Kita-Plätze, Fachkräftemangel in Altenheimen oder die Digitalisierung im Gesundheitswesen: Als Gesundheits- und Sozialminister in Schleswig-Holstein ist Heiner Garg (FDP) mit Themen befasst, die viele Menschen im Land bewegen. Im Jobtionary-Interview spricht der 55-jährige Polit-Profi über die Pflege als „Knochenjob“, den ewigen Kampf der Sozial-politik um Aufmerksamkeit und die künftige Bedeutung der Gesundheitsbranche.
Zum Einstieg eine persönliche Frage: Ihre Mutter war in der Pflege tätig, Sie selbst haben als Wirtschaftswissenschaftler Ihre Dissertation über das Thema Gesundheit und Pflege geschrieben. Wie sehr hat Sie die Arbeit Ihrer Mutter als Kind geprägt?
Relativ stark, weil meine Mutter wieder ins Berufsleben eingestiegen ist, als meine Schwester und ich aus dem Gröbsten raus waren. Sie hat in einem evangelischen Altenpflegeheim angefangen. Da sie Vollzeit arbeitete, veränderte das den Familienalltag erheblich. Vorher war sie zu jeder Zeit präsent – es war ganz klar: sobald wir aus der Schule kamen, stand das Essen auf dem Tisch. Wir mussten uns alle umgewöhnen, als sie im Schichtbetrieb und daher auch mal nachts arbeitete. Mein Vater war Schulleiter und daher nachmittags meist zu Hause. Ziemlich früh habe ich mitbekommen, was für ein unheimlicher Knochenjob die Pflege ist. An kleine Anekdoten erinnere ich mich: Zum Altenheim bin ich gern gegangen, weil dort eine große Voliere im Garten stand und ich die Vögel aus der Nähe betrachten konnte. Eines Tages jedoch wirkte meine Mutter, als sie nach Hause kam, stark verändert. Wir ließen sie in Ruhe, abends erklärte sie uns Kindern, dass sie bei einer Einäscherung gewesen sei. Die Erkenntnis, dass der Tod in der Altenpflege dazugehört, wurde meiner Schwester und mir schon früh bewusst.
Menschen in der Pflege übernehmen oft Verantwortung für ihre Mitmenschen und haben eine soziale Sicht auf die Welt. Haben sich diese Werte auch in Ihrer Erziehung niedergeschlagen?
Das bleibt gar nicht aus. Die Art und Weise, wie meine Mutter mit Menschen umgeht und auf sie zugeht, hat mich geprägt. Übrigens auch, dass man Berührungsängste abbauen sollte. Das finde ich wichtig. Das Interesse an der Arbeit meiner Mutter hat mich auch während meines VWL-Studiums begleitet. Meine allererste Hausarbeit im Fach Finanzwissenschaften schrieb ich zur Gesundheitsreform von Norbert Blüm, meine Diplomarbeit zu Blüms Arzneimittelfestbetragsregelung und meine Dissertation zu seiner Pflegereform. Ich durfte Norbert Blüm sogar mal persönlich kennenlernen, bei Maybrit Illner saßen wir zusammen in der Maske und sprachen natürlich: über die Pflegeversicherung.
Wie haben sich die Pflegeberufe seit Ihrer Kindheit und Ihren Amtszeiten als Minister verändert?
Der Blick auf Pflegepolitik hat sich komplett verändert. Ich hatte ja das Glück, im Anschluss ans Studium nach Schleswig-Holstein zu ziehen und sofort die „harte Realität“ kennenzulernen. Fast mein ganzes politisches Leben bin ich eher als Sozialromantiker bezeichnet worden, der sich um Randthemen kümmere – sogar als Minister. Pflegepolitik stand lange nicht im Fokus. Aber in den vergangenen drei bis fünf Jahren hat das Thema Pflege unglaublich an Bedeutung gewonnen. Es gehört in das Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Wie gehen wir als Gesellschaft mit denjenigen um, die Unterstützungsbedarf haben? Wie gehen wir mit denjenigen um, die das alles leisten? Also die Frage, was für ein gesellschaftliches Bild haben Menschen von Pflegenden.
Die Pflegeberufereform kann demnach ja nur ein erster Schritt sein, um den Beruf aufzuwerten.
Sie ist der Versuch, bestimmte Dinge zu regeln, die bislang für einen Teil der Pflege gar nicht geregelt waren, beispielsweise die Finanzierung der Ausbildung. Außerdem kann es nicht sein, dass junge Menschen, die sich für einen Pflegeberuf interessieren, als erstes erfahren: Ihr müsst erstmal euer Schulgeld zahlen. Schleswig-Holstein ist daher schon seit längerer Zeit den richtigen Weg gegangen, nämlich, die schulische Ausbildung schulgeldfrei zu stellen. Das war wichtig. Was in der Krankenpflege seit vielen Jahren selbstverständlich ist, könnte auch dem Ansehen der Altenpflege zugutekommen. Das war ein Grund, die sogenannte generalistische Ausbildung einzuführen, wodurch die drei Bereiche Krankenpflege, Altenpflege und Kinderkrankenpflege zu einer Ausbildung zusammengelegt wurden – auch in der Hoffnung, die Altenpflege attraktiver zu machen …
… so dass sich das Ansehen der Altenpflege an das Niveau der Krankenpflege angleicht?
