Ich grüße Sie, Herr Dr. Ernst, und muss gleich zu Anfang sagen, ich staune. Beeindruckend ist, was die Stiftung Kinder forschen vorweisen kann, wenn sie im kommenden Jahr, soweit ich weiß, ihr 20-jähriges Jubiläum feiert. Die Stiftung ist als Fortbildungsanbieter für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik und Nachhaltigkeit tätig.
Erhard Mich, ME2BE: Rund 38.000 Kitas und Grundschulen sind Teil Ihrer Initiative. Fast 100.000 Personen waren Teilnehmer Ihrer Fortbildungsveranstaltungen. Haben Sie über diese beachtliche Bilanz auch gestaunt, als Sie vor gut einem Jahr den Vorstandsvorsitz übernahmen?
Dr. Ernst: Vielen Dank. Hallo, Herr Mich. Freut mich, dass wir uns unterhalten können. Vielen Dank für die Einladung. Und vor allem auch vielen Dank für die freundlichen Worte. Tatsächlich, ich habe da auch sehr gestaunt. Die Stiftung Kinder forschen ist durchaus präsent. Und in der Art, wie sie präsent ist, kann man auch annehmen, dass sie eine gewisse Größe und Reichweite hat. Genau erschlossen hatte sich mir das vorher aber auch nicht. Und insofern: tatsächlich sehr beeindruckende Zahlen.
Vielleicht ist das Staunen ja überhaupt die Quelle und die Antriebskraft für menschliches Leben und auch pädagogisches Handeln.
Unbedingt. Also wir sind, glaube ich, sehr bekannt für MINT-Bildung. MINT-Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Da kommt man dann schnell zu den Fächern M, I, N, T. Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik. Aber für uns genauso wichtig ist die Pädagogik. Also die Art und Weise, wie wir naturwissenschaftliche Bildung vermitteln beziehungsweise ermöglichen wollen. Und das ist eben das entdeckende und forschende Lernen. Also entdeckend im Sinne von wirklich ausprobieren, neugierig sein, neugierig bleiben. Und forschend auch im Sinne von logischem Denken. Was könnte denn jetzt hier eine Antwort sein? Was habe ich da für Ideen? Wie kann ich herausfinden, ob die Ideen stimmen? Also wirklich auch eine Schule des Denkens am Ende des Tages in Verbindung mit Neugier und Freude. Das sind aus unserer Sicht die besten Lern-Settings.
Herr Ernst, Sie sind promovierter Jurist, wenn ich Sie kurz vorstellen darf, waren als Prokurist tätig, haben als Projektleiter bei der Bertelsmann-Stiftung gearbeitet, leiteten eine gemeinnützige Organisation, die geflüchtete Menschen im Bildungsbereich unterstützte und im März 2024 übernahmen Sie den Vorstandsvorsitz der Stiftung Kinder forschen. Was motiviert Sie ganz persönlich, Ihre Tätigkeit voll auf frühpädagogische Einrichtungen zu fokussieren?
Es ist wahrscheinlich nicht überraschend festzuhalten, je länger man sich mit Bildung beschäftigt, desto klarer wird einem, wo sozusagen der Hebel auch am größten ist. In meiner beruflichen Biografie im Bildungsbereich standen Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit immer im Vordergrund. Dementsprechend, wenn man weiter hinten unterwegs ist, also biografisch, wie es ja auch oft sein muss, sind dann die Möglichkeiten auch begrenzt. Wenn man dann mal die Chance bekommt, wie ich jetzt in dieser neuen Rolle, weiter vorne anzusetzen, und das mit Bildung für eine nachhaltige Entwicklung und mit dieser pädagogischen Haltung, die ich eben beschrieben habe, dann ist das schon sehr attraktiv, nicht zuletzt, weil es sehr wirksam ist.
Gibt es auch einen biografischen Hintergrund? Sie haben von der Realschule kommend den Weg über das Gymnasium gewählt zum Abitur. War das da auch mit ein Punkt, der da eine Rolle gespielt hat, die persönlichen Erfahrungen, Schulerfahrungen?
