Ausprobieren, erfahren, begreifen: Wer als Kunstlehrerin oder -lehrer im Unterricht überzeugen möchte, benötigt vor allem praktische Fähigkeiten. An der Europa Universität Flensburg (EUF) sorgen Prof. Käthe Wenzel und Werner Fütterer dafür, dass die angehenden Lehrkräfte zu überzeugenden Mentoren, kreativen Problemlösern und erprobten Handwerkern heranreifen. Ein Gespräch über Resilienz in der Kunst, Pastoren als Lehrer und die Vorurteile gegen die „Kartoffeldrucker“.
Frau Prof. Dr. Wenzel, Herr Fütterer, bitte erklären Sie uns zum Einstieg Ihre Aufgaben an der EUF.
Wenzel: Seit Sommer 2016 habe ich die Professur für ästhetische Praxis in ihren Kontexten inne. Ich leite also den praktischen Teil der Lehrerausbildung für das Fach Kunst und unterrichte gemeinsam mit Werner Fütterer vor allem die anwendungsorientierten Felder: Aktzeichnen, Modellieren, Street Art – also alles, was in den künstlerisch-handwerklichen Bereich der Ausbildung fällt.
Fütterer: Ich unterrichte in der Abteilung Kunst und visuelle Medien und habe mich auf außerschulische Lernorte sowie Druckgrafiken spezialisiert.
Sie sind also für Lehramtsstudierende aller Schularten zuständig?
Wenzel: Ja, das ist auch einer der großen Vorteile in unserer Ausbildung. Bei uns lernen die Studierenden für alle Schultypen in ersten sechs Semestern gemeinsam. Damit sind wir die einzige Hochschule, die die Flexibilität anbietet, innerhalb der ersten sechs Semester auch wechseln zu können. Das ist sehr sinnvoll, weil viele Studierende in den ersten zwei, drei Semestern mehr über sich selbst herausfinden, und was sie eigentlich wollen.
Fütterer: Meines Erachtens sollte die Gesamtpraxis-Ausbildung und ebenso die theoretische Ausbildung der Studierenden gemeinsam erfolgen. Es lässt sich gar nicht legitimieren, dass eine künftige Grundschullehrkraft in der Praxis nicht so umfassend ausgebildet sein sollte wie eine Lehrkraft, die in der Sekundarstufe unterrichten wird – gerade weil in der Grundschule elementare Fertigkeiten vermittelt werden müssen.
Was erwartet die Studierenden, wenn sie an der EUF ihr Studium aufnehmen?
Wenzel: Zeitgleich mit meiner Professur wurden zwei große neue Werkstätten eingerichtet. Wir haben jetzt einen Werkraum mit vielen neuen Gerätschaften und einen großen Zeichensaal. Außerdem verfügen wir über eine geräumige Druckwerkstatt und eine Dunkelkammer, die sehr beliebt ist. Und vor allem gibt es ein Studierenden-Atelier, also eine Werkstatt, in der die Studierenden frei arbeiten können.
Was macht das Kunststudium in Flensburg aus?
Wenzel: Wir sind ganz schön gut.
Fütterer: Man muss vielleicht unterscheiden: Wir sind keine Kunstakademie, die freie Künstler ausbildet, wir sind eine Universität. Als ich 2010 anfing, gab es zwei Zeichenräume, weil der Trend damals mehr in Richtung ästhetische Forschung ging. Nach und nach wurde auch auf den ausdrücklichen Wunsch der Studenten immer mehr in die Praxis investiert.
Welche Unterschiede gibt es noch?
Fütterer: Beispiel Muthesius Kunsthochschule: Da bewirbt man sich mit einer Mappe – auch die Lehramtsstudierenden. Die haben das Problem, dass von achthundert Bewerbern 20 genommen werden. Wenn sie dann da sind, nutzen alle gemeinsam die Werkstätten. Das kann sehr bereichernd sein, weil alle sehr kompetent ausgebildet werden. Die Pädagogikausbildung erfolgt dann aber an der Universität; die Studierenden sind also erstmal wieder raus aus dem künstlerischen Umfeld. Der Vorteil an der EUF: Wir haben einen kleinen Campus, eine direkte Verzahnung zwischen Praxis und Theorie und ein relativ kleines Kollegium. In den Akademien laufen die Kunstpädagogen mit, sind eher das zweite Rad am Wagen. Hier sind sie die Nummer eins.
Wenzel: An den Kunsthochschulen gibt es meist gut ausgestattete Werkstätten. Gleichzeitig treten aber Konflikte zwischen denjenigen auf, die freie Kunst studieren und den Pädagogikstudierenden, den sogenannten ‚Kartoffeldruckern‘. Bei uns gibt es mehr Kontext und bessere Vernetzungen. Die Studierenden haben ja alle mehrere Fächer und das fließt auch ein. Studierende mit Biologie als weiterem Fach setzen etwa biologische Themen künstlerisch um. Das ist sehr spannend, wir befruchten uns gegenseitig.
