Nicht nur deutsche Touristen erkunden gern ferne Länder. Auch unser Plastikmüll reist bisweilen um die Welt. Denn unsere Recyclingindustrie kann mit vielen Verpackungen nichts anfangen. Unser Autor ist hinterhergereist und hat Lösungen entdeckt, wie unser Müll zu Hause bleiben kann.
Was wird eigentlich aus meinen Chipstüten und Käseschalen, wenn Chips und Käse gegessen sind und die Verpackungen im Müll landen? Werden daraus wirklich neue Verpackungen? Oder zumindest Parkbänke? Oder nimmt das verbrauchte Plastik einen ganz anderen, einen viel weiteren Weg?
Dies ist die Geschichte des gelben Sacks auf Weltreise. Eine Reise zu Brachen am Bosporus, wo deutsche Joghurtbecher verbuddelt sind, auf den Balkan, wo unsere gelben Säcke verbrannt werden, nach Südostasien, wo Bauern statt Getreidesamen Plastik im Boden vergraben. Es ist die Geschichte von vielschichtigen Plastikverpackungen, die niemand haben will und die dauernd auf Durchreise sind – bis sie fernab unserer Hinterhöfe verscharrt oder im Ozean versenkt werden.
Dies ist auch meine Reise. Denn ich habe drei Jahre lang meinen Verpackungen nachgespürt. Entdeckt habe ich sie an Orten, an denen wir Deutschen eigentlich Urlaub machen.
Die Reise des gelben Sacks beginnt im Innenhof meines Wohnblocks. Meine Nachbarn und ich werfen hier durchschnittlich etwa zwei Kilo pro Woche in die Tonnen, mehr als 100 Kilo privater Verpackungsmüll waren es laut Umweltbundesamt im Jahr 2018 pro Kopf. Die Berliner Entsorgungsfirma „ALBA“ leert unsere gelben Tonnen; und mein gelber Sack fährt zusammen mit Tausenden anderen zu einem Umschlagplatz.
Wenige Kilometer vor Bremen steht die Sortieranlage der „Gesellschaft für Abfall und Recycling“, kurz GAR. Das Unternehmen sortiert pro Jahr etwa 50 Millionen gelbe Säcke, sagt Jens Blume, der Betriebsleiter. Gelbe Säcke, wie auch ich sie in die Recyclingtonne werfe. Unentwegt fahren Lastwagen auf den Hof, sie werden am Eingang gewogen und kippen ihren Inhalt auf einen großen gelben Haufen.
Eine Viertelstunde später liegen die gelben Säcke aufgebrochen auf einem Förderband. Große und kleine Teile werden getrennt, danach erkennen Lichtsensoren unterschiedliche Plastiksorten, die dann per Luftstoß auf verschiedene Bänder gepustet werden. Der Rest fällt am Ende des Bandes runter.
Dieses Rosinenpicken, wie das Sortieren in der Branche genannt wird, trennt wertvolle Sekundärrohstoffe wie Shampoo-Flaschen von wertlosem Mischplastik wie Chipstüten. Am Ende des Prozesses werden die verschiedenen Plastiksorten in Ballen gepresst, verdrahtet und auf dem Hof aufgetürmt.
Sortieranlagen wie die GAR sind höchste deutsche Ingenieurskunst.
„Aber wir polieren hier die Kommastellen der Abfallstatistik“, sagt Jens Blume.
Auch die GAR ändert nichts daran, dass Mischplastik ein Gros des gelben Sacks ausmacht. Und für diesen unliebsamen Inhalt meines gelben Sacks beginnt jetzt die große Irrfahrt.
Anfang 2019 erhalte ich Hinweise von der „Break Free From Plastik“-Bewegung, einem Zusammenschluss von Aktivisten, die vor allem in Asien gegen Verschmutzung durch Plastikmüll kämpfen: In der Nähe von Surabaya auf der indonesischen Insel Java sollen reihenweise Container aus den USA und Europa eintreffen, gefüllt mit Plastikmüll.
Zu der Zeit bin ich bereits in Indonesien, auf Sumatra, und mache einen ersten Abstecher auf eine Mega-Müllhalde: 30 Meter hohe und hunderte Meter lange Haufen, qualmend, stinkend und von Möwen umflogen. Es ist mein erster Versuch, deutschen Plastikabfall aufzuspüren – dieses Mal noch vergeblich.
