Handfeste Hochtechnologie und viel kreativer Freiraum: Wenn Materialwissenschaftler Leonard Siebert im Labor der Technischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel steht und von seiner Arbeit erzählt, wird schnell klar: da ist einer mit dem Herzen dabei. Der Experte für Kunststoffe und 3-D-Drucke brennt für die Forschung und kann außerdem wissenschaftlichen Laien anschaulich vermitteln, was sich unter den Mikroskopen im Institut für Materialwissenschaft abspielt – zur Not mit einem Griff in den Kochtopf.
Der schmucklose Bau am Kieler Ostufer lässt auf den ersten Blick nicht vermuten, dass hier Forschung und Lehre auf Spitzenniveau beheimatet sind. Doch bereits auf den Fluren des zwischen Werftpark und Förde gelegenen Gebäudes schlägt den Besuchern eine betriebsame und offene Atmosphäre entgegen. Für Leonard Siebert, 28 Jahre alt, groß, sportlich und kurz vor dem Ende seiner Promotion im Bereich Funktionale Nanomaterialien, ist eben diese Stimmung bezeichnend. „Ich liebe die offene Arbeitsumgebung in der Universität und besonders in unserem Institut“, schwärmt der Wissenschaftler. „Man trifft immer wieder auf wissbegierige Studenten und Menschen mit neuen Ideen. Es ist wie ein großes Spielfeld, auf dem man seiner Kreativität freien Lauf lassen kann und dabei noch etwas Sinnvolles für die Gesellschaft macht.“
Experten mit vielen Talenten
Doch was ist Materialwissenschaft? Das interdisziplinäre Fachgebiet befasst sich unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten und unter Einbeziehung ingenieurwissenschaftlicher Methoden mit verschiedenen Materialien und ihren physikalischen sowie chemischen Eigenschaften. „Es geht in der Materialwissenschaft vor allem darum, die Eigenschaften von Materialien zu verstehen und zu verändern“, erläutert Siebert. „Was sorgt zum Beispiel dafür, das Glas durchsichtig ist, ein Stahl besonders hart oder Oberflächen ultrawasserabweisend sind?“ Die Erkenntnisse der Forscher könnten dann in die Herstellung von etwa Computerchips und anderen Hochtechnologieprodukten einfließen.
Leonard Siebert forscht hauptsächlich an Kunststoffen. Wer dabei Gummienten oder Plastikstühle vor Augen hat, liegt nur bedingt richtig. „Wir befassen uns mit Hochleistungskunststoffen, die annähernd die Festigkeit von Metallen haben können oder extrem hitzebeständig sind. Manche schmelzen erst bei 350 Grad Celsius“, erklärt der Doktorand. Man könne sich die meisten Kunststoffe wie einen Topf gekochter Spaghetti vorstellen – viele lange Molekülketten, die auf verschiedene Arten miteinander verkettet sind. „Wir versuchen dann herauszufinden, wie lang sie sind oder ob sie Widerhaken besitzen. Anschließend können wir sie so verändern, dass sie funktionieren, wie wir es gerne möchten.“
Widersprüche überwinden
Ein Beispiel sei etwa die Herausforderung, den Kunststoff Teflon zu nutzen. „Das Material ist chemisch extrem stabil“, so Siebert, „das Problem ist allerdings auch, dass daran nichts haften bleibt. Als Materialwissenschaftler versuchen wir, einen Kunststoff, an dem nichts haftet, zum Haften zu bringen.“ Eine Möglichkeit sei, nicht mit einem chemischen Kleber zu arbeiten, sondern mechanisch – über eine Art Klettverschluss. „Wir bringen nanoskopisch kleine Widerhaken an und tragen das Material, das haften soll, flüssig auf.“ Dieses sogenannte mechanische Verhaken sei ein typisches Vorgehen für die Materialwissenschaft, weil Ansätze verschiedener Disziplinen zur Anwendung kämen.