Also ja und nein. Zuallererst habe ich da auch in meiner Jugend vergleichsweise viel Glück gehabt. Klar, die Phase, in der ich dann auch erst mal auf einer Realschule war, genau, das hätte sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln können, die vielleicht auch alle gut gewesen wären. Und dann war der Weitergang zur allgemeinbildenden Oberstufe, zum Abitur, zum Jurastudium, das war jetzt sozusagen nicht ganz natürlich. Und insofern hat sich das bei mir ganz gut gefügt. Aber das ist ja nicht bei jedermann so. Und was mir da wichtig ist: Am Ende hängt es davon ab, dass man sich etwas zutraut. Man kann nur motiviert sein und dann auch nur das leisten, was man glaubt, leisten zu können. Insofern kommt es darauf an, dass man eben auch die Persönlichkeit entwickelt oder das dynamische Fähigkeitsselbstbild entwickelt. Das ist einem erlaubt, sich auch größere Ziele zu setzen und langfristig Resilienz zu verfolgen. Und aus meiner Sicht ist das sehr wichtig für jedes Kind, jeden Menschen, nicht zuletzt in den aktuellen Bedingungen und mit dem Erfordernis von lebenslangem Lernen. Und wenn wir auf Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit gucken, ist das eben absolut zentral, diese Selbstwirksamkeitserfahrung und Selbstwirksamkeitserwartung zu fördern. Und da ist natürlich dann das entdeckend forschende Lernen in der frühkindlichen Bildung ein Hebel, der tatsächlich auch mit meiner Biografie durchaus mitschwingt.
Sich Ziele zu setzen, ist schon sehr wichtig, sagten Sie gerade. Und welche Ziele setzt sich die Stiftung? Welche Tätigkeitsbereiche sind da wichtig? Vielleicht können Sie uns etwas ausführlicher erläutern, wie Ihr Netzwerk funktioniert.
Sie haben das ja schon in Teilen und sehr gut beschrieben, seit 19 Jahren setzen wir uns ein für die gute, frühe MINT-Bildung. Wir haben das dann etwas später zugespitzt auf MINT-Bildung für eine nachhaltige Entwicklung aus den erkennbaren, bekannten Bedarfen heraus. Und wir haben eben, um das zu tun, ein deutschlandweites Netzwerk aufgebaut. Wir haben da 200 Netzwerkpartner. Wir freuen uns auch, Ihr Haus begrüßen zu dürfen, auch in Verbindung mit der Digibo. Das sind jetzt nochmal sehr wertvolle Ergänzungen für unsere Arbeit in Schleswig-Holstein. Und mit Partnern wie Ihnen und eben 198, also ungefähr 200 Partnern in ganz Deutschland, können wir eben Fortbildungen anbieten, Fortbildungen für Pädagoginnen und Pädagogen. So ungefähr sieht das System aus. Wir entwickeln von der Stiftung hier die Inhalte, also letztlich die MINT-Bildungsinhalte, die Produkte. Wir qualifizieren dann auch die Trainerinnen und Trainer deutschlandweit. Und die Netzwerkpartner können – mit den Trainerinnen und Trainern vor Ort – Erzieherinnen und andere Fachkräfte, auch Grundschullehrkräfte, fortbilden auf dem Gebiet der frühen MINT-Bildung. Einmal analog sozusagen in Seminaren, auch in Hausschulungen, aber auch ergänzt um digitale Formate und sozusagen hybride Lernsettings.
Um das vielleicht noch etwas besser zu verstehen, sind das dann Fachkräfte, die bereits in diesen Institutionen arbeiten oder sind das Trainer, die dann von außen kommen, die die Stiftung in Kitas und Schulen für diese Projekte dann auch bereitstellt und die dort auch die Fortbildungen durchführen oder auch die Praxis?
Die Trainerinnen, die wir ausbilden, kommen sozusagen von außen. Das sind dann die Fortbildner für die pädagogischen Fachkräfte, die schon in der Kita, im Hort, in der Grundschule arbeiten.
Wie ist die Resonanz der Kinder? Haben Sie da Erfahrungen, wie das funktioniert in den verschiedenen Kitas und Grundschulen mit diesen Angeboten?
Die Resonanz der Fachkräfte, das sind ja die, mit denen wir quasi am meisten arbeiten, die ist erstmal sehr gut und nach allem, was wir hören, auch befragen, erheben können und vor allem auch selber sehen. Wir machen natürlich sehr viele Einrichtungsbesuche, fragen die Kita-Leitung und die Erzieher selbst auch, gucken uns an, wie sie die Produkte nutzen oder wenn wir dann eben auch neue Produkte entwickeln – wir haben ja auch Lernmaterialien als Ergänzung zu den Fortbildungen – dann sind wir natürlich auch co-konstruktiv unterwegs, haben dort User, Nutzer, mit denen wir diese Dinge entwickeln und testen und weiterentwickeln. Insofern sind wir uns recht sicher, dass wir da schon anbieten können, was auch wirklich in der Praxis funktioniert und gebraucht wird.
