„Je mehr man den Lernprozess optimiert, desto weniger handelt es sich um Bildung“

„Je mehr man den Lernprozess optimiert, desto weniger handelt es sich um Bildung“

Ein Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin und Medienpädagogin Prof. Heidrun Allert über digitalen Unterricht und die Frage, ob Tablets im Klassenzimmer dumm machen

Die Christian-Albrechts-Universität Kiel. Auf dem Weg in den fünften Stock zeigt Prof. Allert das Medien-Lager: ein winziger, vollgestopfter Raum mit vergangener Technik. Videokameras aus den 2000er Jahren, angestaubte Kassetten, uralte Abspielgeräte für das in den 1980er Jahren gängige Videoformat U-Matic. Damals haben Medienpädagogen viele Unterrichtsstunden mitgeschnitten, um die Unterrichtsmethoden zu dokumentieren. Die Kassetten haben sie noch, allerdings traut sich keiner mehr, sie abzuspielen: alte Videobänder reißen schnell.
Wir sprechen über den Einsatz digitaler Technologien vom Kindergarten bis zur Uni. Gerade hat das schwedische Karolinska-Institut eine Studie veröffentlicht, Kernaussage: Was genau digitaler Unterricht an Laptops und Tablets für den Lernfortschritt bedeutet, ist gar nicht hinreichend untersucht.

In der Bildungspolitik ist Digitalisierung das Buzzword. Von Tablets in Vorschulen bis zur KI im Studium. Und nun stellt das schwedische Karolinska-Institut in einer Studie fest, Moment mal, die Forschung hat bislang kaum etwas geliefert, ob digitale Werkzeuge in der Bildung überhaupt besser sind als analoge.

Zunächst einmal, die Forschung schaut schon seit mindestens 25 Jahren, gibt es denn Möglichkeiten, vernetzte digitale Medien zu entwickeln und einzusetzen, um andere Lernformen in den Unterricht zu bringen? Nicht individualisierte Methoden, die nur auf einen Schüler abzielen. Sondern Technologien, die forschendes, kollaboratives oder kooperatives Lernen ermöglichen. Und was dann in die Schulen kam, war hoch individualisierter Unterricht mit digitalen Medien. Ein riesengroßer Markt für kommerzielle Anbieter. Es kamen ganz andere Tools in die Schulen als das, was wir aus der Forschung gewünscht hätten. Es ging immer nur um individualisiertes Lernen. Wir erforschen neue und zukünftige Lern- und Wissensformen, nicht den Vergleich analoger zu digitalen Werkzeugen.

Nach dem Motto, Jeder Schülerin und jedem Schüler ein Tablet, alle Probleme gelöst‘?

Man spricht in der Pädagogik von Bildungsgerede. Es gibt so viele Anforderungen, so viele Krisen, so viele offene Fragen und so viele gesellschaftliche Herausforderungen. Und überall wäre es ja schön, wenn Bildung die Lösung wäre. Im Moment soll alles immer die Bildung richten. Und wenn Lehrkräfte einfache Konzepte hinterfragen, heißt es schon mal, sie hätten ja mit der Digitalisierung wohl nichts am Hut.
Das Interessante ist, dass junge Menschen selbst den Medien teilweise kritisch gegenübertreten. Wenn ich in eine Schulklasse komme und mich als Medienpädagogin und Bildungsinformatikerin vorstelle, merke ich, dass die Schülerinnen und Schüler über ihr eigenes Mediennutzungsverhalten auch negativ denken. Sie fragen: Macht das dumm? Da sage ich immer Nein, das macht nicht dumm.

Schülerinnen und Schüler haben Angst?

Man sagt im Großen und Ganzen entwickeln junge Menschen eine gute Medienkompetenz. Es gibt aber Fälle, wo sich die sozialen Problemlagen und die Mediennutzung gegenseitig verstärken und dann große Probleme bereiten. Medien und Digitalisierung sind und bleiben immer ambivalent für Gesellschaften. Und die Medienkompetenz Einzelner kann diese Ambivalenz nicht vollkommen auflösen.

Wie weit gehen denn diese Ängste, auch über Schulen hinaus?

Wir haben gerade mit Studierenden ausprobiert, was wäre, wenn ich eine Abschlussarbeit gar nicht betreuen würde, sondern ChatGPT? Dann haben die Studierenden ihre Erfahrungen protokolliert, die derzeit erlernt werden sollten: Wie arbeiten Menschen mit Medien? Wie verändert sich die Arbeit? Wie können wir gemeinsam gut mit Medien arbeiten? Wie arbeitet ChatGPT?

Heißt das etwa im nächsten Schritt auszuprobieren, ob Schülerinnen und Schüler ohne Lehrer auskommen?

