Vor rund 50 Jahren probten einige Studentinnen und Studenten der Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg den Aufstand, um die Ausbildung freier Künstler und angehender Kunstpädagogen aus dem Mief verkrusteter Strukturen und drückender Sparzwänge herauszuholen. Über fünf Jahre verfolgten sie mit ihrem Initiator, Beispielgeber und Dozenten Achim Lipp ein Projekt, das sich innerlich und äußerlich vom Hochschulbetrieb abgrenzte – und bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat: die „Zeltschule“.
Was treibt eine Gruppe einander überwiegend unbekannter Erstsemester an einer Kunsthochschule dazu, nach bestandener Aufnahmeprüfung gleich einen Sonderweg anzutreten? Im Fall der rund 20 Mitglieder der späteren Zeltschul-Gruppe lag der Grund nicht in der traditionsreichen Kunstakademie am Lerchenfeld 2 im Stadtteil Uhlenhorst, sondern in einer angemieteten Büroetage eines gesichtslosen Geschäftskomplexes in einem weitentfernten Stadtteil. Die Studienanfänger – frisch vom Gymnasium entlassen und gerade der elterlichen Obhut entflohen waren enttäuscht. Der ihnen zugewiesene Assistent aus der Abteilung Freie Kunst, Achim Lipp (Jahr – gang 1944), ebenfalls. Statt aufregender Atmosphäre, einer kreativen Umgebung und dem Austausch mit Kommilitonen und Dozenten wartete das betongraue Exil.
Doch mit der ihnen zugedachten Rolle wollten sich die Studierenden und ihr Dozent nicht abfinden. Mit dem festen Vorsatz, gemeinsame Regeln aufzustellen, Methoden zu entwickeln und sie umzusetzen, einigten sich die Beteiligten auf einen Minimalkonsens: Sie alle hatten in irgendeiner Weise das Ziel, etwas zu ‚machen‘. Lipp schuf daraus den prägenden Titel: „Seminar für Herstellung“. Ziel war, beharrlich nach dem Selbstverständnis und möglichen Begründungen zu suchen, warum man an einer Kunsthochschule dieses und jenes tun oder eben unterlassen sollte. Lipp nennt es „den Vorsatz zu permanentem Gedankenaustausch, zur anhaltenden Diskussion – und die Bereitschaft, die vielen Leerstellen, die Denkpausen zu ertragen. Und auch dieses öffentlich zu machen“. Doch zuerst wollte die Gruppe den offenkundigsten Missstand abschaffen und beschloss: Wir ziehen in die Kunsthochschule am Lerchenfeld.
Lehren und Lernen abseits normierter Wege
Pünktlich zum Beginn des Sommersemesters 1972 versammelten sich die Seminarteilnehmer in der Aula-Vorhalle, um anschließend festzustellen, dass viele Räume zwar regelmäßig unbesetzt waren, sie jedoch immer wieder rausgeworfen wurden, sobald sie sich irgendwo niederließen. Also begann eine Odyssee durch die Werkstätten, Gänge und Klassenräume. Weil auch Anfragen nach einem eigenen Raum an die verschiedenen Gremien der Hochschule erfolglos blieben, fassten die Seminaristen den Entschluss. Sie wollten sich selber Raum schaffen.
Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Zelte aufzubauen. Wir haben alles vorbereitet.
Nachdem das Konzil – ein gewähltes Gremium der Hochschule, das über grundsätzliche Fragen urteilt – den Antrag auf einen Raum negativ beschieden hatte, folgte die Reaktion, die sich als wegweisend für die Gruppe um Lipp erweisen sollte. „Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Zelte aufzubauen. Wir haben alles vorbereitet“, sagte Lipp nach der Entscheidung – und zog mit seinen Studierenden auf eine städtische Rasenfläche neben der Kunsthochschule. Dort hatten sie bereits alles vorbereitet, um sich räumlich und gedanklich von der Hochschule zu entfernen. Sie errichteten erstmals ihren programmatischen Standort: die Zeltschule.
