Michael Stich – Ein Gentleman und Tennisspieler
In der Boomzeit des deutschen Tennis vor 20 Jahren griff ganz Deutschland zu Tennisschläger und gelbem Filzball. Eltern schickten ihre Kinder in die überfüllten Tennisvereine und auf den dunkelroten Sandplätzen der Republik schwitzten und hechteten die Jugendliche um die Wette. Die großen Idole hießen damals Steffi Graf und Boris Becker. Sie dominierten die Schlagzeilen, hingen in Jugendzimmern an der Wand und gewannen Turniere in aller Herrn Länder. 1991 trat dann plötzlich ein Junge aus Elmshorn auf die Bühne des “weißen Sports” und gewann völlig überraschend Wimbledon, das älteste und prestigeträchtigste Tennisturnier der Welt. Und das ausgerechnet gegen Boris Becker, der den Tennisboom 1985 als jüngster Wimbeldonsieger aller Zeiten ausgelöst hatte.
Die sportliche Karriere von dem Jungen aus Elmshorn, Michael Stich, begann mit fünf Jahren beim Lawn-Tennis-Club Elmshorn (LTC). Michael Stich‘s Eltern spielten selbst Tennis und nahmen den kleinen Knirps mit auf den Tennisplatz. Michael war eigentlich ein braves Kind, aber das Tennisspielen weckte in ihm einen enormen Ehrgeiz. „Als Kind war ich das schrecklichste Tenniskind, das man sich vorstellen kann”, erzählt Michael Stich. „Ich habe meine Schläger durch die Gegend geworfen und nach einer Niederlage dem Gegner nicht die Hand gegeben. Ich wollte immer nur gewinnen, und zwar immer und gegen jeden.” Seinen Eltern und seinen Brüdern, Andreas und Thorsten, war Michael‘s Verhalten auf dem Tennisplatz ein bisschen unangenehm. Sie sahen aber auch, dass er außer-
ordentlich talentiert war.
Michael lernte schneller als seine Alterskameraden und bewegte sich schon damals leicht und ohne große Mühe über den Tennisplatz. Tennis war aber nicht sein einziges Talent. Gemeinsam mit seinen Brüdern kickte er erfolgreich beim SV Lieth, bis er sich eines Tages bei einem Spiel verletzte und sich für Tennis als „seinen Sport“ entschied. Er sollte es nicht bereuen. Michael Stich eilte von Sieg zu Sieg, gewann die Clubmeisterschaften in seinem Heimatclub in Serie, er wurde Bezirksmeister, Landesmeister und 1986 sogar Deutscher Jugendmeister.
1988 machte Michael Stich sein Abitur an der Bismarckschule in Elmshorn, dem ältesten Gymnasium der Stadt. Ein Jahr später beschloss er dann, es für zwei Jahre als Tennisprofi zu versuchen und zu gucken, ob er sich mit den besten Spielern messen kann.
“Tennis ist bei uns eine Volkssportart, ein schlafender Riese”
Er konnte. Anfang 1990 gewann er sein erstes Grand-Prix-Turnier und ein Jahr später stieß er nach seiner Halbfinalteilnahme bei den French Open in Paris in die Top Ten der Weltrangliste vor. Und dann kam Wimbledon, das „Mekka des Tennissports“, welches im Süden Londons auf Rasenplätzen ausgetragen wird. Die Plätze werden deshalb auch als „Heiliger Rasen“ bezeichnet. Auf seinem Weg bis in das Endspiel schaltete Michael Stich 1991 erst den frisch gebackenen French Open-Champion Jim Courier (6:3, 7:5, 6:2) und dann den Weltranglistenersten Stefan Edberg aus Schweden (4:6, 7:6, 7:6, 7:6) aus.
Im Finale traf er auf Boris Becker und siegte in glatt in drei Sätzen (6:4, 7:6, 6:4). Wimbledon war eigentlich Becker´s Turnier, sein „Wohnzimmer“. Er hatte hier drei Male gewonnen (1985, 1986, 1989) und konnte nicht glauben, wie dieser Norddeutsche auf der anderen Seite des Platzes jeden seiner Angriffe völlig abgezockt und ohne einen Hauch von Nervosität konterte. Becker flehte den Ball an: „Rüber, rüber!“. Aber es half nichts. Stich war einfach zu stark. Selbst der Schiedsrichter war von seiner Leistung so beeindruckt, dass er die Namen der Spieler durcheinanderbrachte und erstmal Boris Becker als Sieger verkündete.
Über seinen Erfolg sagte Stich wenig später: „Ich hatte nichts zu verlieren. Aber ich wusste, dass ich gewinnen kann.“ Technisch begnadet, effektiv und auf dem Tennisplatz immer cool. So war Michael Stich. Im Laufe seiner Karriere gewann er 18 Turniere im Einzel sowie zehn Doppeltitel. Sein spielerisches Potenzial war so groß, dass viele seiner Gegner ihm bescheinigten, an guten Tagen Tennis nahe der Perfektion zu zelebrieren. „Wenn alle ihr bestes Tennis spielen, ist Michael Stich der Beste“, meinte die Tennis-Legende Pete Sampras und auch Boris Becker, mit dem Michael Stich bei den Olympischen Spielen von Barcelona 1992 eine Goldmedaille im Doppelwettbewerb gewann, gab neidlos zu: „Michael hatte die bessere Technik. Gerade bei der Rückhand, dem Aufschlag – vielleicht hatte er sogar den besseren Volley. Ich hatte dafür den größeren Willen, ich war die Kampfmaschine. Michael war der Stratege und hat weniger trainiert. Er hat den Schläger genommen und einfach darauf los losgespielt.“
1994 gründete Stich eine nach ihm benannte gemeinnützige Stiftung, die sich für HIV-infizierte, HIV-betroffene und an AIDS erkrankte Kinder einsetzt. Für seine ehrenamtliche Arbeit wurde er dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit Anfang 2009 ist er Direktor des Tennisturniers am Hamburger Rothenbaum, den „bet-at-home Open“.
Text Slaven Marinovic
Fotos Carolin Thiersch, Michael Stich