So manch einer ertappt sich beim Durchsehen der Hausaufgaben der eigenen Kinder dabei, in Erinnerungen an die eigene Schulzeit zu schwelgen. Kein Wunder, viel hat sich auf den ersten Blick im Bereich Lehrmaterial und Unterrichtsstruktur nicht verändert. Doch wer sich intensiver mit der Thematik auseinandersetzt, wird merken: Da tut sich was!
Wir haben in einem Gespräch mit Dr. Ulf Schweckendiek über neue Impulse, digitalen Fortschritt und den Stellenwert von Berufsorientierung gesprochen. Seine langjährige Erfahrung im Bereich Fachfortbildung und Weiterbildung sowie Bildung für Nachhaltige Entwicklung am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur (IQSH) bietet ihm besondere Einblicke, die er in einem Interview mit uns teilt.
Herr Schweckendiek, vor welcher Herausforderung stehen Schulen im Jahr 2022?
In den vergangenen Jahren habe ich Fortbildungen für Fächer sowie Workshops für Schulleitungen geleitet, daher beobachte ich seit langem, dass lernwirksame Verbesserungen in der Schule behutsam und zielorientiert entwickelt werden müssen. Ich empfinde es als eine besondere Herausforderung, wie wir das System mit garantiert nicht wachsenden Ressourcen dennoch weiterentwickeln können.
Können Sie konkrete Handlungsfelder nennen?
Digitalisierung ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess. Wenngleich bei Lehrkräften häufig ein Vorbehalt besteht – wir werden in Zukunft mehr über Themen als über Fächer reden. In Schleswig-Holstein stehen 35 Fächer auf dem Lehrplan, aber es geht zunehmend um thematische, fächerübergreifende Zusammenhänge, die in der Schule eine Rolle spielen müssen, damit Kinder und Jugendliche sinnvoll lernen können. Eine zentrale Herausforderung besteht also darin, wie man Fächer miteinander verbinden kann. Zusätzlich wird sich das Unterrichten verändern. Bisher verbringen Lehrkräfte viel Zeit damit, Unterrichtsinhalte zu vermitteln. In Zukunft wird die Beratungsfunktion sehr viel wichtiger sein. Die Digitalisierung sorgt dafür, dass sehr viele Lerninhalte leicht zugänglich sind. Wissensvermittlung ist daher keine alleinige Aufgabe von Lehrkräften mehr. Wenn ich Digitalität in der Schule zulasse, selbst wenn die Schüler nur googlen, dann ist meine Rolle als Lehrkraft gleich eine ganz andere, weil dort ‚jemand’ ist, der viel mehr weiß als ich. Es geht also mehr um das Vermitteln von Kompetenzen.
Wie muss man sich einen Unterricht vorstellen, der zunehmend Themen statt Fächer fokussiert?
Wir haben den Fachunterricht, aber es wäre sehr gut, wenn es uns gelänge, dass die Lehrkräfte fächerübergreifend Inhalte verbinden. Ein Beispiel: Im Fach Deutsch gab es eine Fortbildung zum Thema ‚Märchen bearbeiten’. Als Lehrkraft wäre es gut, im Rahmen dieses Themas auch das Fach Kunst mit einzubeziehen oder das Fach Geschichte, um das Märchen in seinem ursprünglichen gesellschaftlichen Kontext zu verorten. So entsteht für die Kinder und Jugendlichen ein Zusammenhang, eine Lernlandschaft. Keine kleine Herausforderung, weil es meist an Zeit mangelt.
Welche Erkenntnisse für neue Lernkonzepte gibt es noch?
Ich habe seit 2010 den Bereich Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) und das Programm Zukunftsschule S.H. in Schleswig-Holstein geleitet. Beide Bereiche würde ich gerne in der Schule stärken. Was sich in den letzten Jahren immer mehr zeigt, ist die Wirksamkeit projektorientierten Lernens. Es bündelt verschiedene Aspekte, eben nicht nur Wissenserwerb, sondern auch Kompetenzschulung. Kinder lernen da etwas für ihr Leben.
Welchen Stellenwert wird die Berufsorientierung und die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf ein Leben nach der Schule nach Ihrem Empfinden spielen?
Wir wissen, dass Schülerinnen und Schüler enorm gut lernen, wenn sie eine Zielorientierung haben, deshalb ist die Berufsorientierung eigentlich schon viel früher wichtig. Kinder lernen auch gut, wenn sie in der fünften Klasse schon davon träumen, etwa bei der Feuerwehr zu sein. Eigentlich sollte Berufsorientierung möglichst in jedem Fachunterricht stattfinden, so dass am Ende eines Unterrichts jeder für sich die Frage stellen kann: Was könnte das für meine berufliche Laufbahn bedeuten, was wir heute gelernt haben? Das hört sich jetzt vielleicht etwas dogmatisch an, aber es fördert ein spezifisches Bewusstsein. Ich wünsche mir eine kontinuierliche Berufsorientierung, weil das die zentrale Aufgabe der Schulen ist.
Sehen Sie die Gemeinschaftsschule als Chance, das Bildungssystem durchlässiger zu gestalten?
Durch die Pisa-Studien hat sich die Denkweise verbreitet, ein guter Bildungsabschluss könne in erster Linie die Hochschulreife sein. Aber aktuell stellen wir fest, spätestens wenn man einen Handwerker sucht, kann das nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Gerade unsere dualen Ausbildungsgänge sind weltweit ein Exportschlager. In der Sekundarstufe I von Klasse fünf bis zehn werden interessengeleitet die wesentlichen Weichen für späteren beruflichen Erfolg gestellt. Die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems ist leicht gestiegen – eine Notwendigkeit, ohne links und rechts zu schauen das Abitur anzupeilen, passt längst nicht für alle. Hohe Abbrecherquoten im Studium sind ein Beleg dafür. Mein Leitspruch daher: ‚Umwege erhöhen die Ortskenntnis’. Es gibt viele Wege und Möglichkeiten, und wir als Schule können ganz viele Optionen aufzeigen.
Welchen Stellenwert nehmen dabei Projekte außerhalb der Schule für Schülerinnen und Schüler ein?
Außerhalb der Schule müssen Projekte natürlich immer mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu tun haben. Wenn die Bremse meines Fahrrades nicht funktioniert und ich an meinen Physikunterricht denke, ist das positiv. Die Zukunftsschule zertifiziert zum Beispiel bildungs- und nachhaltigkeitsorientierte Projekte: Schülerinnen und Schüler sollen Medienkompetenz erwerben, also wissen, wie sie sinnvoll und kritisch mit Medien umgehen. Für die Lehrkräfte an Schulen spielt die Mediendidaktik daher eine wichtige Rolle. Ziel ist es, mit Hilfe von Digitalität besseres Lernen zu ermöglichen – dazu würde ich auch das Onlineangebot der DIGI:BO zählen. Distanzlernen gehört durchaus zur Mediendidaktik. Außerdem wächst sogar die Relevanz des fachlichen Lernens im Hinblick auf Digitalität. Es geht um die Frage, wie sich Fächer im Zuge der Digitalität verändern, im Grunde analog zu den Berufsbildern, die sich ebenso in einem Wandel befinden. Darauf muss Schule eine Antwort geben.
TEXT: Sophie Blady, Kristina Krijom
FOTO: Sebastian Weimar
Dieser Beitrag ist auch in der HIERGEBLIEBEN-Ausgabe 2022/02 erschienen. Zum nächsten Beitrag mit Landrat Stefan Mohrdieck geht es hier.