„Corona hat eine Chance eröffnet“

„Corona hat eine Chance eröffnet“

Die Pandemie zwang Arbeitnehmer ins Homeoffice und Schüler in den Distanzunterricht. Der Digitalisierung könnten die Maßnahmen allerdings einen Schub versetzen, hofft der Kieler Bildungsforscher Olaf Köller. Jetzt müssten die Errungenschaften in die Klassenzimmer herübergerettet werden.

Herr Köller, im vergangenen Jahr hat die Corona-Pandemie Schülerinnen und Schüler in Deutschland in den Distanzunterricht geschickt. Bund und Länder haben verhältnismäßig schnell reagiert. So hat beispielsweise das Land Bremen knapp 100.000 iPads angeschafft, um alle Lehrkräfte und Schüler damit auszustatten. Eine wirksame Maßnahme oder blanker Aktionismus?

Köller: Natürlich ist es eine grundsätzliche Voraussetzung für die Nutzung digitaler Medien im Unterricht, dass jeder ein digitales Medium hat. Insofern sind die Initiativen, Schülerinnen und Schüler mit Endgeräten auszustatten, zu begrüßen – vor allem in Zeiten, in denen Schulen geschlossen sind. Insofern musste man angesichts des Distanzunterrichts einfach Geräte kaufen und sich um Online-Lernplattformen kümmern. Sobald der Unterricht wieder vor Ort stattfindet, müssen wir uns aber Gedanken machen, wie wir die Errungenschaften aus der Zeit der Pandemie herüberretten können.

Die Digitalisierung der Schulen ist also mit Tablets und Lernplattformen noch nicht abgeschlossen – oder?

Köller: Nein, sicherlich nicht. Diese Sachen sind zwar nice to have. Aber die Herausforderung wird sein, wie man diese Geräte didaktisch klug in den Unterricht integrieren kann – wie übrigens auch analoge Arbeitshefte oder Schulbücher. Das ist die große Aufgabe, vor der wir jetzt stehen.

Wie kann diese Integration funktionieren?

Köller: Es müssen Lernumwelten bereitgestellt werden – also ganz konkret intelligente Software, die auf diesen Tablets zum Einsatz kommt. Programme, die den Schülerinnen und Schülern beispielsweise ermöglichen, Arbeitsphasen und Sicherungsphasen im Unterricht digital zu erledigen. Dafür braucht man aber Software für mehr als 20 Fächer und 13 Jahrgangsstufen, die das alles auch leisten kann. Daran mangelt es zur Zeit noch. Genauso hakt es noch ganz massiv bei der Infrastruktur. Denn jeder Schüler und jede Schülerin mit einem Tablet braucht auch Login-Daten für einen funktionierenden Schul-Server. Wir müssen auch klären, was passiert, wenn ein Tablet herunterfällt, wer für Updates zuständig ist. Darum muss sich jemand kümmern.

Können Schulen so etwas überhaupt leisten?

Köller: Nein, aktuell können sie das nicht. Typischerweise wird es momentan so gelöst, dass beispielweise ein Physik-Lehrer eingespannt wird, weil er sich ohnehin für IT interessiert. Aber ein größeres Gymnasium mit 1200 Schülern und rund 100 Lehrkräften ist eigentlich ein mittelständisches Unternehmen und jedes mittelständische Unternehmen hat inzwischen zumindest eine IT-Abteilung, die sich um so etwas kümmert. Wenn man also über multiprofessionelle Teams in Schulen redet, muss man immer IT-Fachkräfte mitdenken. Dafür brauchen wir Konzepte. Es ist allerdings illusorisch, dass diese allein von den Schulleitungen erstellt werden können.

Olaf Köller, Portrait

Wie könnte eine Strategie aussehen, um solche Konzepte zu erarbeiten?

Köller: In der Bildungsforschung haben wir einfache Input-Prozess-Output-Modelle. Wenn wir im Fall der Schulen mit dem Output anfangen, muss zuallererst einmal geklärt werden, was genau die Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Da gibt es drei wichtige Bereiche. Das ist zum einen der informatische Bereich, in dem die Schüler Grundlagen der Informatik erwerben. Das zweite ist das, was wir ICT literacy nennen. Das sind Grundlagen, die wir alle brauchen, um mit Computern sinnvoll arbeiten zu können: Zum Beispiel, wie man mit Computern recherchiert, kommuniziert, wie man Fake News erkennen kann, wie man E-Mails schreibt oder ein Office-Paket nutzt. Das dritte ist die fachspezifische Nutzung von Computern, besonders in den Naturwissenschaften, die sehr stark von Simulationen und Modellierungen profitieren – und die kann man eben super mit Computern machen.

