„Der kleine Schneeball mußte rollen und eine Lawine werden!“

„Der kleine Schneeball mußte rollen und eine Lawine werden!“

Ida von Kortzfleisch – „Pionierin der Berufsbildung für Frauen“ – zum 175. Geburtstag

1897 gründete Ida von Kortzfleisch mit einigen Gleichgesinnten einen Verband für hauswirtschaftliche Frauenschulen auf dem Lande, der fast einhundert Jahre Bestand hatte, vier politische Systeme überdauerte und zu den größten und bedeutensten privaten Schulträgern für Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland gehörte. (vgl. Wörner -Heil: A F, S. 9)

Elisabeth Heimpel-Michel berichtet die Anekdote, Ida von Kortzfleisch habe nie verwinden können, daß man ihrer jüngeren, aber verheirateten Schwägerin in der Gesellschaft die Hand geküßt habe, während das bei ihr, der unverheirateten Frau, nicht zulässig war – und dies sei das Motiv gewesen, das sie zu dem genialen Plan der wirtschaftlichen Frauen-Hochschule und zu seiner Verwirklichung in den Reifensteiner Schulen getrieben habe – […]“ (Heimpel-Michel, S. 7)

Ida von Kortzfleisch

Porträt von Ida von Kortzfleisch

Liest man die Anekdote als Chiffre, so spiegelt sich darin nicht allein die Empörung einer unverheirateten, adligen Frau, sondern ein Protest über als absurd empfundene, fragwürdige Konventionen privilegierter sozialer Schichten, der als Motiv für einen Ausbruch aus traditionellen Rollenmustern- und Standesprivilegien verstanden werden kann. 

Für viele Frauen aus Adel und Bürgertum, die während des Kaiserreichs in der Frauenbewegung aktiv waren, galt: sie blieben ihrem Stand verbunden und wiesen in ihrem Handeln darüber hinaus.

„Z a u b e r n  l ä ß t  si c h  k e i n e  g e t r ä u m t e  O r g a n i s a t i o n. von heut auf morgen, aber wartet nur ihr Zweifler, ihr Warner!“ – Ida von Kortzfleisch

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzieht sich zeitversetzt in Deutschland eine europäische ökonomische und politische Zeitenwende, die zu fundamentalen gesellschaftlichen Umbrüchen führt und nicht nur die Soziale Frage, sondern auch die Frauenfrage auf die Tagesordnung bringt.

Porträt von Ida von Kortzfleisch

Porträt von Ida von Kortzfleisch

Der in Langenhorn bei Niebüll  gebürtige Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen (1846-1908) und Zeitgenosse Ida von Kortzfleischs charakterisiert die gesellschaftliche Lage der Frauen in seiner posthum erschienenen  Pädagogik  wie folgt:

Im letzten Menschenalter sind diese Dinge, die von den Tagen der Schöpfung her festzustehen schienen, ins Schwanken geraten. In allen Ländern, d. h. in allen Ländern christlich-europäischer Zivilisation, beginnt die Frau aus ihrer alten Stellung in der Gesellschaft herauszutreten, oder also sie beginnt aus der engen Sphäre des häuslichen Lebensberufs in das öffentliche Leben der Gesellschaft hineinzutreten. Die Ursachen hierfür liegen offenbar in Wandlungen in den gesamten Lebensverhältnissen. Die Frau wird mehr und mehr aus dem alten Beruf, der Haushaltung, herausgedrängt. Die Hauswirtschaft wird rudimentär. Die Mädchen und Frauen der niederen Stände treten auf den Arbeitsmarkt hinaus. Für die Töchter der höheren Schichten, besonders der Beamtenwelt ohne Vermögen, nimmt die Wahrscheinlichkeit des Unverheiratetbleibens an Wahrscheinlichkeit zu: sie suchen nun nach einem anderen selbständigen Lebensberuf, nach einem Beruf mit anerkannter sozialer Lebensstellung. Und diese Frauen sind es nun in erster Linie, die auf eine andre Erziehung für das weibliche Geschlecht hindrängen, […] die auch für Mädchen den Zuggang zu wissenschaftlicher und gelehrter Bildung auf Gymnasien und Hochschulen fordern.

[…] Ich glaube, es wird in gewissem Maße unvermeidlich sein, den Forderungen nachzugeben: es ist das erste Menschenrecht, sich einen Beruf, sich einen Wirkungskreis zu schaffen, wo sich eine ersprießliche Arbeit darbietet, wo man seine Kräfte für sich und für andere nützlich verwerten kann. (Paulsen, S 52 f.)

„Das Suchen nach dem  B e r u f  ist der Schrei der Frauenbewegung.“ – Ida von Kortzfleisch

In Pillau (Ostpreussen) wird Ida Ottilie Achatia von Kortzfleisch am 10. Oktober 1850 geboren. Sie ist Tochter eines Offiziers. Ihre Jugend verbringt sie in behüteten, privilegierten Verhältnissen in Königsberg, später in Anklam (Pommern). Ihr Elternhaus scheint geselliges Leben geschätzt und gepflegt zu haben: Dichten, Schreiben, Theaterspielen, Malen.  Ida von Kortzfleisch wurde von dieser geselligen Kultur geprägt. Die Ambivalenz dieses adeligen Landlebens für Frauen hat die 18-jährige Ida ihren kleinen Notizkalendern anvertraut: „Ein gewöhnlicher Tag, ich malte, schrieb, las vor.“ „ Den Vormittag schrieb ich einen zehn Seiten langen Brief, nachmittags malte ich an einer venezianischen Landschaft und abends las ich (aus einer Erbauungsschrift) vor“.  (zit. nach Heimpel-Michel, S. 8)

