Kai-Olof Tiburtius, Schulleiter der Beruflichen Schule St. Pauli, ist an einer bundesweit einmaligen Verzahnung von akademischer und beruflicher Bildung beteiligt.
Wodurch zeichnet sich das Modell aus?
Das Besondere der studienintegrierenden Ausbildung ist der trilaterale Ansatz. Gelernt wird in der Praxis im Unternehmen, an einer Beruflichen Schule und an der Beruflichen Hochschule Hamburg (BHH). Das Ziel ist es, nach drei Jahren den Berufsabschluss und nach dem vierten Jahr den Bachelor zu erreichen. Man kann sich nach eineinhalb Jahren aber auch umentscheiden. Wer etwa merkt, dass ein Studium nicht das Richtige ist, kann sich allein auf den dualen Abschluss konzentrieren und steht nicht mit leeren Händen da. Das mindert das Risiko eines Abbruchs. Zu einem späteren Zeitpunkt der Karriere kann man dann immer noch zum Beispiel berufsbegleitend einen Bachelor draufsatteln. Mit den Entscheidungen über den Bildungsweg lassen wir niemanden allein. Ein individuelles Coaching gehört zum Konzept.
Welchen Part übernimmt Ihre Schule bei dem Modell?
Der betriebswirtschaftliche Bachelorstudiengang Bank- und Finanzwirtschaft der BHH ist mit der Ausbildung zur Bankkauffrau oder zum Bankkaufmann verknüpft. Bei uns werden seit 2021 unter anderem Themen wie Rechnungswesen und Kreditrecht vermittelt, an der BHH insbesondere akademische Kompetenzen und wissenschaftliche Methoden. Die Berufsschule übernimmt sechs Hochschulmodule, in die auch Lernfelder der Berufsausbildung auf höherem Anforderungsniveau integriert sind. Der Vorteil für die Studierenden: Sie müssen nichts doppelt lernen, was bei anderen Modellen leider nicht selten der Fall ist. Wer sich zuvor Gelerntes für ein Studium anerkennen lassen will, ist bislang oft vom Wohlwollen der Professoren oder Hochschulen abhängig. Selbst wenn Inhalte mehr oder weniger identisch sind. Bei der studienintegrierenden Ausbildung sind die schulischen Leistungen und das Curriculum der Hochschule dagegen verzahnt und aufeinander abgestimmt.
Hamburg hat für die studienintegrierende Ausbildung mit der BHH eigens eine Hochschule gegründet. Was ist der Hintergrund für diesen großen Aufwand?
Dazu möchte ich etwas ausholen. Das deutsche System der dualen Berufsausbildung wird international als vorbildlich gesehen. Und das zurecht. Denn es liefert eine breite Qualifikation, mit der ich zum Beispiel als Bankkaufmann problemlos von einer Bank zur einer anderen wechseln kann. In anderen Ländern ist eine berufliche Ausbildung hingegen oft rein akademisch verankert und damit relativ praxisfern oder spezifisch auf das jeweilige Unternehmen ausgerichtet, was oft zu Lasten der theoretischen Einbettung geht. Der Bereich Banking und Finance ist etwa im angloamerikanischen Raum recht klar dem hochschulischen Feld zugeordnet, in Deutschland findet die Ausbildung im Bankenbereich hingegen klassisch auf einem sehr hohen Niveau im Betrieb und in der Berufsschule statt. Eigentlich ist die duale Ausbildung damit ein super Einstieg in den Beruf, dennoch beobachten wir bei den jungen Menschen aktuell einen Trend in Richtung Akademisierung. Im Prinzip gibt es eine gewisse Konkurrenz zwischen dualer und hochschulischer Ausbildung. Dieser Situation trägt unser innovatives Modell Rechnung. Es bewahrt die Verknüpfung mit der Praxis im Unternehmen und die theoretische Vertiefung erfolgt sowohl in der Berufsschule als auch in der Hochschule. So verbinden wir gemeinsam das Beste aus allen drei Welten.