Wie viele Studierende beginnen jedes Jahr ihr Studium?
Wenzel: Rund 60 Studierende fangen jährlich neu an. Das ist eine sehr angenehme Größe. Wenn ich mir anschaue, dass Kolleginnen und Kollegen in der Germanistik Vorlesungen mit 120 Leuten halten, haben wir es sehr gut. Wir kennen die Studierenden alle beim Vornamen und bekommen auch mit, wenn etwas schief läuft. Das ist uns allen sehr wichtig.
Kann man eigentlich Kunstlehrer werden, ohne zeichnen zu können?
Fütterer: Das Zeichnerische ist eine Grundlagenbedingung bei uns, weil man durch das Zeichnen eigene Gefühle zum Ausdruck bringen, aber auch dokumentieren und Beobachtungen festhalten kann. Schon deswegen betrachte ich das Zeichnen als elementar.
Aber wird es bei der Mappenbewerbung zum Beispiel geprüft?
Fütterer: Wir praktizieren zwar die Mappenbewerbung, allerdings in abgewandelter Form. Die Bewerberinnen und Bewerber bringen zehn Arbeiten mit, sie sollen aber selbst entscheiden, was sie für eine Materialprobe halten. Oft reagieren sie zunächst völlig hilflos. Und dann haben wir ein wunderbares Gespräch, bei dem sie ins Denken kommen. Kein Vorwurf an Schule, die meisten kommen aus einem eng getakteten Rahmen, auch ein Bachelorstudium ist schulähnlich eng getaktet. Wenn sie hier sind, benötigen sie viel Orientierung. Und dann sagt einer: Wählen Sie selbst Ihre Materialprobe oder bauen Sie mal ein Eckenobjekt – mehr nicht. Das erleben einige als Albtraum. An dieses freie Arbeiten muss man peu a peu heranführen, um kreativen Geist und künstlerische Handwerklichkeit zu entwickeln.
Gab es für Sie früher im Kunstunterricht so etwas wie Schlüsselerlebnisse, Herr Fütterer?
Fütterer: Ja, ich hatte zwei Kunstlehrer, die waren für mich prägend. In meiner Zeit, wurde Kunst oft noch fachfremd unterrichtet. Ich hatte zum Beispiel einen Mathelehrer und einen Pastor. Der Mathelehrer verlangte, dass ich einen Baum zeichne, und bewertete dann, wie viele Abzweigungen an dem Baum zu sehen waren. Der Pastor hingegen drehte mit uns Filme und hat dadurch, dass wir auch die Drehbücher verfassen mussten, in mehrfacher Hinsicht meine Ausdrucksfähigkeit gestärkt. Das war für mich ein Elementarerlebnis! Was mich auch dazu geführt hat, in verschiedene Richtungen zu denken. So habe ich immer die Nähe zu den Musikern gesucht. Ich bin ausgebildeter Kunst- und Sportlehrer und mache in der Freizeit Musik. Daher plädiere ich auch jetzt dafür, während der Ausbildung möglichst auch in andere Richtungen zu blicken, nicht nur eng auf sein Fach.
Welche Bedeutung hat der Kunstunterricht für die Schulen heute?
Fütterer: Kunst ist ein elementarer Bereich der Persönlichkeitsbildung. Man kann sehr viel über das eigene Denken und Handeln erfahren. Ich sage den Eltern immer: Ihre Kinder sollen keine Künstler werden – aber sie lernen Fertigkeiten, die die Persönlichkeitsbildung fördern: handwerkliches Geschick, die Auseinandersetzung mit Material, Ideenreichtum, Fantasie. Wenn die Kinder später andere Berufe ergreifen, können sie dank der Kunst Probleme erfassen und vielleicht auf überraschende Weise lösen. Es gibt bestimmte Trends, die junge Leute bewegen, eine Kultur der sozialen Netzwerke, einen zunehmenden Kult der Selbstdarstellung, aber auch die Fridays-for-Future-Bewegung.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Kunstunterricht?