Von da an nahm die Arbeit an der Zeltschule an Fahrt auf. Entkoppelt vom „Dunstschleier des raunenden Künstlertums“, wie Lipp es nannte, entwickelte die Gruppe ihren eigenen Studien-Fahrplan. Mit Aktionen wie der wandernden Garküche, in der an wechselnden Orten in der Hochschule Essen gekocht und verteilt wurde, erarbeiteten sich die Zeltschüler um Lipp ein eigenes Kunstverständnis – und kamen zugleich mit einer breiteren Öffentlichkeit innerhalb der HfBK in Kontakt.
In den folgenden Semestern experimentierte das Seminar für Herstellung mit der eigenverantwortlichen Organisation von Lehren und Lernen mit künstlerischen Mitteln. Weil sich jedoch auch freigeistige Künstlerinnen und Künstler einer gewissen Ordnung unterwerfen mussten (die Zeltschule war weit von der Idee des Anarchismus entfernt), erarbeitete sich die Gruppe ihre eigene Form der ‚verlässlichen‘ Kommunikation: das „Gerücht“.
Alle Vereinbarungen, Erinnerungen und Vorschläge wurden per Post von einem sogenannten „Gerüchteverbreiter“ verteilt. „Um die möglichst flache Hierarchie der Gruppe abzubilden, schien die Kategorie ‚Gerücht‘ die geeignete Bezeichnung für die Art der Mitteilung, die für uns Gültigkeit haben sollten in dem Sinne, dass wir die Botschaft für wahr und gültig halten wollten und jeder sie in Umlauf hätte bringen können. Der pulsierende Charakter des Gerüchts schien uns angemessen auf unsere Beweglichkeit hinzudeuten“, erläutert Achim Lipp. „Der Zweck war, die anderen verabredungsgemäß in die Pflicht zu nehmen und Außenstehende mutwillig glauben zu machen, wir wüssten nicht, was wir vorhaben.“
Auch die Form der Fortbewegung beschäftigte die Gruppenmitglieder. Sie wollten wissen: Wie lässt sich die Idee des Seminars für Herstellung angemessen verkörpern? Schließlich einigten sich die Studierenden und ihr Mentor auf eine ungewöhnliche Art des Vorwärtskommens: das „Bockspringen“. Damit irritierte das Seminar so manch verwunderten Zeitgenossen.
Ein weiterer Höhepunkt des Projekts Zeltschule war der Ausflug zur Documenta 5. Im Jahr 1972 baute die Gruppe die Zeltschule in Hamburg ab und an verschiedenen Orten in Kassel wieder auf. Vor Ort stand Arbeit auf dem Programm. Um sich den Kunstwerken anzunähern, demonstrierten die Zeltschüler ihr „Öffentliches Kopfzerbrechen“. Gemeinsam – und für alle Welt sichtbar – versuchten sie den Sinn der Installationen und Kunstwerke zu ergründen und zu kategorisieren. „Das Verständnis sollte aus unserer Mitte als Ergebnis einer gemeinschaftlichen Anstrengung aufscheinen“, erläutert Lipp.
Zurück an der Hochschule machte die Zelt – schule in der Vorweihnachtszeit 1972 erneut auf sich aufmerksam. Das völlige Fehlen traditioneller Adventsbräuche kam den Seminaristen „unheimlich“ vor. Also organsierten sie unter dem Titel „Böse Menschen haben keine Lieder“ ein gemeinsames Lieder-Singen und brachten mit Adventskränzen, Kerzen und kulinarischen Leckereien weihnachtliche Behaglichkeit in die Kunsthochschule.
Die Zeltschule packt aus.
