zu bestehen, erwirbt man zunächst analog.“

TEXT Susanne Gaschke (Neue Zürcher Zeitung)
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