Das Freiwillige Handwerksjahr (FHJ) ist ein Angebot zur Berufsorientierung für junge Menschen mit Interesse an einer Ausbildung im Handwerk. Nadine Grün, Leiterin der Abteilung Nachwuchsgewinnung bei der Handwerkskammer Lübeck, spricht mit ME2BE über die Besonderheiten des FHJ und die Chancen, die das Projekt bietet.
ME2BE: Warum wurde das FHJ speziell für die Berufsorientierung im Handwerk entwickelt?
Nadine Grün: Es wurde entwickelt, um eine praxisnahe Berufsorientierung im Handwerk zu ermöglichen. In handwerklichen Berufen spielt der praktische Anteil eine zentrale Rolle – viele Jugendliche haben jedoch kaum die Möglichkeit, diesen Bereich im Schulalltag oder in ihrem privaten Umfeld kennenzulernen. Zugänge zum Handwerk sind für Schülerinnen und Schüler oft begrenzt, und die Entscheidung für einen Beruf fällt nicht leicht.
Das FHJ schließt eine Lücke in der Berufsorientierung: Es bietet Raum zum Ausprobieren, fördert das Kennenlernen unterschiedlicher Berufe und hilft so, individuelle Fähigkeiten und Interessen besser einzuordnen. Auch für junge Frauen bietet das Programm eine Chance, handwerkliche Berufe kennenzulernen, die gesellschaftlich noch häufig als männerdominiert gelten. Aussagen zur Wirkung des FHJ auf die Berufsentscheidungen von Frauen lassen sich derzeit noch nicht abschließend treffen, da das Programm noch sehr neu ist.
Wird das Angebot bisher gut angenommen?
Im Juli 2024 haben wir das Projekt gestartet und bis März 2025 32 Jugendliche vermittelt. Bereits während der Laufzeit haben sich elf Teilnehmende für eine Ausbildung im Handwerk entschieden – viele von ihnen im Beruf, den sie im ersten Praktikum kennengelernt hatten. Fünf weitere Jugendliche hatten sich für ein FHJ interessiert, haben nach geeigneten Berufen und Betrieben recherchiert und sich dann direkt für eine Ausbildung entschieden. Das zeigt uns: Für die Jugendlichen ist es gut, wenn man ihnen den Entscheidungsdruck nimmt. Denn dann fällt es ihnen viel leichter, eine Entscheidung zu treffen.
Aus welchen handwerklichen Bereichen kommen die Betriebe und können diese beliebig kombiniert werden?
Im Handwerk stehen über 130 verschiedene Berufe zur Auswahl. Wir sind in diesem Punkt sehr flexibel. Unser Tipp ist, mit dem Beruf zu starten, der am meisten anspricht. Jeder Teilnehmende entscheidet im Verlauf der Praktika selbst, wie es weitergeht. Wenn ein Beruf nicht zusagt, kann ein neuer Beruf ausprobiert werden.
Wenn sich jemand jedoch bereits während einer Station für eine Ausbildung entscheidet, kann er direkt einen Ausbildungsvertrag anstreben. In der Übergangszeit vom Praktikum bis zum Ausbildungsstart ist eine Einstiegsqualifizierung im gleichen Betrieb möglich, die möglicherweise auf die Ausbildung angerechnet werden kann. Das ist eine sehr gute Anschlussperspektive.
Welche Voraussetzungen müssen Schüler und Schülerinnen mitbringen, um am FHJ teilnehmen zu können?
Voraussetzung zur Teilnahme der Praktika ist ein Abschluss an einer Regelschule, also ESA, MSA oder Abitur. Es gibt keine Altersgrenze, wir haben auch Bewerber, die schon etwas älter sind, weil sie sich umorientieren wollen, beispielsweise aus einem Studium heraus. Das FHJ ist offen für alle; Vorkenntnisse werden nicht gebraucht, aber schon Praktikumsreife, Motivation und Verbindlichkeit.
Ist das FHJ gleichzusetzen mit dem FSJ oder ähnlichem?
Das FHJ ist an das Freiwillige Soziale Jahr angelehnt, verfolgt jedoch ein anderes Konzept: Im Unterschied dazu können hier mehrere Berufe zur Orientierung ausprobiert werden.
Wie läuft das FHJ ab? Wie kommen Betriebe und Jugendliche zueinander und welche Rolle spielt die Handwerkskammer Lübeck dabei?