Ihr vier Jahre jüngerer Bruder Gustav von Kortzfleisch (1854-1910), preußischer Generalmajor und Militärschriftsteller,  schreibt 1896 in seiner Familienchronik  über die Schwester: Sie entfaltete eine reiche Begabung auf vielen Gebieten, vor Allem in der Malerei und anderen bildenden Künsten, sowie der Poesie. […]. Seit Mitte der 1890er Jahre betheiligte sie sich lebhaft an den Bestrebungen für eine Reform der weiblichen Erziehung und veröffentlichte im Verlage von Karl Meyer in Hannover die Broschüre Der freiwillige Dienst in der wirthschaftlichen Frauen-Hochschule“, ein Zweck, für den sie in Schrift, Rede und Agitation rege thätig war, und der gegenwärtig Aussicht hat, in Nieder-Ofleiden bei Marburg in Hessen seiner Verwirklichung näher geführt zu werden.“ (v. Kortzfleisch, S. 118)

Was in der Chronik noch als „Aussicht“ bezeichnet wird, entwickelte sich zu einem Schulprojekt, das fast ein Jahrhundert überdauerte: die ländlichen Schulen für Hauswirtschaft. 

Die Veranstaltung des Allgemeinen Deutschen Frauentages 1877 in Hannover, an der Ida von Kortzfleisch teilnahm, hatte sie nach eigenen Angaben „elektrisiert“. Als ein prägendes „Lebensereignis“ bezeichnete sie diesen Frauentag später: „Freilich fiel er [der Funke, O. W.-H.] bei mir nicht in ein Pulverfass, vielmehr unter die bewahrende Asche des Schweigens. Jahrelang hörte ich nichts derartiges.“  (Wörner-Heil, A F, S. 233) Besonders beeindruckt sei sie von der stellvertretenden Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins – Auguste Schmidt (1833-1902) – und deren Vortrag über die Stellung der Frau zur Kunst gewesen. 

„Männer und Frauen aller Richtungen sind darüber einig, daß es mit der Mädchen-Erziehung ‚anders’ werden müsse und daß die Frauenfrage eine ‚brennende’ sei, daß sie einen Theil der großen sozialen Frage bilde.“ – Ida von Kortzfleisch

Mit diesen Worten eröffnet Ida von Kortzfleisch im März 1894 ihren fünfteiligen Beitrag in der Berliner ‚Täglichen Rundschau‘ – allerdings aus Rücksicht vor ihrem Vater unter dem Pseudonym I. Pillau. Der Titel „Die allgemeine Dienstpflicht in der wirthschaftlichen Frauen-Hochschule“. Mit dieser Artikelserie mischte sie sich in eine bereits laufende Diskussion ein, die sie selbst mit einem Schlag in der Öffentlichkeit bekannt machen sollte und die ihrerseits kontroverse Reaktionen hervorrief. (vgl. Wörner-Heil, A F, S. 184)

Was mit einer spontanen Geldsammlung begann, entwickelte sich („Der kleine Schneeball musste rollen und eine Lawine werden“) mit Unterstützung einer großen Gruppe von Mitstreiterinnen adliger und bürgerlicher Herkunft zu einem der bedeutendsten privaten Schulträger im Bereich der Berufsbildung. (Wörner-Heil: A F, S. 47)

„Die  B e r u f s a r b e i t  soll auch bei den Frauen der große Anziehungspunkt des Leben sein.“ – Ida von Kortzfleisch

Der 175. Geburtstag Ida von Kortzfleisch ist für ME2BE Anlass, eine bedeutende Persönlichkeit der Frauenbewegung und Berufsbildung zu würdigen und wiederzuentdecken.

„Ihre pädagogische Vision verhieß“, so Ortrud Wörner-Heil, „daß aus ihren Schulen selbstbewusste, gut ausgebildete, fähige und tüchtige Frauen kommen sollten, sensibel für soziale Not und bereit, dieser abzuhelfen. Die Nicht-Pädagogin Ida von Kortzfleisch wurde zur Initiatorin von schulreformerischen Entwicklungen.“ (Wörner-Heil: F L, S. 14) Sie wollte weibliche Allgemeinbildung und Berufsbildung theoretisch und praxisbezogen miteinander verbinden. Mit ihrem Projekt habe sie zugleich an dem traditionellen Frauenbild gerüttelt, das Frauen von der Erwerbsarbeit prinzipiell ausschloss. 

„Das muß unser Ziel sein, andere so zu fördern, daß sie unserer nicht mehr bedürfen, dennoch gibt es einen schweren Augenblick, wenn dieses Kompliment hörbar oder fühlbar herantritt: Danke, wir brauchen dich nicht mehr.“  – Ida von Kortzfleisch

 

LITERATUR

Ortrud Wörner-Heil: Adelige Frauen als Pionierinnen der Berufsbildung, Kassel 2010

Ortrud Wörner-Heil: Frauenschulen auf dem Lande. Reifensteiner Verband (1897-1997), Kassel 1997

Anna von Heydekampf (Hg.): Ida von Kortzfleisch ihr Leben und ihr Werk, Gotha 1927

Elisabeth Heimpel-Michel: Frauenbewegung und Frauendienstpflicht, Gotha (o.J., ca. 1934)

Friedrich Paulsen: Pädagogik, Stuttgart  (1911, posthum, 6. u. 7. Aufl. 1921)

 

TEXT Erhard Mich

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