Nein, überhaupt nicht. Das wird auch nie passieren. Wenn man über den Computer und Lernen nachdenkt, darf man das nicht aufs Lernen an sich reduzieren. In der Klasse passiert ja noch viel mehr. Jeder, der ein Lehramt studiert, lernt auch etwas über das Management einer ganzen Schulklasse: Wie kriegt man eine Schulklasse auf eine gemeinsame Mission? Wie lässt sich eine Schulklasse organisieren? Lernen ist da ein Teil dessen, aber natürlich nicht alles. Es gibt aber auch die technikeuphorische Position: Lernen gelinge besser außerhalb von Schule, mit digitalen Mitteln. Da ist unsere Aufgabe, über gute Schule nachzudenken, sie etwa konsequent demokratisch zu gestalten. Denn Schulen halten Gesellschaft zusammen und ermöglichen Inklusion.

Ab wann sollten Kinder denn mit digitalen Werkzeugen arbeiten?

Grundsätzlich gesagt: Medien sind mehr als Werkzeuge. Digitalisierung strukturiert alle Lebensbereiche. Eine entwicklungspsychologische Antwort lautet: Kinder bis zum Alter von drei oder vier Jahren sollten Bildschirmmedien wenig, ab fünf und sechs Jahren in Begleitung von Erwachsenen nutzen. Es gibt zahlreiche Projekte der aktiven Medienarbeit in Kindergärten. Es werden zum Beispiel eigene Hörspiele oder kleine Trickfilme produziert. Das ist wertvoll und wichtig, denn die Kinder wachsen in einer von Medien geprägten Welt auf und möchten an dieser teilhaben. Kinder und Jugendliche nutzen Medien manchmal sogar um sich der elterlichen Aufmerksamkeit zu entziehen oder sogar anzuecken – auch das ist wichtig in einer bestimmten Lebensphase.

Wie haben sich denn die Grundsätze der Arbeit mit digitalen Medien aus Ihrer Sicht in der Pandemie verändert?

Die Pandemie ist ein Beschleuniger für etwas, das schon viel, viel länger in die Schulen kam. Das ist der Aufbau des selbstregulierten und selbstorganisierten Lernens. Dass Kinder sich Wochen- oder Tagespläne selbst und in Begleitung machen und daran orientiert arbeiten und Ziele erreichen – mit Medien. Die Entwicklung startete spätestens in den 1990er Jahren. Damals kamen vernetzte und digitale Technologien an den Arbeitsplatz. Nun durften Menschen zunehmend Entscheidungen über ihre Arbeitsprozesse selbst treffen. Einzelne und Teams durften sich zunehmend selbst organisieren. Allerdings war diese Form der Emanzipation an das Vorhandensein von Daten in diesen Technologien geknüpft. Die Technologien sammeln Daten und damit wurde die Arbeitsleistung der Einzelnen messbar. Man durfte also zunehmend selbst bestimmen, weil die ‚Performance‘ mittels Daten kontrollierbar wurde. Mittlerweile sind Technologien und der Wunsch nach Selbstorganisation und Selbstbestimmung in alle Lebensbereiche eingedrungen. In zahlreiche digitale Werkzeuge sind sogenannte ‚Datendashboards‘ eingebaut. Man kann die Leistung der Schülerinnen und Schüler über Daten kontinuierlich einsehen. Für die Bildung wünsche ich mir aber, dass sie zunehmend mitbestimmen dürfen und selbst mitentscheiden, welchen Fragen sie nachgehen möchten.

Was hatten Sie sich denn vorgestellt?

Für uns als Pädagoginnen und Pädagogen ist eine zentrale Frage: Welche Lernformen und welche Form der Arbeit mit Wissen braucht es in der Zukunft? Wie sollten wir zusammen lernen und mit Wissen umgehen, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen? Dem folgt dann die Frage: Wie müssen gute Lerntechnologien aussehen. Ich gebe ein Beispiel für Grundschulen: Auch Grundschülerinnen und Grundschüler können forschen. Zwei Forscher aus Kanada entwickelten bereits Mitte der 1990er Jahre eine Technologie namens CSILE. Damit können Grundschulklassen Fragen nachgehen, die sie sich selbst stellen. So arbeitete eine Klasse im Labor mit einem Prisma und stellte fest, dass ein Regenbogen entsteht. Und dann kamen die Kinder auf die Frage: Weswegen kommen denn die Farben im Regenbogen immer in der gleichen Reihenfolge an? Warum ist das so? CSILE unterstützte die Gruppe, diese Fragen selbst zu beantworten. Dabei bildeten die Kinder Arbeitshypothesen, suchten Informationen, fanden Widersprüche oder Lücken in ihrer eigenen Arbeitstheorie und formulierten ihre eigene Erklärung. Und sie erkannten, dass die Kapazität der Gruppe mehr ist als die Summe der Kapazität der Einzelnen: Dass die Gruppe etwas entwickeln kann, indem sie eine Hypothese generiert, Erklärungslücken sucht, Informationen letztlich findet. Und Lernprogramme sollten diese Art von forschendem und kooperativem Lernen unterstützen. CSILE kam aber nicht an deutsche Schulen.