Dass Lehren und Lernen an einer Kunsthochschule auch abseits normierter Wege Ergebnisse hervorbringt, zeigte das Seminar für Herstellung mit der Ausstellung „Die Zeltschule packt aus“. Die Zeltschüler präsentierten ihre Arbeiten der Hochschulöffentlichkeit – ohne die üblichen Anlässe wie Zwischen-oder Abschlussprüfungen. Dennoch verfolgten die Seminaristen immer das Ziel, die HfBK mit dem Examen in der Tasche zu verlassen. Die Zeltschüler waren eben nicht nur Zeltschüler, sondern auch Studierende im regulären Sinn. Alle Mitglieder hatten sich daher zusätzlich prüfungsberechtigte Professoren für die Examensarbeiten gewählt.
In fünf Jahren Zeltschule sorgte das Seminar für Herstellung immer wieder für Aufregung an der HfBK – und führte der Hochschule regelmäßig die eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen. Die Zeltschule als experimentelles Projekt definierte sich selbst als Gemeinschaft im Sinne einer Art Bürgerschule und sah sich dem historischen Konzept der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ verpflichtet. Diese 1617 bis 1680 bestehende höfische Akademie hatte es sich zum Ziel gemacht, die Sprache durch vielfältige literarische, gelehrte und bildungspolitische Aktivitäten zu fördern. Ihre Devise lautete: „Alles zu Nutzen.“ Für die Zeltschüler war es selbstverständlich, dass sie Regeln und Dienstwege einhielten – sie gaben sich lediglich ihre eigenen Richtlinien, die nicht denen der Hochschule entsprachen. Der Widerspruch zwischen einer gewissen Bürgerlichkeit und der künstlerischen Freiheit des Studiums prägte das Selbstverständnis der Seminaristen um Lipp.
Die Zeltschule: ein Modell für die Gegenwart?
Die Raumprobleme, die Anfang der 70er Jahre Auslöser für die Einrichtung der Zeltschule waren, gibt es an vielen Kunsthochschulen noch heute. Auch der Mangel an ausreichen – dem Freiraum zu künstlerischer (und pädagogischer) Selbstfindung dürfte sich heute eher sogar verschärft haben – zumindest wenn man das enge Korsett aufgrund des Bologna Prozesses betrachtet. Wäre eine Zeltschule also heute erneut denkbar? Eher nicht, glauben die damaligen Zeltschüler. Ob sie erstrebenswert wäre? Wohl schon.
Auch wenn vergleichbare Aktionen heute eher unwahrscheinlich sind, stellen sich doch spekulative, aber spannende Fragen: Können sich aus außerinstitutionelle Bewegungen wie Fridays for Future über die traditionellen Protestaktionen hinaus neue analoge und digitale Formen des politischen Lernens und Lehrens entwickeln, die der Zeltschule ähneln? Verändert das experimentelle Ausprobieren der Aktivisten hinsichtlich politischer und naturwissenschaftlicher Bildungsprozesse langfristig womöglich den Unterricht in der Institution Schule? Welche Rolle könnten Experten aus Forschung und Wissenschaft spielen? Wie können die neuen Formen der Kommunikation und Weiterbildung gewinn – bringend genutzt werden? Worauf müssen sich Lehrkräfte in ihrem Umgang mit Schülerinnen und Schülern künftig einstellen?
Für die Zeltschüler um Achim Lipp endete das künstlerisch eigensinnige Lernen und Lehren im Jahr 1975. Richtig losgelassen hat die Zeit die beteiligten Zeltschüler jedoch nie. 2016 folgte die Wiedervereinigung der ehe – maligen Lipp-Schüler mit ihrem Dozenten während eines zweitägigen Treffens – und der Wunsch, das eigene Wirken für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Herausgekommen ist ein ausführlicher Band, der Aktionen und Historie der Zeltschule illustrativ darstellt. Das Buch mit dem Titel „Die Zeltschule – Beispiel einer fruchtbringenden Gesellschaft an einer Kunsthochschule 1970-75“ dient zugleich als Katalog zur Ausstellung „Die Zeltschule unterwegs. Ausgepackt, Leinen los und volle Fahrt voraus“, die im Sommer 2019 auf dem Museumsschiff Cap San Diego im Hamburger Hafen residierte.
TEXT Lutz Timm
FOTO Zeltschule