Über Jahre hinweg war unliebsamer Plastikmüll nach China gereist, bis zu einem Drittel des globalen Aufkommens der Recyclingtonnen. Zeitweise waren es über 8 Millionen Tonnen pro Jahr. Doch im Juli 2017 kündigte die chinesische Regierung einen Importstopp an, um das eigene Müllmanagement zu verbessern, Anfang 2018 trat es in Kraft. Müllmakler und Plastikverwerter, oft chinesische Geschäftsleute, zogen weiter und bauten ihre Recyclinghöfe in nahegelegenen Ländern wie Vietnam, Thailand, Malaysia und Indonesien auf.
Prigi Arisandi, Gründer der indonesischen Umweltorganisation „Ecological Observation and Wetlands Conservation“, kurz „Ecoton“, erklärt mir damals, was auf Java los ist: Dort würden Papierfabriken Altpapier importieren, das sie für die Produktion von neuer Zellulose brauchen. Der Preis für den Import sinkt, wenn sie sich zwischen dem Altpapier wertlosen Plastikmüll als blinden Passagier mitliefern lassen. Davon profitieren auch deutsche, australische und amerikanische Müllunternehmer: Sie hätten so Entsorgungskosten für mehrere Tonnen von Verpackungen eingespart, berichtet Arisandi.
Die Papierfabriken in Java geben dann die Plastikverpackungen an Petani Plastik weiter, an „Plastikbauern“ in der Nachbarschaft. Ganze Dörfer in Indonesien haben von Reis auf Plastik umgestellt. „Sie fischen einen kleinen, noch recycelbaren Teil heraus und verkaufen ihn an Geschäftsleute. Den Rest verbrennen sie oder werfen ihn in die Flüsse“, sagt Arisandi. Seine Familie und er haben regelmäßig Plastikbauern besucht und auch Verpackungen aus Deutschland gefunden, erzählt er – einmal sogar den Personalausweis einer Frau aus Hamburg.
Ich finde keinen deutschen Müll auf der Müllhalde in Sumatra, und später suche ich auch in Malaysia vergebens. Später im Jahr 2019 schränken Malaysia und Indonesien dann die Einreise des gelben Sacks stark ein – als Folge der Umweltbelastung. Trotzdem: Noch heute trocknen indonesische Plastikbauern gelegentlich importierten Plastikmüll als geschredderte Fetzen in ihren Vorgärten und verkaufen ihn dann als Brennstoff an Tofufabriken. Zum Räuchern.
Im Laufe meiner Recherche gewinnt für mich eine Frage immer mehr an Bedeutung: Gibt es woanders vielleicht magische Fabriken, die unseren unbrauchbaren Müll in wertvolle Ressourcen verwandeln? Anfang 2020 stoße ich in einer Art Reiseforum für Plastiktouristen auf einen Mitstreiter, den diese Frage ebenfalls umtreibt.
Kumar kommt aus Indien und berät Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit. Für eine deutsche Firma soll er recyceltes Plastik einkaufen. Dieser Auftraggeber, dessen Name anonym bleiben soll, will es Kinderspielzeug beimischen. Kumars Problem: Die Qualität des Rezyklats reicht einfach nicht dafür aus, dass Kinder das Spielzeug später getrost in den Mund nehmen könnten – und die Firma bekommt keine Erlaubnis, es einzusetzen.
Allerdings werben Chemiekonzerne, die Plastik herstellen oder Firmen, die damit ihre Produkte verpacken, gerne mit „recyclingfähigen“ und „recycelten“ Verpackungen. Doch das seien oft leere Versprechen, sagt Kumar, auch wenn entsprechende Logos aufgedruckt sind. „Und ich hasse Betrug.“
Wir schmieden einen Plan: Gemeinsam mit dem Filmemacher Tom Costello bauen wir Anfang 2021 ein getarntes Müllreisebüro auf. Wir tun so, als wollten wir Mischplastik auf Reisen schicken und werben mit unserer Tarnfirma von Berlin aus Müllhändler im Ausland an.