Können Sie vielleicht noch ein paar konkrete Beispiele beschreiben aus den verschiedenen MINT-Bereichen, die Sie zum Beispiel in den Kitas oder Grundschulen dort anbieten und die dort unterrichtet werden, co-konstruktiv?
Der Klassiker, immer gern genommen, ist Wasser. Man kann fantastische Dinge mit Wasser machen. Wenn ich ein Kind frage, ob eine Büroklammer schwimmt. Wahrscheinlich sagt es nein. So, und dann kann man ausprobieren, also erstmal entdecken, so ist das oder nicht und vielleicht gelingt es ja doch, dass die Büroklammer schwimmt, und dann kann man ja auch erforschen, warum schwimmt sie, unter welchen Bedingungen schwimmt sie, wann geht sie vielleicht unter und so kommt man auf das Thema Oberflächenspannung. Also insofern, Wasser ist immer ein sehr dankbares Thema. Man kann aber auch sehr gut zum Beispiel mit Sand arbeiten, Sand und Magnetismus, da sind Dinge denkbar. Luft natürlich, unterschiedlichste Ansätze, um zu zeigen, der Raum ist nicht leer, sondern im Raum ist Luft. Versuchen Sie mal, ein kleines gefaltetes Papier in eine Flasche zu blasen, das wird Ihnen nicht gelingen. Sie blasen das Papier von links nach rechts, aber es fliegt Ihnen entgegen und nicht in die Flasche rein. Und dann stellt man halt fest, da ist eben schon was in der Flasche, das kann da nicht einfach so hinein. Also da gibt es tausend Möglichkeiten, sehr spielerischer Art, die dann aber die Kinder und manchmal auch die Erwachsenen zum Nachdenken anregen.
Bemerkenswert fand ich, ich habe in Ihrem letzten Newsletter gelesen, dass auch Philosophieren mit Kindern angeboten wird und das ist ja nochmal etwas, was vielleicht rausfällt, aber eigentlich ja doch zusammengehört. In welchem Zusammenhang wird ein solches Webinar, ist es glaube ich, das Sie da anbieten, in welchem Zusammenhang steht das mit Ihrer Schwerpunktarbeit?
Das ist uns sehr wichtig, es ist sogar mehrteilig. Also es ist ein relativ umfangreiches Angebot, und es ist wirklich auch ein aus meiner Sicht quasi notwendiger Bestandteil dessen, was wir tun. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass wir ja auch ganz bewusst sagen, MINT-Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Also möchten wir den Kindern und später Jugendlichen einerseits das Mindset auch geben, sich mit naturwissenschaftlichen Fragen selbstgesteuert, selbstbewusst zu befassen. Aber das soll natürlich dann auch zu einem verantwortungsvollen, verantwortungsbewussten Handeln führen. Also es geht sehr stark natürlich dann auch darum, die Folgen des Handelns zu reflektieren. Man kann ja Technologie heutzutage auch nicht denken, ohne über Nachhaltigkeitsfragen zu sprechen.
Und an der Stelle ist das aus meiner Sicht auch am Ende eine philosophische Frage. Wenn man frei ist, Dinge zu tun, was sollte man dann tun? Wie sollte man darüber nachdenken? Also auch letztlich Verhalten, Konsum, was macht Konsum? Was macht Technologie mit unserer Umwelt? Welcher Teil sind wir eigentlich in der Umwelt? Welche Beziehungen gibt es zwischen uns als Menschen, der Natur und der Technik? Und welche Verantwortung haben wir auch als Menschen? Das sind Fragestellungen, die sind auch Kindern schon sehr früh sehr eingängig, wenn man sie richtig formuliert. Und das heißt, so habe ich das verstanden, Wissen und Haltung gehören eigentlich da auch in Ihrem Konzept zusammen.
Ja, von der pädagogischen Seite her sowieso. Bei den Kindern und bei den Fachkräften. Aber es geht eben auch darum, wenn wir bestimmte Lernziele erreichen, warum eigentlich und wofür? Und insofern ist die nachhaltige Entwicklung, dazu könnte man ja auch noch sehr viel sagen, aber die nachhaltige Entwicklung ist eben für uns ein sehr wertvoller, wichtiger Orientierungsrahmen.
Ja, das können Sie gern auch nochmal erweitern, wenn Sie möchten. Also das Thema Nachhaltigkeit spielt ja eine Rolle, kann ich gleich verbinden mit meiner nächsten Frage, die in die wissenschaftliche Begleitung ging. Und da gibt es ja auch eine Publikation, die das zum Schwerpunkt macht, dieses Thema der Nachhaltigkeit. Welche Rolle und welchen Stellenwert hat diese wissenschaftliche Begleitung, die ja nicht nur empirisch, sondern auch konzeptionell angelegt ist, wenn ich das richtig verstanden habe?
