Die Zukunft des Lernens

Die Zukunft des Lernens

Dr. Ulf Schweckendiek, Schulleiter der Friedrich-Junge-Schule (FJS) und Chris Jacobsen, Lehrer und BO-Koordinator, im Gespräch über das innovative Lernkonzept Küsten-Campus

Die Schülerschaft der FJS ist heterogen und erfreulich bunt. Genau das kann aber auch eine Herausforderung für guten Unterricht sein. “Mit unserem Konzept Küsten-Campus begegnen wir dieser Heterogenität durch neue, flexible Unterrichtsformen und stärken dabei die Eigenständigkeit und Eigenverantwortung jedes einzelnen Lernenden“ – so steht es auf der Schulhomepage. Was steckt dahinter? ME2BE fragt nach.

Was ist der Küsten-Campus?

Dr. Ulf Schweckendiek: Der Küsten-Campus ist das Gegenteil von Frontalunterricht, wie ihn viele aus der Elternschaft noch kennen. Im Mittelpunkt des Konzeptes Küsten-Campus steht die eigenständige Lernarbeit. Die FJS erprobt seit etwa einem Jahr Lernformen, die besser auf die individuellen Bedürfnisse und das Lerntempo des Einzelnen abgestimmt sind. Davon profitieren zum einen schnelle Lerner, die ungebremst ihrem Wissensdurst folgen können. Und zum anderen haben auch Kinder etwas davon, die mehr Zeit benötigen, um den Stoff verinnerlichen zu können.

Wie sind Sie darauf gekommen, den Küsten-Campus an Ihrer Schule einzuführen?

Dr. Ulf Schweckendiek: Wir haben uns sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, was gutes Lernen ausmacht. Das tun andere Schulen zwar auch. Bei uns hat diese Überlegung aber dazu geführt, dass wir uns mit ausgezeichneten Schulen und deren Lernkonzepten vertraut gemacht haben. Das Lernhafen-Konzept einer Schule in Flensburg hat uns beispielsweise sehr inspiriert. Dies hat zur Entwicklung des Friedrich-Junge-Küsten-Campus Konzeptes geführt, das wir jetzt an unserer Schule sukzessive einführen.

Was ist das Ziel dieses neuen Unterrichtskonzeptes?

Chris Jacobsen: Wir möchten, dass alle Schülerinnen und Schüler gern zur Schule gehen und dort auch eine für sie angenehme Lernatmosphäre vorfinden. Dazu passt, dass das Küsten-Campus Konzept auch räumliche Veränderungen des herkömmlichen Klassenraums vorsieht. Alle Schülerinnen und Schüler richten ihre Arbeitsplätze im Klassenzimmer individuell ein. Manche möchten ohne Ablenkung mit Blickrichtung zur Wand arbeiten. Andere wollen aus dem Fenster schauen oder ihren Tisch im freien Raum aufstellen. Davon profitieren sowohl kommunikative als auch stille Lernende. Jedenfalls gibt es keine Ausrichtung der Sitzordnung mehr auf die Tafel oder auf die Lehrperson.

Und inhaltlich? Wie sieht ein Stundenplan aus?

Dr. Ulf Schweckendiek: Mit unserem Konzept möchten wir uns vom Primat des Fachunterrichts ein wenig lösen. Natürlich gibt es bei uns noch Stunden, in denen klassisch Stoff von einer Lehrperson vermittelt wird: Das nennen wir Impulsstunden-Unterricht. Das Erarbeiten und Vertiefen des Stoffes findet aber in sogenannten Fokus-Stunden statt. Hier dürfen die Kinder selbst entscheiden, was sie sich in dieser Zeit vornehmen. Deutsch, Mathe oder Englisch? Was wollen wir heute lernen? Das entscheiden die Schülerinnen und Schüler gemeinschaftlich. So stärken wir die Eigenverantwortung für den Lernprozess.

Das klingt ein wenig wie Co-Working für den Schulbereich. Kann man das so sagen?

Chris Jacobsen: Ja, das ist kein schlechter Vergleich. In den Fokus-Zeiten gilt die Verabredung, dass an den Arbeitsplätzen selbst nicht gesprochen werden darf. Es gibt aber Bereiche, in denen ein Austausch untereinander ausdrücklich erwünscht ist. Lehrerinnen und Lehrer unterstützen dabei individuell. Sollte ein anwesender Lehrer fachlich nicht das beantworten können, was gerade gebraucht wird, kommt eben eine Fachlehrkraft dazu. So schaffen wir eine relativ heile Lernwelt, in der alle zu ihrem Recht kommen. Das ist im Übrigen nicht nur für Schülerinnen und Schüler gut. Auch wir als Lehrpersonen nehmen diese Art des Unterrichts als wesentlich entspannter und stressfreier wahr.

Geht da nicht alles drunter und drüber bei so viel Lernfreiheit?