Zunächst melden sich die Betriebe über ein Online-Formular bei der Handwerkskammer an, um ihre Bereitschaft zur Teilnahme zu zeigen. Die Betriebe werden dann in eine Datenbank aufgenommen.
Für die Jugendlichen sieht der Ablauf wie folgt aus: Sie melden sich ebenfalls online an und müssen vorab recherchieren, welche Berufe und Betriebe sie interessieren. Das gibt uns bereits einen ersten Eindruck von ihrer Motivation. Anschließend findet ein Beratungsgespräch statt, bei dem wir noch einmal über die Berufswünsche sprechen und mögliche Betriebe aus unserer Datenbank identifizieren. Natürlich können die Jugendlichen auch ihre Wunschbetriebe anfragen. Danach können sich die Jugendlichen bewerben und erhalten, je nach Bedarf, Unterstützung bei der Bewerbung.
Das ist der grobe Ablauf. Wie geht es dann weiter?
Die Schüler wählen zunächst einen Betrieb für ihr erstes Praktikum aus. Die Beraterin der Handwerkskammer steht in Kontakt mit den Praktikanten und begleitet sie während des gesamten Prozesses. Bevor das zweite Praktikum beginnt, wird rechtzeitig ein weiterer Betrieb ausgewählt, und die Bewerbung erfolgt.
Auf diese Art können die Schüler die Erkenntnisse aus dem ersten Praktikum einbringen und entscheiden, in welche Richtung sie weitergehen möchten. Wenn beispielsweise ein Praktikant bei einem Dachdecker tätig ist und feststellt, dass er Höhenangst hat, ergibt es wenig Sinn, einen weiteren Beruf auszuprobieren, der ebenfalls mit Höhenarbeit zu tun hat.
Wie sieht es mit der Bezahlung aus?
Jeder Praktikant bekommt eine monatliche Aufwandsentschädigung von 450 € brutto vom Betrieb.
Ist das FHJ auf eine bestimmte Region begrenzt oder können auch Schüler aus anderen Gegenden mitmachen?
Zunächst einmal haben wir in der Region die Betriebe aus dem Kammerbezirk der Handwerkskammer Lübeck. Das entspricht dem südlichen Schleswig-Holstein mit den Städten Kiel, Lübeck und Neumünster sowie den Kreisen Steinberg, Pinneberg, Segeberg, Stormarn, Plön, Ostholstein und Herzogtum Lauenburg.
Es wird in einigen Bundesländern diskutiert, ob das Projekt ebenfalls angeboten wird. Zunächst ist es als Pilotprojekt für den genannten Bezirk konzipiert. Es ist zunächst auf drei Jahre festgelegt und wird vom Schleswig-Holsteinischen Institut für Berufliche Bildung (SHIBB) gefördert.
Wen wollen Sie mit dem Programm erreichen?
Gemeinsam mit den Betrieben wollen wir Menschen für das Handwerk begeistern und gewinnen. Wir haben auch sehr viele Anfragen von Eltern für ihre Kinder und ein positives Feedback.
Wie machen Sie außerdem noch auf das Handwerk als Ausbildungsberuf aufmerksam?
Beispielsweise haben wir eine Veranstaltung für Eltern am 10. September 2025: „So können Sie ihre Kinder bei der Berufsfindung unterstützen.“ Und wir haben eine digitale Lehrstellenrallye für Schulen, die sehr erfolgreich ist. Unter anderem gibt es dabei Live-Schaltungen aus dem Betrieb direkt ins Klassenzimmer.
Wissenswertes
Innerhalb eines Jahres absolvieren die Teilnehmenden des Freiwilligen Handwerksjahres vier jeweils dreimonatige Praktika in unterschiedlichen Handwerksbetrieben. Dabei lernen sie verschiedene Ausbildungsberufe sowie betriebliche Abläufe kennen und sammeln praktische Erfahrungen. Das Programm unterstützt Schüler und Studienzweifler dabei, eine fundierte Entscheidung über ihre berufliche Zukunft zu treffen. Gleichzeitig bietet es Handwerksbetrieben die Möglichkeit, potenzielle Auszubildende frühzeitig kennenzulernen.
Zum Freiwilligen Handwerksjahr
TEXT Hilke Ohrt
FOTO Handwerkskammer Lübeck