Eine ähnliche Methode wählten Siebert und seine Kollegen auch für ein Forschungsprojekt, das in der Fachwelt für einiges Aufsehen gesorgt hat. Die Kieler Wissenschaftler haben zwei Kunststoffe mechanisch verbunden, die künftig für Herzklappen verwendet werden könnten, die lange halten und an denen kaum Blut haften bleibt. Das eine Material – Polydimethylsiloxan – besser unter dem Namen Silikon bekannt, wird unter anderem für Backformen verwendet. Das zweite – Polyetheretherketon – ist ein sehr fester und langlebiger Kunststoff. Erste Tests im Labor auf dem Campus des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) sind vielversprechend. Die Forschungsergebnisse wurden bereits im Fachmagazin Nanoscale Horizons veröffentlicht. „Es ist noch ein langwieriger Prozess, bis es tatsächlich bei Herzoperationen zum Einsatz kommen könnte. Aber die Aussichten sind gut, und es würde vielen Menschen helfen, die auf künstliche Herzklappen angewiesen sind“, betont der Wissenschaftler.
Erkenntnis durch Offenheit
In seiner täglichen Arbeit beschäftigt sich Siebert intensiv mit neuen Fertigungsprozessen, insbesondere mit dem 3-D-Druckverfahren. Das Labor, in dem er zusammen mit seinen Studierenden neuen Erkenntnissen auf der Spur ist, besticht durch Bastlercharme, vermittelt zugleich aber die akademische Seriosität professioneller Forschung. Hilfreiche Basteleien hier, modifizierte Laborgeräte dort. Das Zusammenspiel wirkt zielführend und zweckmäßig, aber nicht verbissen. Diese gesunde Mischung aus Streben nach Erkenntnis und kreativem Freiraum ist offenbar die Grundlage für erfolgreiche Wissenschaft. „Man muss einen Raum schaffen, der Zufälle ermöglichen kann“, sagt Siebert. Nur in einer Atmosphäre, die auch mal „verrückte Ideen und unlogische Ansätze“ fördere, könnten neuen Ideen entstehen. „Es ist notwendig, auch mal außergewöhnliche Beobachtungen weiterzuverfolgen, um neue Entwicklungen anzustoßen. Lernen geht nur durch Verstehen. Das ist für mich Forschergeist.“
Dass Siebert gerne selbst zum Lötkolben greift, zeigt sich bei einem Blick auf den 3-D-Drucker. Von einem „Gerät von der Stange“ ist nicht mehr viel zu sehen. Die Steuerung selbstgebaut, der Spritzenhalter ebenfalls, dazu kommen Webcam, Lüfter und ein 3-Watt-Hochleistungslaser inklusive Sicherheitsglas. „Es ist zum Beispiel eine Herausforderung, Mikropartikel zu drucken, weil sie sich aufgrund ihrer Größe in der Tinte absetzen. Daher produzieren wir eine eigene dickflüssige Tinte“, berichtet Siebert.
Die wissenschaftliche Community ist der Kern jeder Entwicklung.
Gemeinsam statt einsam
Die Ergebnisse seiner Forschungen stellt er unter anderem in Berichten, Artikeln und Aufsätzen vor. „Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Bastlern und Wissenschaftlern: Wir versuchen zu verstehen, warum etwas gut oder schlecht funktioniert und erklären es.“ Die neuen Erkenntnisse anschließend mit anderen Wissenschaftlern auf Fachkonferenzen und Kongressen zu teilen, gehört für Siebert zu den wichtigsten Aufgaben universitärer Forschung. „Die wissenschaftliche Community ist der Kern jeder Entwicklung.“ Nur durch den Austausch mit fachlich geschulten Kollegen könne ein wissenschaftlicher Diskurs entstehen. „Das hält die Forschung lebendig“, ist Siebert überzeugt. Schließlich sei es kaum möglich, als einzelner Mensch eine Idee bis zum Ende zu entwickeln. So hätten an der Idee der Quantenmechanik hunderte intelligenter Menschen über Jahrzehnte hinweg gearbeitet und alle ihren Teil beigetragen.
Obwohl das Institut für Materialwissenschaft der CAU erst seit rund 30 Jahren besteht, hat es sich bereits einen guten Ruf in der Welt der Wissenschaft erworben. Für Siebert ein weiterer Grund, nach der Promotion eine Karriere an der Technischen Fakultät anzustreben. „Das Institut hat schon so viel erreicht und verfügt noch über viel mehr Potential. Ich bin sehr froh, ein Teil davon zu sein.“ Er habe Lust auf Forschung und vor allem auch Lehre in einer kleinen, familiären Fakultät mit hoher Hilfsbereitschaft. „Der nachfolgenden Generation möchte ich gern etwas von dem abgeben, was ich hier gelernt habe.“
TEXT Lutz Timm
FOTOS Studio Renard