Ja, die wissenschaftliche Begleitung ist total zentral für uns. Also es geht ja, in der MINT-Bildung geht es natürlich um am Ende auch wissenschaftliches oder logisches, forschendes Arbeiten. Man darf auch mal per Zufall was entdecken und Spaß machen soll es auch, aber es geht eben auch darum, bestimmte Abläufe, logische Abläufe kennenzulernen, auch einzuüben, also sich Fragen zu stellen, Hypothesen zu bilden. Die muss man ja auch nicht Hypothesen nennen, aber man hat quasi mögliche Antwortoptionen . Dann kann man sich überlegen, wie kann man die überprüfen und vergleichen kann. Also insofern, das Forschen ist bei uns tatsächlich auch Teil der Pädagogik einerseits und andererseits auch selber Bildungsstil. Und natürlich müssen wir das dann auch selber als Haltung an den Tag legen. Natürlich müssen wir auch selber evidenzbasiert unsere Produkte weiterentwickeln. Und natürlich müssen wir dann auch kritisch fragen, Evaluation stellen und wollen das auch. Und deshalb haben wir eben eine sehr starke Begleitforschung. Wir haben einen sehr starken wissenschaftlichen Beirat, mit dem wir in einem sehr intensiven Austausch sind. Insofern ist das auch ein sehr guter Theorie-Praxistransfer, der hier stattfindet.
Sie arbeiten in Ihren Fortbildungsveranstaltungen mit dem Konzept der Q-Konstruktion. Sie haben das ja vorhin schon erwähnt. Was hat man sich unter diesem pädagogischen Ansatz konkret vorzustellen?
Also ich glaube, es ist schnell deutlich, dass man beim entdeckenden und forschenden Lernen sehr viel Eigenverantwortung auch bei dem Kind hat. Es soll eben auch selber etwas ausprobieren. Der Erzieher, die Lehrkraft soll nicht die Antworten geben, sondern eigentlich eher in einem Dialog zu weiteren Fragen und dem Entdecken, Suchen, Forschen motivieren. Und das Kind soll selber eben auch seine Erfahrungen machen dürfen, seine Irrtümer machen und daraus lernen dürfen und auch seine eigene Resilienz stärken. All diese Dinge sind in dem Entdecken und Forschen angelegt. Aber wir sind da sehr konsequent und sagen deshalb auch ganz bewusst Q-Konstruktiv. Das heißt, der Lernprozess insgesamt soll eben auch nicht nur von einer Erzieherin, einem Erzieher oder einer Lehrkraft gestaltet werden, sondern durchaus auch in der Begegnung mit den Kindern und die Kinder sollen eben auch Co-Autorin des Lernprozesses sein. Da geht es tatsächlich auch um Q-Konstruktive Prozesse, was eine bestimmte Haltung erfordert, auch auf Seiten der Fachkräfte, und das ist Teil unseres Fortbildungskonzeptes, das zu vermitteln. Aber das Spannungsverhältnis bleibt.
Welche Rolle spielt da das Zeigen? Denn der Wissensvorsprung, der Erfahrungsvorsprung der Erwachsenen, nicht nur, weil sie Fachkräfte sind, bildet ja auch ein wesentliches Element der pädagogischen Beziehung.
Genau. Also Kinder, für mich sollen sie vor allem auch motiviert sein. Daran hängt am Ende des Tages eben auch in dem Moment die Konzentration, die Leistungsfähigkeit, auch das Lernergebnis. Und dazu gehört, dass dann, es ist ja eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, Ko-Konstruktion bedeutet ja nicht, man überlässt es dem Kind, sondern Ko-Konstruktion bedeutet, da sehr genau hinzugucken, sehr genau zu formulieren. Also die Art und Weise, wie ich mit dem Kind oder den Kindern spreche, wie ich eine Frage stelle, wie ich vielleicht auch mal hier und dort eine Aufgabenstellung formuliere, so situativ richtig, das ist eben sehr entscheidend und sehr anspruchsvoll. Und das ist dann die Aufgabe für die Fachkraft, genau den richtigen Ton zu treffen und genau die richtige Formulierung. Ja, am Anfang war das Wort oder steht das Wort. Das gilt natürlich auch für das Forschen mit Kindern.
Nicht allein Studien belegen, sondern auch Fachkräfte vor Ort beklagen, dass in Kitas und Grundschulen Sprach- und Aufmerksamkeit sowie Verhaltensprobleme enorm zugenommen hätten. Beobachten Sie das bei Ihrer Arbeit auch und beeinträchtigt das vielleicht auch Ihre Arbeit, weil, so sagten Sie ja eben, die sprachliche Vermittlung, da auch eine ganz wichtige Rolle spielt beim Forschenden Lernen.