Dr. Ulf Schweckendiek: Wenn man noch die tradierte Form von Unterricht im Kopf hat, macht man sich vielleicht Gedanken darüber. Eltern kennen ja nichts anderes aus ihrer eigenen Schulzeit. Da können wir aber beruhigen. Unsere Lehrkräfte, die nach dem Küsten-Campus-Modell unterrichten, bestätigen, dass die Arbeitsatmosphäre in unseren sehr heterogenen Klassen nicht unruhiger ist als in traditionellen Formaten. Im Gegenteil. Wir stellen fest, dass es denjenigen, die sich an einem Fokus-Tag auf eine selbstgewählte Aufgabe konzentrieren wollen, mit unserem Modell leichter fällt. Wir als Lehrpersonen müssen es aber auch aushalten, wenn ein Schüler seine Entscheidungsfreiheit nutzt und sagt: Heute möchte ich die Fokus-Zeit für etwas ganz anderes nutzen. Dieser Schüler darf nur die anderen nicht stören. Im Vordergrund steht, konzentrierte Arbeit zu ermöglichen. Nicht zu erzwingen.

Zwei Männer auf Seil

Dr. Ulf Schweckendiek und Chris Jacobsen möchten, dass alle Schülerinnen und Schüler gern zur Schule gehen und dort auch eine für sie angenehme Lernatmosphäre vorfinden.

Wie ist das Verhältnis von klassischem Lehrer-Unterricht und Fokus-Zeiten?

Chris Jacobsen: Einige Fächer sind natürlich an bestimmte Räume gebunden. Sport und Bewegung, naturwissenschaftliche Laborarbeit oder praktischer Unterricht in Werkräumen. Das läuft bei uns ganz normal zu festgelegten Zeiten und wird stärker nach den Vorgaben der jeweiligen Lehrperson abgehalten. Die Ausgestaltung der Fokus-Zeiten wird jedoch weitgehend von der Agenda bestimmt, die sich die Kinder selbst auferlegen. Hier können sich die Lernenden ihre Ziele größtenteils selbst stecken. Das Verhältnis von Fokus-Zeit zum eher herkömmlichen Unterricht liegt bei etwa 50:50.

Setzen Sie dieses Konzept schon in allen Klassenstufen um?

Dr. Ulf Schweckendiek: Das ist ja ein fortlaufender Prozess, in den wir eingestiegen sind. Diese experimentelle Unterrichtsform ist Teil unserer Schulentwicklung. Wir haben in den sechsten Jahrgängen damit begonnen. Demnächst starten wir auch mit unseren fünften Jahrgängen mit dem Konzept. Und mittlerweile stellt sich eine ganz spannende Dynamik ein. Denn auch Kolleginnen und Kollegen aus höheren Jahrgängen melden Interesse an. Auf dem Wunschzettel vieler im Kollegium steht ganz oben drauf: „Ich möchte mit meiner Klasse beim Küsten-Campus mitmachen!” Das bedeutet zwar nicht, dass die ganze Schule schon nach diesem Konzept arbeitet, aber es werden immer mehr.

Wer hat das Lernkonzept Küsten-Campus erfunden?

Dr. Ulf Schweckendiek: Wir haben uns, wie schon erwähnt, von anderen Schulen inspirieren lassen. Wir haben uns aber teilweise sehr von den anderen Konzepten gelöst. Beispielsweise haben wir den festen Klassenverband erhalten, weil wir die Bedürfnisse unserer Kinder im Kiez kennen. Sie brauchen Verbindlichkeit und feste Bezugspersonen. So wie wir die experimentelle Schulentwicklung an der FJS vorantreiben, sind wir mit dem Küsten-Camus die einzige Schule, die das auf diese Weise umsetzt.

Wie finden Eltern diesen neuartigen Ansatz?

Chris Jacobsen: Wie immer, wenn etwas neu eingeführt und erprobt wird, gibt es Befürworter, die alles gut finden, was progressiv ist. Und dann gibt es Eltern, die Bedenken haben. Die möchte ich an dieser Stelle an ihre eigene Schulzeit erinnern. Auch wenn wir – gefühlt – “brav” waren im klassischen Frontalunterricht, haben wir dennoch nicht alle gleichermaßen etwas gelernt. Die größer gewordene Heterogenität einer Schulklasse von heute macht es aber notwendig, andere Wege zu gehen. Auch im Hinblick auf die Ausbildungsreife ist es ja so, dass sich die Selbstständigkeit und die Eigenverantwortung für den Lernerfolg bei den Schülerinnen und Schülern durch den Küsten-Campus um Faktor X erhöht.

Dr. Ulf Schweckendiek: Da sagst Du etwas ganz Wichtiges, Chris. Wir tragen mit unseren Reformansätzen nicht nur der größer gewordenen Heterogenität in der Schülerschaft Rechnung. Wir tun damit auch der Arbeitswelt einen Gefallen. Für Betriebe, die Auszubildende bekommen können, die mit unserem Küsten-Campus Konzept groß geworden sind, wird es ein Riesengewinn sein, wenn junge Leute, die ihre Schule verlassen, selbständiger sind als heute. Wir brauchen junge Menschen, die eigene Erfahrungen gemacht und nicht nur reproduziert haben.

Dr. Schweckendiek, Herr Jacobsen, vielen Dank fürs Teilen Ihrer Vision.

TEXT Natascha Pösel
FOTO Sebastian Weimar