Ja. Außerdem spricht fachlich viel dafür, dass Krankenpfleger in einer älterwerdenden Gesellschaft viel von der Altenpflege lernen können. Um einen Menschen mit Demenz muss man sich im Krankenhaus ganz anders kümmern als um einen jungen Menschen mit gebrochenem Fuß. Genauso sind in den vergangenen Jahren die medizinischen Anteile in der Altenpflegeausbildung enorm gestiegen.
Der nächste Schritt muss dann sein, den Pflegekräften mehr zuzutrauen als das heute noch der Fall ist. Schaut man etwa in die USA oder nach Kanada leistet die Pflege dort sehr viel, was hier in Deutschland immer noch Ärztinnen und Ärzten vorbehalten ist.
Sie wollen, dass die Tätigkeitsfelder zwischen Pflegenden und Ärzten neu aufgeteilt werden?
Ja. Wir müssen uns in Deutschland noch viel mehr darüber unterhalten, auch vor dem Hintergrund des steigenden Bedarfs. Wir müssen uns auch die Frage stellen: Welche Aufgaben können im Zweifel von der Pflege übernommen werden? Und das macht aus meiner Sicht die Pflege zu so einem unglaublich spannenden Berufsfeld für die Zukunft.
Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten, haben allen Grund, selbstbewusster aufzutreten.
Mit welchen Argumenten würden Sie jungen Menschen dazu raten, in die Pflege zu gehen?
Ich würde nie versuchen, junge Menschen irgendwie zu überreden, stattdessen würde ich sie einfach mal mitnehmen auf eine Tour durch Schleswig-Holsteinische Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, damit sie den Alltag in der Pflege kennenlernen. Der ist nämlich nicht nur problembehaftet. Es gibt unglaublich viele Menschen, die jeden Tag sehr leidenschaftlich gern ihren Beruf ausüben. Mir wäre es lieber, die jungen Menschen würden sich mit jungen Pflegern unterhalten als mit dem zuständigen Minister. Politik muss jedoch die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, auch in finanzieller Hinsicht.
Wo würden Sie da die Verantwortlichkeiten sehen? Auf Länder- oder Bundesebene?
Beide haben da Verantwortung. Die Länder können natürlich leichter fordern. Aber diese Forderungen müssen gut begründet sein. Ich habe den Bund in verschiedenen Initiativen aufgefordert, mehr Steuermittel zur Verfügung zu stellen. Für die Zukunft brauchen wir andere Finanzierungsmodelle, die insbesondere auf Jüngere abzielen. Aber ich finde, jemand, der sich für einen Pflegeberuf entscheidet, muss sich nicht mit der Finanzierungsform der Pflegeversicherung auseinandersetzen. Der sollte Lust auf diesen Beruf haben und Freude empfinden, mit den Menschen zu arbeiten.
Sie haben einmal gesagt: ‚Pflege kostet Geld, gute Pflege kostet viel Geld. Viele Pflegenden arbeiten zwar mit Leidenschaft, bekommen aber trotzdem ein überschaubares Gehalt.‘
Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten, haben allen Grund, selbstbewusster aufzutreten. Die Arbeitsbedingungen sind zwar durchaus ausbaufähig, aber die Pflegenden können unglaublich stolz ihre Tätigkeit sein. Das dankbare Lächeln eines alten Menschen bevor man in den Feierabend geht. Das ist schon etwas, was nicht nur romantisch klingt, sondern etwas Schönes ist. Pflegekräfte können hilfsbedürftigen Menschen in einer Situation, in der diese gar nicht mehr so viel Grund zum Lachen haben, glücklich machen.
Auch die gesamte Berufsgruppe der Therapieberufe wie Physiotherapeuten und Ergotherapeuten profitieren seit letztem Jahr von der Schulgeldfreiheit. Woher kam der Sinneswandel?
Wir versorgen beispielsweise mit ganz großem medizinischen Können Schlaganfallpatienten und tun alles dafür, dass diese Menschen nicht nur überleben, sondern hoffentlich mit einer hohen Lebensqualität weiter ihr Leben genießen können. Dazu benötige ich neben der pflegerischen und ärztlichen Kunst im akuten Fall Physiotherapeuten, aber auch Logopäden, eigentlich alle Therapieberufe. Und dann stelle ich mich vor eine Gruppe junger Menschen und sage: Ihr seid so wichtig für die Gesellschaft und dann knüpfe ich denen bis zu 400 Euro Schulgeld ab für die Eintrittskarte ins Berufsleben – wie widersinnig ist das denn? Irgendwann waren wir uns im Kabinett einig, dass wir uns nicht länger leisten können, jemanden zu verlieren. Dass in den Gesundheitsberufen kein Schulgeld mehr anfällt, ist ein unglaublich wichtiges politisches Signal, das ganz konkret hilft. Ich habe keine Ahnung, wie viele Legislaturperioden ich noch Minister sein darf, aber das ist etwas, worauf ich auch noch in 20 Jahren sicher stolz sein werde.
Welche Bedeutung hat die Gesundheitsbranche für das Land Schleswig-Holstein insgesamt?
Einfache Antwort: eine riesengroße! Fast 20 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten in dieser Branche, dieses Land lebt mehr als andere Länder davon, Gesundheitsland zu sein und das soll auch so bleiben.
Anmerkung: Die Redaktion weist darauf hin, dass das Interview vor der Corona-Pandemie geführt wurde und die aktuellen Entwicklungen daher nicht berücksichtigt.
TEXT Lutz Timm
FOTO Sebastian Weimar