Ja, natürlich. Also was Sie sagen, stimmt ja. Das ist ja auch empirisch mehr als belegt. Es gibt ja auch den Begriff der Superdiversität, der eben auch nicht nur Menschen, Kinder mit Zuwanderungsgeschichte meint, sondern auch die Vielfalt der Gesellschaft, die ja ganz allgemein zunimmt, aus unterschiedlichen Gründen. Also diese Superdiversität ist da. Das Thema Kultur und Sprache ist ein wichtiger Aspekt und natürlich stellt sich die Frage, was bedeutet das für die Pädagogik in der Kita? Wie organisiert man dann auch Lerngruppen? Die Fragen gibt es dann in der Schule, aber eben auch schon in der Kita und wir würden eben sehr selbstbewusst sagen, dass das entdeckende und forschende Lernen sehr gut geeignet ist, um mit Diversität umzugehen, um eben auch nicht zuletzt Sprachförderung zu betreiben, denn das Entdecken und Forschen ist halt in der Regel vergleichsweise spielerisch, interaktiv und findet in Gruppen statt. Ein Beispiel, wenn man kartografiert, was im Kitagarten oder Grundschulgarten so kreucht und fleucht, dann hat vielleicht der eine ein iPad in der Hand mit einer App, der andere sucht Tiere oder Pflanzen, der Dritte hat dann eine Lupe, der Vierte hat einen Beobachtungsbogen und so kann man das fortsetzen und die bilden dann ein Team und gemeinsam werden sie der Aufgabe gerecht und dabei reden die, haben Spaß und reden dabei und lernen sogar noch. Das heißt, die MINT-Bildung, wie wir sie praktizieren, ist gleichzeitig auch eine gute Sprachförderung, und vor dem Hintergrund müssen wir tatsächlich sehen, wie wir diesen durchaus wachsenden und veränderten Anforderungen gerecht werden, aber es gibt Antworten. Und es gibt einen im Team, der die Worte bildet.
Ja, aber wie meinen Sie das?
Naja, in dem Sinne, die forschenden Ergebnisse, die sollten ja auch beim Namen genannt werden, das war der Hintergedanke. Und auch die Begrifflichkeit sozusagen zu bekommen, das ist ja dann tatsächlich nochmal ein Schritt, der sich durch das Gespräch vielleicht nicht automatisch ergibt. Genau. Das wird aber natürlich auch vorbereitet. Also der Prozess, dann auch Dinge zu dokumentieren, da gab es vielleicht dann auch eine Vorbereitungsphase. Man hat sich vielleicht vorher darauf geeinigt, es geht um Käfer und dann hat man vielleicht auch schon fünf Käferarten angeguckt. Oder am Ende, nach dieser Phase, gibt es dann auch nochmal eine Nachbesprechung, wo es dann vielleicht auch Materialien gibt, die einem dann dabei helfen, wo dann entweder als Gruppe oder einzeln oder eben auch in einer richtigen Abfolge, die tatsächlich auch die Begriffsbildung und dann auch das Lernen, was heißt eigentlich wie et cetera., nochmal unterstützt wird. Also am Ende ist es ja auch nicht nur das eine oder das andere, sondern am Ende geht es ja um die richtige Reihenfolge unterschiedlicher Ansätze. Das sind, denke ich, auch so die Erkenntnisse. Ich habe das in der wissenschaftlichen Untersuchung gelesen, dass die lernpsychologischen Voraussetzungen durchaus dafür sprechen, dass es möglich ist, Kinder praktisch auch informatische Konzepte lernen zu lassen. Dazu braucht es übrigens auch gar keine Geräte, noch nicht mal WLAN. Also einen Algorithmus zu programmieren, das kann man sich auch so vorstellen, dass man bestimmte Handlungen dokumentiert und dann eine Person, ein Kind auf einem Feld, einem Schachbrettmuster, einfach auch diese Anweisungen ausführt. Und dann ist vielleicht die Aufgabe, an einem Hindernis vorbeizukommen und die anderen Kinder schreiben den Code beispielsweise, müssen also auch antizipieren, links, rechts, geradeaus, und dann kann eben zum Beispiel das Kind auf dem Schachbrett diesen Weg gehen. Und dann sieht man eben auch, was Software am Ende des Tages ist, wie sie auch zustande kommt über Versuch und Irrtum und wie man sie dann optimiert und wie dann bestimmte Objekte von Software gesteuert werden. Also da gibt es auch altersgerechte Ansätze.