Nachdem Asien die Müllpforten fast endgültig geschlossen hat, werben türkische Recycler im Frühjahr 2021 um unsere gelben Säcke. Unsere erste Station im Sommer ist also: die Türkei. Bevor wir losreisen, wollen wir per Telefon einen Platz in einem Container buchen für unsere gelben Säcke. Ein Müllmakler empfiehlt: „Versteck das unbrauchbare Plastik im hinteren Teil des Containers. Pack LDPE vorne an die Tür.“ Light-Density Poly-Ethylen, Weich-Polyethylen, ist ein sortenreiner und vergleichsweise hochwertiger Kunststoff.
Wir reisen nach Adana, einem Mülltourismus-Hotspot, und fahren durch Industriegebiete. In Lagerhallen sehen wir halb abgefackelte Ballenware. Anwohner sagen: EU-Müll.
Gemeinsam mit dem türkischen Meeresbiologen Sedat Gündogdu fahren wir später in die hügelige Steppe von Adana. Gündogdu sammelt Hinweise aus der Nachbarschaft zu illegalen Deponien. Auf einer sandigen Brache, etwa zwanzig Minuten vom nächsten Dorf entfernt, finden wir schließlich Verpackungen aus allen möglichen EU-Ländern im Boden versenkt. Und jetzt endlich, bin ich fündig geworden: Manche Packungen stammen aus Deutschland. Auf ihnen prangt ein kleines, rundes Symbol der freien Marktwirtschaft, das hier im Sand wie ein schlechter Witz wirkt: der Grüne Punkt.
Später trifft Kumar zwei Müllhändler. Sie prahlen, dass sie im Frühjahr 2021 zehntausende Tonnen Mischplastik importiert hätten. Doch zurzeit nehmen sie nichts:
„Das Material ist zu riskant“, sagt der Makler, der uns einige Wochen zuvor am Telefon den Schmuggel erklärt hatte.
Die Türkei hat den Import im Juli 2021 stark beschränkt.
Der letzte Halt unserer Odyssee liegt wieder in der EU: Bulgarien. Fast jede Fünfte Verpackung aus dem gelben Sack landete 2019 hier, wie eine Statistik der Stiftung Zentrale Stelle Verpackungsregister besagt. Offiziell gelten in Bulgarien alle Anlagen als überprüft und besiegelt, unsere Verpackungen werden dort verwertet und das Ganze sauber dokumentiert. Was inoffiziell passiert, erzählt uns ein italienischer Müllmakler. Wir treffen ihn unter dem Vorwand, dreckiges Mischplastik exportieren zu wollen. In einem Café eröffnet er uns sein Geschäftsmodell: Beamte des Zolls und der Umweltbehörden besticht er, weiß, wann Kontrollen stattfinden.
Später zeigt er uns seinen Betrieb. Nach einstündiger Autofahrt raus aus den Plattenbauten der bulgarischen Hauptstadt Sofia stehen wir mit dem Italiener auf seinem Hof. Textilien, Essensreste, Plastikverpackungen lagern hier. Alles Brauchbare, das er darin findet, recycelt er angeblich. Und tatsächlich, in einer kleinen Halle steht ein Extruder, der Verpackungen zu Granulat einschmelzen könnte – wenn er denn angeschlossen und betriebsfähig wäre. Maschinen zum Sortieren von Plastikverpackungen suchen wir hier vergebens.
Vielleicht auch, weil die Stationen des Müllkarussells teils so verwegen sind, haben deutsche Entsorger im vergangenen Jahr weniger Müll exportiert, die Recyclingindustrie arbeitet hierzulande daran, Kapazitäten auszubauen. Und ein Teil unseres Mülls reist tatsächlich als Rezyklat, als Rohstoff wieder in die Bundesrepublik ein, zum Beispiel aus Anlagen in Bulgarien. Aber wohl nicht aus dieser hier. Stattdessen läuft der Italiener über den Hof und erzählt, wie er den Plastikmüll in einen nahe gelegenen Zementofen schickt.
Die Zementindustrie hat die Chipstüten und Käseschalen als Brennstoffe entdeckt, die Rohöl ersetzen. Für die Zementwerke ein gutes Geschäft: Sie sparen nicht nur Ausgaben für klassische Brennstoffe, sie bekommen auch noch Geld von den Müllmaklern.