Viele Lehrer wissen aber selbst oft nicht, wie sie Computer richtig einsetzen können…

Köller: Wenn man diese drei gerade beschriebenen Kompetenzbereiche akzeptiert, muss man daran angepasst die Lehrerausbildung ändern. Im Grunde braucht man erst einmal Module, in denen angehende Pädagoginnen und Pädagogen selbst die Nutzung von Computern im Unterricht lernen. Das gilt natürlich auch für die Fort- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer, denn die entsprechenden Kenntnisse sind längst nicht bei allen vorhanden. Das ist eine große Herausforderung.

Und dann kann es losgehen?

Köller: Dann brauchen wir immer noch eine funktionierende Infrastruktur, um die sich die Schulträger kümmern müssen. Wir brauchen Server, die nicht gleich am Morgen, wenn sich 800 Schülerinnen und Schüler anmelden, zusammenbrechen. Wir brauchen hochwertige Endgeräte – auch für die Lehrerinnen und Lehrer. Und wir brauchen funktionierende Software, die noch entwickelt werden muss.

Machen wir uns bei Software und Infrastruktur nicht abhängig von den Daten sammelnden Technik-Riesen – etwa, wenn wir Apples iPads anschaffen?

Köller: Was wir brauchen, ist eine Kooperation zwischen Schulen, Trägern, Wissenschaft und Firmen, die in der Softwareentwicklung tätig sind. Das alles muss dann unter den Bedingungen der Datenschutzgrundverordnung laufen. Wir müssen klären, welche Daten gesammelt werden und wer Zugriff hat. Es gibt dafür ja auch schon Lösungen, bei denen die Lehrkraft Zugriff auf die Daten der Schülerinnen und Schüler hat – ansonsten wird nichts weitergegeben. Das muss sichergestellt werden. Aber das lässt sich alles managen. Die aktuellen Lernplattformen laufen ja schon alle datenschutzkonform, ohne, dass Daten an Amazon, Google oder Microsoft weitergegeben werden.

Und was passiert, wenn Schüler mit ihren Schul-Computern bei YouTube oder Amazon ihre Daten hinterlassen?

Köller: Ich glaube, dass sich das kaum verhindern lässt. Sie können Menschen in einer Demokratie nicht verbieten, so etwas zu tun. Was wir leisten können, ist sicherzustellen, dass die Daten geschützt werden, die im Kontext Schule und Unterricht entstehen.

Sie forschen auch zum Thema Künstliche Intelligenz im Unterricht. Wird KI irgendwann Lehreraufgaben erledigen?

Köller: Davon gehen wir aus. Wir selbst sitzen auch an intelligenten Systemen, die Aufsätze auswerten. Das Programm wertet Aufsätze sofort aus und gibt Rückmeldungen an die Schüler und Lehrer. Wir sind im Fach Englisch sehr weit und übertragen es aktuell auf das Fach Deutsch. Kollegen an anderen Hochschulen sind auch sehr weit bei Naturwissenschaften und Mathematik sowieso. Diese Systeme werden kommen. Dabei geht es aber nicht darum, Lehrkräfte zu ersetzen, sondern zu entlasten. Die Systeme sollen beispielsweise auf Fehler oder Besonderheiten in Aufsätzen hinweisen, die Lehrerinnen und Lehrer dann noch einmal anschauen können.

Kann ein Programm denn so etwas komplexes individuell bewerten?

Köller: Warum nicht? Wenn man sich die gängigen Kriterien für die Bewertung eines Aufsatzes anschauen, kann das ein Computer übernehmen. Inhalt, Kohärenz, Stil, Grammatik und Rechtschreibung können sehr gut automatisch kodiert werden. Wo die Systeme noch schwach sind, ist, wenn Schreiber besonders kreativ werden und absoluten, aber sprachlich hochwertigen Unsinn schreiben – dann findet das System die Texte manchmal trotzdem gut. Aber dafür müsste man schon einen sehr kreativen Text schreiben, der das Programm übertölpeln kann.

Ist der Weg zur digitalen Schule denn durch die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie etwas kurzer geworden?

Köller: Corona hat auf jeden Fall eine Chance eröffnet. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass Schülerinnen und Schüler nicht fünf Tage lang für sechs Stunden im Klassenzimmer hocken müssen, um den Stundenplan abzuarbeiten. Es gibt auch Einheiten, die man an andere Orte verschieben kann. Das sollten jetzt alle erkannt haben.

Olaf Köller ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik.

 

TEXT Robert Otto-Moog
FOTOS Shutterstock, privat