Welchen Stellenwert hat der Einsatz digitaler Medien in Ihrer Arbeit der Stiftung Kinder forschen?
Also das Potenzial ist riesengroß und auch bei uns wächst der Anteil, wächst die Bedeutung. Uns ist aber sehr wichtig, deutlich zu machen, das Ganze muss primär pädagogisch geleitet sein. Also was sind die Bedarfe der Kinder in Relation, also auf der Basis ihres Entwicklungsstandes, ganzheitlich betrachtet, was sind dann die spezifischen Lernziele, die man da formulieren möchte, formuliert, was sind dann daraus abgeleitet, die richtigen pädagogischen Ansätze, um diesen Lernzielen kindgerecht, altersgerecht, ja, gerecht zu werden. Und dann kommt die Technik. Und da ist so ein großes Potenzial, aber zuerst kommt die Pädagogik und dann die Technik.
Ja, aus der Perspektive würde ich gern noch eine Frage anschließen. Also Schweden war ja Vorreiter der Frühdigitalisierung und hat, da hat das Karolinska-Institut vor zwei Jahren ja die Digitalisierungsstrategie der schwedischen Regierung grundsätzlich infrage gestellt und gefordert, die Bildschirmzeit für Kinder während der Vorschulzeit auf maximal eine Stunde zu minimieren und Schulen sollten wieder schwerpunktmäßig auf Wissenserwerb und gedruckte Schulbücher zurückgreifen. Das Fachwissen der Lehrer sollte einen größeren Stellenwert erhalten. Ähnliche Forderungen kommen ja auch von deutschen Wissenschaftlern, die sich dafür ein Moratorium der Digitalisierung in Kitas und Schulen einsetzen.
Welche Erfahrungen haben Sie? Also das klingt so, als ob das tatsächlich in diesem Sinne für die Stiftung eigentlich ein Feld ist, in dem Sie da pädagogisch handeln können und auch den Sinn dieses pädagogischen Handelns erkennen und auch praktizieren.
Also ich glaube, dass die Diskussion manchmal etwas unterkomplex geführt und manchmal auch ein bisschen falsch geführt wird, denn allein schon die Fragestellung mehr oder weniger Digitalisierung, die kann man aus meiner Sicht gar nicht richtig beantworten, weil ich die Frage schon falsch finde. Wir müssen ja gucken, was wollen wir erreichen? Geht es uns zum Beispiel um mehr Chancengerechtigkeit: Dann ist eben durchaus die Frage, an welcher Stelle, mit welchen Kindern kann man durch welche Instrumente eine positive Wirkung erzielen? Und die Antwort ist nicht mehr oder weniger Digitalisierung. Also insofern, die richtige Digitalisierung an der richtigen Stelle kann sehr viel beitragen. Und dann kommt es nicht darauf an, ob es 30 Minuten oder 60 Minuten sind, sondern es kommt darauf an, dass es die richtigen Minuten sind. Und vor dem Hintergrund würde ich sagen, wir sollten da in Deutschland weiter vorangehen, auch tendenziell noch ein bisschen schneller, aber gleichzeitig immer die Pädagogik an die erste Stelle stellen und dabei vor allem nicht andere Fragen vergessen, die mindestens genauso wichtig sind. Beispielsweise, weiß nicht, ob Sie das Konzept von Deeper Learning kennen, aus meiner Sicht ist das eine viel bessere Diskussion, denn Deeper Learning überwindet so ein bisschen die Frage nach, was ist denn jetzt wichtig, Fachkompetenzen oder Wissen oder Metakompetenzen und wie bringt man das bei, indem einfach die richtige Vernetzung und die richtige Reihenfolge beschrieben wird. Es braucht auch instruktive Phasen für den Wissenserwerb und für die gemeinsame Sprache. Dann braucht es aber auch ko-konstruktive Phasen in der Anwendung des Wissens und zum Kompetenzaufbau. Und dann braucht es auch wieder eine Reflexionsebene, um das abzuschließen und abzurunden. In dem Sinne geht es weniger um das Ja oder Nein, sondern wieder um die richtige Reihenfolge.
Und die richtige Reihenfolge, die allerdings vorgegeben ist, ist ja tatsächlich die, nämlich Kita, Grundschule, weiterführende Schule, dann vielleicht auch Hochschule. Von daher meine Frage, gibt es da eine Kooperation der Stiftung Kinder forschen mit jetzt auch weiterführenden Schulen?