Das neue Modell ist weder für die Studierenden noch für die Unternehmen mit Studiengebühren verbunden und damit für beide Seiten attraktiv. Wird es zur Blaupause für andere Bundesländer?
In Nordrhein-Westfalen gibt es ein ähnliches Modell bereits und ich gehe davon aus, dass diese trilateralen Modelle mehr und mehr kommen werden. Es geht schließlich darum, die besten Köpfe zu gewinnen. Aber so schnell verändert sich eine Bildungslandschaft nicht. Und mit dem neuen Angebot werden bestehende akademischer und beruflicher Ausbildungswege ja auch nicht ersetzt, sondern um eine Möglichkeit bereichert. Viele Unternehmen haben bewährte Kooperationen und warten zunächst ab, wie sich der erste Jahrgang des neuen Modells schlägt. Erst im kommenden Jahr werden an der neuen Hochschule die ersten Absolventinnen und Absolventen den Bachelorabschluss erreichen. Für den Erfolg des Modells ist die Haltung der Betriebe dazu essenziell. Denn wie beim dualen Studium oder der klassischen dualen Ausbildung bewerben sich Interessierte direkt bei den Unternehmen um einen Platz. Die steigende Zahl der Kooperationspartner aus der Wirtschaft spricht jedenfalls für das trilaterale Modell.
Die Berufliche Schule St. Pauli ist sehr international ausgerichtet. Liegt das daran, dass Sie selbst im Ausland gelebt haben?
Hamburgs Wirtschaft ist sehr international geprägt und internationale Kontakte werden bei uns von vielen Kolleginnen und Kollegen gepflegt. Viele Projekte sind schon lange vor meiner Zeit entstanden. Bei uns lernen tatsächlich Menschen aller Kulturen und aus allen Himmelsrichtungen – es ist ein guter und bereichernder Mix und wir leben jeden Tag kulturelle Vielfalt. Eine Weltkarte in der Aula zeigt, woher unsere Schülerinnen und Schüler kommen. Fast alle Kontinente sind darauf vertreten und in der Mensa hört man oft Unterhaltungen auf Englisch. Gemeinsame Programme gibt es mit Partnern aus Dänemark, Irland und Spanien, künftig soll das Baltikum hinzukommen. Der Austausch mit Mrągowo im polnischen Masuren läuft bereits seit vielen Jahren. Wir bieten unseren Schülerinnen und Schülern außerdem die Möglichkeit für Praktika im Ausland. So können sie internationale Erfahrungen sammeln, andere Kulturen kennenlernen und sprachliche Fähigkeiten verbessern. Neuerdings sind wir direkt Erasmus-akkreditiert, dadurch wird der internationale Austausch noch einfacher. Einmalig in Hamburg ist auch unser bilinguales Angebot sowohl im Beruflichen Gymnasium. Betriebswirtschafts- sowie Volkswirtschaftslehre werden in Englisch unterrichtet. Beide Fächer können im Abitur gewählt werden.
Hamburg gilt traditionell als weltoffen. Ist es auch gelungen, die große Zahl an Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren ins Land gekommen sind, ins Schulsystem zu integrieren?