Fütterer: Kunst als Unterrichtsfach ist eigentlich breit aufgestellt, inklusive digitaler Medien. Wir haben gerade einen Medienspezialisten eingestellt. Es geht viel um die Verknüpfung von analogen und digitalen Werkstoffen. Ich stelle allerdings fest, die Studierenden genau wie Schülerinnen und Schüler wieder gerne analog arbeiten. Sie sind alle digital sehr fit, kommen dann aber über die Handwerklichkeit ins Nachdenken über den Inhalt. Es muss unser gesellschaftlicher Anspruch sein, zu reflektieren, was im Netz passiert. Wir dürfen den Kunstunterricht daher nicht auf den Einsatz digitaler Medien beschränken, sondern haben auch eine ethische Verantwortung für das, was wir mit Schülerinnen und Schülern machen. Sie sollten erkennen, dass sie sowohl Produzenten als auch Konsumenten sind, aber auch Kritiker sein können. Also darf die Freude an der künstlerischen Arbeit in der Schule nicht zu kurz kommen; als Lehrer muss ich aber immer versuchen, die Reflexionsebene einzubeziehen.
Was möchten Sie Ihren Studierenden unbedingt vermitteln?
Fütterer: Ich möchte, dass sie eine Haltung entwickeln, dass sie zu ihren Sachen stehen und das auch ihren Schülerinnen und Schülern so vermitteln. Denn als Lehrkraft in der Klasse kommt es darauf an, dass man möglichst authentisch ist. Ich kann ein Standing bekommen, wenn Schülerinnen und Schüler merken: der ist kompetent, kann praktisch was, der fordert aber auch und ist Schülern dennoch zugewandt.
Wenzel: Im besten Fall nehmen die Studierenden mit, dass sie ihre eigenen Fragestellungen entwickeln können und dass sie wissen, dass sie nicht nur ihre eigenen Fragen, sondern auch ihr eigenes Werkzeug entwickeln können. Sie wissen, dass man nicht alles kaufen muss, sondern für viele Techniken die Werkzeuge selbst bauen kann. Das war früher ganz normal, mit steigendem Wohlstand und vor allem jetzt mit der Digitalisierung ist es nicht mehr selbstverständlich. Die jungen Leute, die jetzt an die Hochschule kommen und mit digitalen Geräten aufgewachsen sind, gehen meist davon aus, dass diese Geräte vorentwickelte Lösungen enthalten, man müsse nur noch den richtigen Weg finden. Die reale, analoge Welt bietet das aber nicht. In der Analog-Welt geht unheimlich viel schief, und damit muss man mit umgehen können. Aber insbesondere wenn Sachen schiefgehen, lassen sich auch Dinge entdecken! Für ein Problem existieren möglicherweise unendlich viele Lösungen, die alle unterschiedlich gut passen. Wichtig ist, das zu erkennen, sich also nicht nur bewusst zu machen, sondern auch mit den Fingern zu begreifen. Man muss experimentieren und lernen, mit Frust umzugehen, wenn etwas nicht klappt. Man sollte unabhängig sein, so dass man sagen kann, die vorgefertigte Lösung ist zwar gut, aber ich möchte es eigentlich anders haben. Das ist Unabhängigkeit und zugleich künstlerische Handlungsfähigkeit. Ich möchte, dass die Studierenden genau das können, wenn sie gehen. Sie haben dann zum Beispiel gelernt, für die Papierherstellung ihre Siebe selber zu bauen und im Fotoseminar die Papiere selbst zu beschichten.
Wie aktuell kann Kunstunterricht sein?
Wenzel: Beim künstlerischen Arbeiten gerät man ständig an seine Grenzen und wenn es einem gelingt, diese Grenzen zu überwinden, hat man Erfolgserlebnisse und lernt sich selbst besser kennen. Deswegen glaube ich nicht, dass wir das Fach Ästhetik brauchen. Wir brauchen das Fach Kunst, in dem junge Menschen etwas über sich und auch etwas über Gestaltungsmöglichkeiten erfahren, in dem es eben nicht um die bloße Oberfläche geht, sondern um eine existentielle Erfahrung, die man macht, wenn man nicht weiterkommt: Was kann ich tun, wenn was nicht so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe. Derjenige sollte erkennen: Dass es an dieser Stelle nicht weitergeht, ist eine entscheidende Information. Zunächst mag das frustrierend sein, gleichzeitig ist es der Moment, wo Kreativität beginnt, der Moment, wo man keine Lösung mehr hat und eine neue erfinden muss. Und das ist genau das, was man das ganze Leben braucht!
Unsere Studierenden kommen von der Schule, wo es in der Regel klare Aufgaben gab mit klaren Lösungen. Im besten Fall lernen sie bei uns, dass es eben keineswegs immer klare Lösung gibt, sondern dass sie ihre eigenen Lösungen entwickeln können. Das ist zwar viel Arbeit, auch emotionale Arbeit, wenn sie die aber leisten, haben sie einen sehr komplexen Gewinn, der über eine gute Zeichnung zum Beispiel weit hinausgeht. Eine Person, die solche Erfahrungen gemacht hat, wird auch interessantere Zeichnungen anfertigen können. An einer Zeichnung lässt sich nämlich erkennen, ob jemand unentspannt war oder Angst beim Zeichnen hatte. Wenn es mir jedoch gelungen ist, Studierenden etwas beizubringen, wenn ihre Zeichnungen größer werden und es sozusagen anfängt zu fließen. Das ist zwar schwierig und gelingt nicht immer, aber, wenn es klappt, dann denke ich: Wunderbar!