Also unser Mandat, und das ist groß genug, ist eben von 0 bis 10. Damit sind wir soweit zufrieden. Gleichzeitig ist es natürlich schon ein sinnvolles Ziel, alle Übergänge gut zu gestalten. Zuallererst auch in die Kita und dann eben aus der Kita in die Grundschule. Auch den Übergang Hort, also Ganztag, Grundschule, dort eben auch die Dinge zusammenzudenken. An all diesen Stellen brauchen wir eine Kultur der Zusammenarbeit, die noch nicht hinreichend entwickelt ist. Und wir müssen eben auch gucken, wie wir das organisiert bekommen. Dazu gehören eben auch Funktionszeiten, dass dann zum Beispiel interdisziplinäre Teams auch Räume, auch Zeiträume haben, um Zusammenarbeit zu entwickeln. Dazu gehören auch Anreize, die dann auf die Zusammenarbeit einzahlen. Und dazu gehören wahrscheinlich auch Daten, wenn wir jetzt hier schon über Diagnostik sprechen, sodass man dann eben auch in der Lage ist, das Kind strukturiert zu übergeben, beziehungsweise ein strukturiertes Gespräch zwischen Fachkräften zu begleiten und zu unterstützen, sodass dann eben Daten auch mehr und mehr genutzt werden für die individuelle Förderung und Begleitung und nicht zuletzt auch wiederum für die Einrichtungsentwicklung. Also eine stärkere Datenorientierung ist auch Teil von einer besseren, auch professionelleren Kultur der Zusammenarbeit. Da sind auch große Potenziale in Deutschland.
Also das heißt, die Horizonterweiterung über das zehnte Jahr Lebensjahr hinaus ist auch bei der Stiftung Kinder forschen dann präsent und gibt es, weil das vielleicht auch eine Verbindung wäre, Kinder forschen, Jugend forscht, gibt es da Verbindungen oder sind das tatsächlich noch zwei Welten? Wir leben ja in der gleichen Welt.
Trotzdem begegnet man sich nicht automatisch und das ist auch ein sehr guter Punkt. “Jugend forscht” fängt in der vierten Klasse an. Wir enden sozusagen in der vierten Klasse mit unserem Angebotsportfolio. Nichts liegt näher, als darüber nachzudenken und darüber zu sprechen, wie man das stärker verknüpfen und verbinden könnte, und genau das tun wir auch.
Gut. Dann würde ich gerne noch eine Frage stellen zum Gesamtzusammenhang. Stiftung Kinder forschen und die Transformation des Bildungssystems wäre so ein Stichwort. In welchem Zusammenhang steht die Arbeit der Stiftung Kinder forschen mit einer umfassenderen Strategie zur Veränderung des Bildungssystems? In einem Diskussionspapier mit Björn Adam für die Weimarer Gespräche 2025 unter dem Titel “Der Träger trägt nicht mehr” haben Sie grundsätzliche Gedanken zur systematischen Architektur der deutschen Schullandschaft skizziert. Welche substanziellen Veränderungen im Bildungssystem halten Sie für zwingend erforderlich, die auch in diesem Zusammenhang stehen?
Also für mich ist es immer notwendig, wenn man in einer gemeinnützigen Organisation arbeitet, neben der operativen Arbeit auch darüber nachzudenken, wo kommen die Probleme eigentlich her und wie könnten die Probleme sozusagen längerfristig und nachhaltig grundsätzlich gelöst werden. Insofern finde ich, sollte man Erkenntnisse und Kompetenzen, die man hat, immer auch in, ich sage mal, Fragen der Systementwicklung einbringen. Und in dem Sinne fühlen wir uns natürlich auch verantwortlich, dazu beizutragen. Es gibt ja auch Handlungsbedarfe, es gibt ja auch Probleme und es gibt ja eben auch bildungspolitische Diskurse. Und in dem Sinne gibt es sehr, sehr viele Dinge, über die wir zu wenig sprechen. Manche Dinge sind sehr präsent, hatten wir ja eben auch gerade, Digitalisierung so, aber andere Dinge sind aus meiner Sicht etwas weniger diskutiert und sollten mehr diskutiert werden. Ganztag ist so ein Thema. Wir sollten aus meiner Sicht viel mehr über gebundenen Ganztag sprechen. Wir sollten auch andere Aspekte der Schulorganisation, 90 Minuten, 45 Minuten, projektförmiges Lernen, ich habe schon Deeper Learning angesprochen. Wie organisieren wir eigentlich Unterricht? Machen wir einmal im Jahr eine Projektarbeit, so quasi nach der letzten Klausur? Oder sind Projekte und Missionen vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel für kompetenzorientierte Pädagogik? Und da sind viele Themen, die auch dann irgendwann strukturell diskutiert werden müssen, die dann irgendwann auch mit der Schule an sich, der Schulverwaltung oder gar einem Lehrer-Arbeitszeitmodell zu tun haben könnten. Und es ist mir ein Anliegen, solche Dinge, über die wie gesagt oftmals zu wenig gesprochen wird, ein bisschen mehr in den Blickpunkt zu lenken, weil sie doch oftmals sehr notwendig oder erfolgsnotwendig sind, um tatsächlich nachhaltige Veränderungen zu ermöglichen.
