Gabriele Hannemanns Buch für Kinder über das jüdische „Mädchen aus dem Fass“
Ein Fass unter der Erde rettete das jüdische Mädchen Marisha: Eine Bauernfamilie versteckte die Siebenjährige, sie überlebte den Holocaust als einzige ihrer Familie. Von ihrer Flucht und der Hoffnung auf ein Weiterleben in Israel erzählt das biografische Kinderbuch „Marisha – Das Mädchen aus dem Fass“, das die Autorin Gabriele Hannemann im Kieler Landeshaus vorstellte. Mit einer Skype-Verbindung war Malka Rosenthal aus Israel zugeschaltet – sie war das Mädchen, das sich immer verstecken musste und früher Marisha hieß.
Das kleine Gefängnis in der Scheune ist Marishas Ort der Zuflucht, der Sicherheit. Nur eine Stunde am Tag darf das Mädchen das Fass verlassen, alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Von einer polnischen Familie in jener Scheune versteckt, überlebt Marisha den Völkermord an den Juden durch Deutsche im Nationalsozialismus und wandert 1948 nach Israel aus. Dort nimmt sie den Namen Malka Rosenthal an und löst über 70 Jahre später ein Versprechen ihrer Mutter ein, die im Angesicht ihres eigenen Todes einem deutschen Wehrmacht-Soldaten entgegenschreit: „Meine Tochter wird leben – und sie wird es der ganzen Welt erzählen!“ Die Lehrerin und Autorin Gabriele Hannemann aus Schleswig-Holstein hat Malka Rosenthal eine Stimme geliehen und die Geschichte der kleinen Marisha aufgeschrieben – so einfühlsam, dass Grundschul-Kin- der sie nachvollziehen können, ohne selbst traumatisiert zu werden. „Schon 2002 hatten wir Malka nach Norddeutschland eingeladen, damit sie in Schulen ihre Erlebnisse erzählen konnte“, berichtet die Autorin, die den Verein „Yad Ruth“ in Hamburg mitgegründet hat. Er unterstützt bedürftige jüdische Holocaust-Überlebende in Israel und Osteuropa. Seit 20 Jahren arbeitet die Lehrerin zudem mit Zeitzeugen in Schulen, damit junge Deutsche direkt von Überlebenden Informationen bekommen können. Für ihr Engagement erhielt Hannemann 2013 das Bundesverdienstkreuz am Bande.
„Nur in Israel konnte ich ein Mensch sein.“
Vor einiger Zeit führte sie Interviews mit Malka Rosenthal, um deren Geschichte für andere Kinder aufzuschreiben. Ihr Buch „Marisha – Das Mädchen aus dem Fass“ (80 Seiten, Illustrationen von Inbal Leitner) erschien 2005 im Ariella Verlag. „Es gab bereits Veröffentlichungen über Malkas Leben, doch die sind bisher kaum wahrgenommen worden.“ Außerdem hat die bekannte Gedenkstätte Yad Vashem in Israel einen Film mit und über Malka Rosenthal gedreht, der als DVD erhältlich ist. Das Schicksal des kleinen Mädchens Marisha lässt niemanden kalt, insbesondere die Viertklässler in Grundschulen nicht: „Die Neun- und Zehnjährigen sind sehr offen für das Thema – sie sind meist wissbegierig und wollen mehr über den Holocaust erfahren“, hat die Lehrerin bei ihren Lesungen in Schleswig-Holstein festgestellt.
Die Nazis haben zwischen 1933 und 1945 rund sechs Millionen Juden ermordet – die meisten in Konzentrationslagern wie in Auschwitz. Das Leben der etwa gleichaltrigen Marisha können Schulkinder gut nachvollziehen: Das 1934 geborene Mädchen erlebt in ihrer polnischen Heimatstadt eine glückliche Kindheit. Der Vater ist Kaufmann, die Mutter Lehrerin, es werden mehrere Sprachen zuhause gesprochen, auch jiddisch. Als die Deutsche Wehrmacht kommt, ist sie sieben Jahre alt. Die vierköpfige Familie muss ihr Haus verlassen und im Ghetto eine Bleibe finden. Dann erlebt Marisha, wie deutsche Soldaten vor dem Haus zwei Kinder, darunter auch ihren Bruder, erschießen. Die Familie entschließt sich zur Flucht.
Wenig später opfert sich die Mutter vor einer Scheune und stellt sich Soldaten entgegen, während der Vater mit der Tochter ziehen kann. Sie leben Monate lang in Wäldern, ernähren sich von Fischen, Beeren und Pilzen. Im Winter brauchen sie einen Unterschlupf. Eine Bauernfamilie ist bereit, Marisha zu verstecken, sie muss sich vom Vater trennen. Das Fass in der Scheune wird von nun an ihre Rettung sein. Nach Ende des Krieges bleibt sie eine Zeitlang bei der Retterfamilie Kott, die später in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wird. Mit dem Schiff „Exodus“ versucht sie vergeblich nach Israel zu gelangen, erst im zweiten Anlauf gelingt es nach einer Odyssee durch Europa. Bei Tante Lea in Haifa kommt sie 1948 an. Sie gründet eine Familie, wird Grundschullehrerin, bekommt zwei Kinder. „Nur in Israel konnte ich ein Mensch sein“, erzählte Malka Rosenthal nach der Lesung über eine Skype-Verbindung. Das Vertrauen zu den Menschen habe sie nie verloren, weil viele für sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Die Hoffnung habe Malka Rosenthal als Kind getragen, denn der Vater habe ihr immer wieder gesagt: „Am Ende wird alles gut!“ Überlebt hat er den Holocaust nicht. Doch die Geschichte von Marisha wird weiterleben und in die nächste Generation getragen.
TEXT & FOTOS Joachim Welding