Herr Fütterer, eines Ihrer Haupttätigkeitsfelder sind außerschulische Lernorte. Was machen Sie mit Ihren Studenten?
Fütterer: Wir machen Kunst in Kontexten, bewegen uns also an Schnittstellen. So versuchen wir, über den schulischen Rand hinauszuschauen. Dazu kooperieren wir beispielsweise mit der Sonderborg Kunstskole, mit der wir seit 2011 Projekte zusammen realisieren – deutsche und dänische Studierende gemeinsam. Das klappt hervorragend, jedes Jahr realisieren wir ein großes Druckprojekt mit einer Diesel-Dampfwalze und dem Flensburger Künstler Ruprecht Leiß. Oder eine Urnengrabgestaltung in Harrislee. In dem Projekt Andersräder haben sich die Studierenden kritisch mit der Windkraft auseinandergesetzt und in Galmsbüll in Nordfriesland eine Ausstellung kuratiert. Und wir wollen hin zu Galerien, aber auch zu Firmen. Unsere Absicht: Die Studierenden sollen über den Tellerrand blicken.
Frau Prof. Wenzel, wo sehen Sie Ihre Schwerpunkte in der Kunstpraxis?
Wenzel: Ich schaffe künstlerische Interventionen im Stadtraum und mache Streetart. Ich bin ja Künstlerin und als solche hier angestellt. Ich komme also nicht von der Schule wie der Kollege Fütterer, deswegen ist es sehr gut, dass wir beide da sind, weil wir uns so gegenseitig sehr gut ergänzen. Für Intervention im Stadtraum braucht man viele verschiedene Techniken. Da geht es etwa darum, dass man über Kontexte nachdenkt. Das simpelste Beispiel: Ein A3-Blatt erscheint im Innenraum viel größer als im Freien. Wenn man also in der Öffentlichkeit etwas Sichtbares installieren möchte, muss man die Dimensionen beachten.
Wir haben drei Begriffe, die zentral sind: künstlerische Handlungsfähigkeit, Haltung und Resilienz.
Was nehmen Ihre Studierenden am Ende mit?
Wenzel: Wir haben drei Begriffe, die für uns zentral sind: künstlerische Handlungsfähigkeit, Haltung und Resilienz. Künstlerische Handlungsfähigkeit heißt, die Studierenden sollen einen eigenen künstlerischen Ansatz entwickeln; das ist anspruchsvoll für eine so kurze Studienzeit. Und dazu gehört eine künstlerische Haltung, so dass man weiß, welche Dinge man wichtig findet, was die eigenen Fragen sind und an welchen Themen man sich festbeißt, die einem nicht nach zwei Monaten wieder egal sind. Und das dritte ist eben Resilienz, dass man mit dem arbeitet, was in den Schulen an Material vorhanden ist. Im besten Fall können sie also eigene Fragestellungen und ihr eigenes Werkzeug entwickeln. Für viele Techniken kann man die Werkzeuge selbst bauen, was mit steigendem Wohlstand und zunehmender Digitalisierung oft in Vergessenheit geraten ist. Diese Fähigkeiten sollten meine Studierenden besitzen, wenn sie die EUF verlassen.
Welche Schwerpunkte und Akzente setzen Sie, Frau Wenzel, in Ihrer eigenen Kunst?
Wenzel: Ich arbeite vor allem zu drei Bereichen, und mit sehr viel Intervention im Stadtraum. Ich baue so eine Art ‚Servicemaschinen‘, die emotionalen Bedürfnisse befriedigen, von denen uns nicht so bewusst ist, dass wir sie haben. Das sind Dinge, die man in der neoliberalen Gesellschaft offenbar so dringend braucht. ‚Bauchpinseln‘ zum Beispiel: Man muss doch ständig Kontaktarbeit leisten, ständig lächeln und gut drauf sein. Bauchpinseln hilft einem dabei. Das Scheitern dieser Maschine ist natürlich programmiert. Außerdem gestalte ich zum Beispiel Skulpturen aus Tierknochen zu einer Art Kostüm, um mit künstlerischen Mitteln unser Verhalten zum Artensterben zu problematisieren: Wie gehen wir damit um, dass rund
1 Million Arten vom Aussterben bedroht sind? Das ist eine Frage, die die Menschheit als Ganzes angeht.
Frau Professor Wenzel, Herr Fütterer, vielen Dank für das Gespräch
TEXT Lutz Timm
FOTOS Sebastian Weimar