Vorerst also Endstation für meinen gelben Sack. Sein Inhalt wird allenfalls noch durch die bulgarische Nachbarschaft reisen, als giftige Flugasche. Zu uns nach Deutschland, zu uns Verbrauchern, die so gerne Chips und Käse essen und die grün bepunktete Packung guten Gewissens in die Recyclingtonne werfen, kommt er nicht wieder zurück. Höchstens vielleicht im Himmel – als Treibhausgas.
Extra: Der Fakten-Teil
Warum findet sich überhaupt der Inhalt deutscher gelber Tonnen im Ausland? Dafür muss man die Eigenschaften von Shampoo-Flaschen, Chipstüten oder Käseschalen kennen. Die chemischen Bausteine für Kunststoffe werden aus Rohöl oder Erdgas gewonnen. Chemiefirmen verbinden die Grundsubstanzen dann zu langkettigen Molekülen, zu verschiedenen Kunststoff-Polymeren – etwa Polyethylen oder Polypropylen. Werden diese erhitzt und geschmolzen, lassen sich daraus etwa Folien für Verpackungen ziehen oder Schalen pressen. Allerdings: Nur Plastikverpackungen, die sortenrein und aus einem einzigen Kunststoff aufgebaut sind, sind nach Gebrauch wirklich kreislauffähig und können recycelt werden.
Dieser Teil des gelben Sacks ist darum sehr willkommen auf Recyclinghöfen, wo etwa Shampoo-Flaschen gehäckselt, gewaschen und zu kleinen Plastikkügelchen eingeschmolzen werden. Dieses Rezyklat können Verpackungshersteller etwa dem Plastik für neue Shampoo-Flaschen beimischen.
Bei Chipsverpackungen und Käseschalen ist das schwieriger. Denn sie bestehen aus mehreren miteinander verklebten Folien verschiedener Kunststoffe. Auf den oberen lassen sich Logos und Farben drucken, die unteren geben Form und Halt, schützen den Inhalt vor Licht und Luft und machen ihn länger haltbar.
Doch sind die Schichten erstmal verbunden, lassen sie sich nicht trennen. Und somit nicht recyceln. Diese im Englischen als Multilayer bezeichneten Verpackungen werden aussortiert. Weil Recycling nicht möglich ist, muss ungefähr die Hälfte des gelben Sacks laut Zentraler Stelle Verpackungsregister energetisch verwertet werden – das heißt also: verbrannt.
Henning Wilts ist Abteilungsleiter Kreislaufwirtschaft beim Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Er macht sich dabei auch Gedanken zu den vielschichtigen Packungen.
„Man wird die Multilayer weiterhin brauchen“, sagt er. „Es gilt aber, bestimmte, besonders schwierige Kombinationen von Verpackungen zu verhindern. Und zu standardisieren, wo es nur geht“ – dabei müsse sich die Branche einig werden. Dass immer öfter eine Plastik-Schicht durch Papier ersetzt wird, hält Wilts für ein Irreführen der Konsument:innen: „Sieht nachhaltiger aus, als es ist.“
Der Trend geht außerdem zu biobasierten und biologisch abbaubaren Verpackungen – von algenbasierten Kunststoffen bis hin zu Folien aus Hanf. So lassen sich zwar fossile Rohstoffe ersetzen. Noch ist allerdings unklar, wie massentauglich sie sind: Ihr Preis ist höher, und ihre bessere Umweltbilanz im Vergleich zu fossilen Kunststoffen ist fraglich; auch sind sie meist nur in großen Kompostieranlagen biologisch abbaubar. Fatal wäre außerdem, wenn wir die „Bio“-Kunststoffe als Freifahrtsschein für noch mehr Verpackung verstehen würden. Denn die beste Verpackung ist und bleibt jene, die nie entstanden ist.
Datum der ErstVÖ: 24. März 2022, siehe: https://sciencenotes.de/die-irrfahrt-meiner-chipstuete/
Mehr zum Thema Sciene Notes: Die Science Notes sind ein Projekt, das am Institut für Rhetorik der Uni Tübingen entwickelt wurde.
TEXT Benedict Wermter
ILLUSTRATION Ibou Gueye