Das ist mir aufgefallen bei der Vorbereitung des Interviews, Herr Dr. Ernst, dass Sie früh pädagogisch ansetzen, aber das im Gesamtzusammenhang dann denken und sehen und damit auch bestimmte Vorstellungen verbinden. Vielleicht eine Frage noch, Sie favorisieren da ein Konzept hybrider Satellitenschulen. Können Sie das vielleicht uns kurz skizzieren, was Sie darunter verstehen? Weil das ja so auch ein Schlüssel für die Veränderung der Schullandschaft sein soll.
Wir erwähnen das als ein Denkmodell, das es gibt, dass man diskutieren kann und das soll vor allem bedeuten, dass man nicht jede Schule für sich sieht, sondern dass man über Schulverbünde nachdenken sollte. Gerade wenn wir zum Beispiel über Unterrichtsausfall reden, über Lehrermangel und das eben auch in Verbindung mit Digitalisierung, dann könnte man ja durchaus sagen, das passiert auch in einzelnen Bundesländern schon, warum, wenn man keinen Leistungskurs Physik mehr anbieten kann in der Stadt X, warum machen dann nicht zwei, drei Schulen an drei Standorten gemeinsam einen Leistungskurs Physik digital? Das ist dann halt in dem Sinne Hybrid, weil analog und digital kombiniert wird und das ist ein Netzwerk von Schulen, das das gemeinsam ermöglicht. Kann man mit einem Träger kommunal denken, kann man landesweit denken. Mecklenburg-Vorpommern hat schon eine digitale Schule aufgebaut, die dann Unterrichtsausfall kompensiert. Wie gesagt, es gibt Projektansätze, gerade für ländliche Räume, so typischerweise mehr für weiterführende Schulen als für Grundschulen, aber da ist schon noch ein gewisses Potenzial.
Wir haben ja eben schon über Kooperation gesprochen, auch an der Stelle Kooperation zwischen Schulen, ja, hat auch ein großes Potenzial. Also es geht auch um größere Visionen. Was halten Sie von der Vision der beiden Startup-Investoren Andreessen und Horwitz, die Folgendes gesagt haben? Jedes Kind wird einen KI-Tutor haben, der unendlich geduldig, unendlich mitfühlend, unendlich sachkundig und unendlich hilfreich ist. Ist das die pädagogische Zukunft? Auch für die Stiftung?
Ja, stellt sich ja die Frage, ob das die Zukunft ist. Also ich kenne Menschen, die ehrenamtlich Nachhilfe gegeben haben und die seit ungefähr zwölf oder 18 Monaten arbeitslos sind, weil sie festgestellt haben, die Kinder, mit denen sie bisher Nachhilfe gemacht haben, benutzen nur noch Chat-GPT. Und auch meine Kinder, für die ist Chatty ein guter Freund, der sie permanent begleitet. Also insofern, das ist aus meiner Sicht keine Vision, sondern das ist tatsächlich schon Realität. Vorher war es YouTube so, jetzt ist es Chat-GPT. Also da sind wir schon. Die Frage ist, was wir daraus machen.
Zur Abschlussfrage würde ich gerne kommen. Werden Sie das 20-jährige Jubiläum der Stiftung besonders feiern?
Ja, das werden wir nächstes Jahr angemessen und besonders würdigen.
Und welchen Wunsch hätten Sie als Vorstandsvorsitzender für die Zukunft der Stiftung?
Dass es so erfolgreich weitergeht wie bisher, aber dazu gehört eben auch Wandel. Die Dinge, wir hatten es ja auch angesprochen, die Diversität, aber auch das Thema Chancengerechtigkeit, auch die Möglichkeiten, Digitalisierung, KI, da ist sowohl auf Seite von Bedarf und Nachfrage als auch auf der Seite des Angebots sehr viel Veränderung, sehr viel Bedarf und Potenzial. Das erfordert auch bei der Stiftung Wandel und mein Wunsch ist, dass uns das sehr gut gelingt.
Herr Dr. Ernst, ich danke Ihnen vielmals für dieses Gespräch.
Text: Markus Till
Foto: Mubarak Bacondo