Man hat also die Schulen einfach mit Laptops ausgestattet und dann gesagt: Hier ist ein Werkzeug und transformiert das, was ihr vorher gemacht habt, mit diesem Werkzeug?

Das Lernen an sich würde mit Tablets vielleicht unterstützt werden. Aber digitales Lernen ist kein digitalisierter Unterricht. Digitalisierung ist in der Gesellschaft schon lange kein Werkzeug mehr, sondern ein Transformationsprozess. Städte sind heute digital geplant, und wir nutzen sie, ohne darüber nachzudenken. Wir sprechen in der Pädagogik mittlerweile von Postdigitalität. Das heißt nicht, dass Digitalität wieder abgeschafft ist, sondern dass digitale Strukturen einen großen Einfluss auf uns alle haben, selbst wenn wir die Geräte gerade nicht nutzen. Es wird immer von Geräten und Werkzeugen gesprochen. Das ist aber nicht mehr Stand der Dinge, wir sprechen jetzt über Bildung mit Medien, durch Medien und über Medien.Frau

Digitalität heiß wohl, dass man akzeptiert, es gibt kein Zurück.

Absolut. Und jede unserer Lebenswelten ist überformt durch Digitalität.

Politik ist immer sehr ergebnisorientiert. Es klingt so, als müssten die Schulen nur digitalisiert werden und alle Probleme seien erledigt.

Genau so wird es manchmal dargestellt. Als könne nun Digitalisierung oder KI all die Probleme lösen, die bisher nicht gelöst werden konnten. Digitalisierung ist eine Entwicklung, die immer weitergeht, so dass wir uns ständig überlegen müssen, was gute Bildung eigentlich ist? Das lässt sich teilweise eben nicht digital lösen. Bildung ist etwas, was man nicht einfach so herstellen kann.
Gert Biesta, ein niederländischer Forscher, hat die Relation von Input und Output für diesen Zusammenhang beschrieben: Input ist, es kommt eine Schülerin rein, die hat einen bestimmten Wissensstand. Output ist, es geht eine Schülerin raus, die hat einen anderen Wissensstand. Er hat nun festgestellt, je optimaler man das gestalten kann, desto weniger ist es eigentliche Bildung. Kurz gesagt: Je mehr man den Lernprozess optimiert, desto weniger handelt es sich Bildung.

Bildung ist also letztlich doch das Ringen mit sich selbst?

Ja, das Ringen mit sich und der Welt. Besser: Die Veränderung des eigenen Verhältnisses zur Welt. Bildung ist nicht, innerhalb gewisser Regeln von A nach B zu kommen. In einer demokratischen Gesellschaft muss Bildung auch ermöglichen, dass man sich mit Regeln auseinandersetzen kann.
Auch mal Grenzen austestet. Warum gibt es Regeln? Wie können wir gemeinsam über Regeln verhandeln? Was ermöglichen Regeln, auch wenn sie mich selbst einmal beschränken?
Von daher muss es eigentlich immer scheitern, ganz auf Technologien der Optimierung in der Bildung zu setzen, wenn man Bildung ernst nimmt. Und das finde ich eigentlich das Schöne daran, nicht das Problematische.

Gerade entsteht eine ‚Nationale Bildungsplattform‘ – sozusagen die Kursplattform der Nation mit allen erdenklichen Zugängen zu Kursen, Materialien und Informationen kommerzieller und nichtkommerzieller Anbieter.

Die Idee ist, eine Infrastruktur zu schaffen, in der national alle Bildungsangebote bereitgestellt werden können. Die Frage aber ist, kann so etwas ganz neutral sein, ganz unpolitisch? Ich meine, nein. Wenn wir uns zum Beispiel die Planung von Straßen anschauen, dann können wir überlegen, wie wünschen wir uns deren Gestaltung: Möchten wir, dass sie primär autogerecht ist? Oder für Fahrräder? Oder den ÖPNV? Und so haben wir auf die Entwicklung der nationalen Bildungsplattform geschaut. Die Entwicklerinnen und Entwickler sagen, das sei pädagogisch neutral. Aber eine Infrastruktur kann eigentlich nie neutral sein kann. Sowenig wie wir uns neutrale Straßen vorstellen können. Wenn ich über Infrastrukturen nachdenke oder Bildungsangebote, dann sind immer politische Fragen involviert.

TEXT Christian Bock
FOTO Sebastian Weimar