Durch Schülerinnen und Schüler, die im Zuge der jüngsten Konflikte zu uns gekommen sind, ist es bei uns noch internationaler geworden. Die Integration ist gut gelungen und es gibt viele tolle Bildungskarrieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine unserer ehemaligen Schülerinnen aus Syrien unterrichtet jetzt als Honorarkraft bei uns. Vor fünf Jahren konnte sie noch kein Wort Deutsch – dann hat sie ein Einser-Abitur gemacht, studiert Zahnmedizin und gibt ihre Erfahrungen an andere Schülerinnen und Schüler weiter. Viele der jungen Menschen aus der Ukraine, die durch das noch sowjetisch geprägte Schulsystem gegangen sind, haben sehr gute mathematische und naturwissenschaftliche Kenntnisse und sprechen Englisch. Das ist eine gute Basis für unsere Internationalen Vorbereitungsklassen. In diesen unterrichten wir schulpflichtige Schülerinnen und Schüler, die bereits in ihren Heimatländern einen höheren Schulabschluss angestrebt haben. Zunächst richten wir den Fokus auf den Erwerb von Deutschkenntnissen. Innerhalb von rund einem Jahr soll ein Niveau erreicht werden, das den Einstieg in die Sekundarstufe II oder eine berufliche Ausbildung ermöglicht.
Mit Work Shadowing und Job Dating wollen Sie Schülerinnen und Schüler Ihres Beruflichen Gymnasium früh an die Berufswelt heranführen. Warum braucht es solche Formate bei einer Schule mit der Fachrichtung Wirtschaft?
Es geht um Transparenz. Beim Job Dating sitzen unsere Schülerinnen und Schüler Auszubildenden verschiedener Berufe gegenüber. Jedes Date dauert drei Minuten, so dass man im Schnelldurchlauf viele unterschiedliche Ausbildungsberufe kennen lernt. Beim Work Shadowing begleitet man eine oder einen Azubi sowohl in der Schule als auch im Betrieb. So können die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel erleben, wie der Arbeitsalltag von Bankkaufleuten oder von Fachangestellten im rechtlichen Bereich aussieht. Nicht alle am Beruflichen Gymnasium wissen wirklich, was etwa Kaufleute für Versicherungen und Finanzanlagen tun, wie die Ausbildung abläuft und welche Karrierechancen es gibt. Mit unseren Formaten für Begegnungen auf Augenhöhe bieten wir echte Orientierung und tragen zu einer fundierten Berufswahl bei. Schülerinnen und Schüler erfahren so auch, dass sie sich mit dem Abitur nicht zwangsläufig auf ein Studium fokussieren müssen.
Optisch erinnern Ihre Räume eher an ein Unternehmen als an eine Schule. Zählt das ebenfalls zur Berufsvorbereitung?
Bei uns ist es tatsächlich eher kühl und nüchtern eingerichtet. Aber in Banken und Versicherungen ist das auch eher üblich. Vielleicht spiegelt dieser sachliche Stil ein Stück weit, dass wir hohe Anforderungen stellen. Er bereitet aber auf jeden Fall auf ein späteres Arbeitsleben vor. Das wird von Schülerinnen und Schüler übrigens sehr geschätzt. Eine häufige Rückmeldung lautet: Wir finden es toll, als Erwachsene behandelt zu werden.
Der Schulleiter:
Kai-Olof Tiburtius leitet seit 2018 die Berufliche Schule St. Pauli. Nach einer Ausbildung zum Schifffahrtskaufmann und dem Lehramtsstudium war er unter anderem im Stab der Hamburger Schulbehörde tätig.
Die Schule:
Auf der Website der BS11 prangt ein Totenkopf – das Emblem des FC St. Pauli. Das Stadion der Kiezkicker liegt direkt neben der Schule, die angehende Banker, Kaufleute im Versicherungsbereich sowie Angestellte in Rechtsberufen ausbildet. Das zugehörige Berufliche Gymnasium mit Fachrichtung Wirtschaft führt in drei Jahren zum Abitur. Einzigartig in Hamburg ist der bilinguale Unterricht. Die Fächer BWL und VWL können in Englisch belegt werden. Drei Angebote zur Berufsvorbereitung richten sich jeweils an schulpflichtige Jugendliche ohne Ausbildungsplatz, an jugendliche Migranten sowie an Menschen, die in ihren Heimatländern bereits einen höheren Bildungsabschluss angestrebt haben.
TEXT Peter Ringel
FOTO Berufliche Schule St. Pauli