Aufbruch ins Zeitalter der prinzipiell unlösbaren Probleme

Aufbruch ins Zeitalter der prinzipiell unlösbaren Probleme

Emeritierter Ästhetik-Professor, Philosoph und Künstler: Bazon Brock prägt mit seinen publizistischen und künstlerischen Arbeiten und Aktionen seit Jahrzehnten nicht nur ästhetische Wahrnehmungsweisen. Als gefragter „Denker im Dienst“ bezieht der 84-jährige Wahlberliner außerdem regelmäßig Stellung zu aktuellen Entwicklungen und ist als Gesprächspartner weit über die Kunstszene hinaus präsent. Mit seinem Konzept der Besucherschulen arbeitet Brock bis heute unermüdlich an der „visuellen Alphabetisierung“ der Gesellschaft – und lässt sich bei diesem Vorhaben auch nicht durch Standortprobleme ausbremsen: Nach dem erzwungenen Auszug aus der Denkerei – dem Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen – im Berliner Ortsteil Kreuzberg ist er mit der „Denkerei mobil“ an unterschiedlichen Orten zu verschiedenen Themen unterwegs. Geboren 1936 in Stolp, Pommern (heute: Słupsk, Polen) absolvierte Brock sein Abitur in Itzehoe, wo ihm sein Lateinlehrer den Spitznamen „Bazon“ (griechisch: Schwätzer) gab. Er, der „Denker im Dienst und Künstler ohne Werk“, wurde Professor am Lehrstuhl für Ästhetik und Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal (1977-2001). Zuvor hatte er Professuren an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1965–1976) und der Universität für angewandte Kunst in Wien (1977–1980) inne. Im Campus-Interview äußert sich Bazon Brock zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen, unter anderem zu den Fridays-for-Future-Protesten, die er als Hoffnungsschimmer für künftige Generationen sieht. Dass die Klimaaktivisten ihre Ziele durchsetzen können, glaubt er dennoch nicht. Ein Gespräch über die Ambivalenz der Jugendbewegung, den zunehmenden Orientierungsverlust in einer Welt ohne Glauben, die gefährdete Zukunft des Menschen als Individuum und die besondere Rolle/Verantwortung der Wissenschaft in einer/dieser Zeit der Umbrüche.

Kunst – Besucherschulen – Bildung

Herr Brock, im April 2019 mussten Sie nach Sieben Jahren die Räume der ‚Denkerei – Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen‘ im Berliner Ortsteil Kreuzberg verlassen. Was macht ein Künstler ohne sein Atelier?

Wir machen ja keine Kunst, die an der Wand hängt. Wir schaffen Werke als Werkzeuge, als Erkenntniswerkzeug. Was herkömmlich Werk genannt wird, ist für mich eben abgelegtes Werkzeug. An der Wand hängt nicht Kunst, sondern bearbeitetes Material. Kunst entsteht nur durch die intellektuelle Arbeit des Betrachters.

Das haben Sie ja mittlerweile aber auf eine Ebene gebracht, die man als Kunst bezeichnen könnte.

Eben, eben. Wir nennen das Resultat ‚theoretische Kunst‘, Kunst im Konjunktiv als gegebene Möglichkeit gegenüber dem banalen Gestaltungsresultat. Denken Sie z.B. an theoretische Mathematik und theoretische Physik.

Der Öffentlichkeit besonders in Erinnerung geblieben ist die Erste ‚Besucherschule‘ bei der vierten ‚Documenta‘ 1968.

Ja. Weitere Besucherschulen folgten 1972, ’77, ’82, ’87 und ’92. Sie werden gegenwärtig in der Literatur als eine Haupterfindung der Documenta gewürdigt. Was die Documenta absolut neu eingeführt hat, waren erstens die Besucherschulen, das ist mein Konzept, zweitens seit der Documenta fünf, thematische Ausstellungen, auch die sind mein Konzept.

Sie haben damals zur Besucherschule gesagt, das Ziel sei, das Publikum visuell zu Alphabetisieren, also Neugier zu wecken und die Besucher als Partner der Künstler mit herinzunehmen. Wie aktuell ist das Konzept?

Es gibt gegenwärtig für die politische Bildung kein anderes Konzept, als sich zu professionalisieren gegen die Übermacht der Evidenzmedien: Werbung zum Beispiel und Propaganda. Das ist der entscheidende Punkt. Wir verfolgen immer noch dasselbe Ziel: Alphabetisierung der Bildanalphabeten durch ‚Erziehung‘ zur Evidenzkritik. Das heißt, im Bild wird etwas vorgespiegelt im Hinblick auf Dinge, und das kann nur erkannt werden, wenn man lernt, das zu durchschauen und zu kritisieren. Die Evidenzkritik ist ja das Medium der Kunst.

Gesellschaftliche Veränderung – Protestbewegungen

Lässt sich durch Kunst eine gesellschaftliche Veränderung erreichen?

Eine gesellschaftliche Veränderung gibt es ja nicht einmal mehr über Gesetzeswerke oder Parteiprogramme. Wie soll denn da über künstlerisches Arbeiten etwas geschehen? Nein, die Veränderungen gibt es über Technologieentwicklungen, etwa durch die Künstliche Intelligenz. Die Einführung der Dampfkraft oder der Elektrizität, das waren die wirklichen gesellschaftsverändernden Vorgänge. Alles andere ist ja ein Versuch, dem gewachsen zu sein. Bildung besteht doch darin, sich von den objektiven Tendenzen nicht überwältigen zu lassen. Wir lernen, uns als Individuen gegen diese objektiven Zwänge zu behaupten, aber nicht, indem wir sie leugnen, sondern indem wir die Wahrheit dieser objektiven Entwicklungen anerkennen und uns dann mit der Kritik an der Wahrheit am Leben erhalten.

Warum empfinden es viele Menschen als schwierig, sich in so einer Welt zu orientieren?

Uns fehlt der Glaube, der uns vereinigen könnte. Das ist Grund zur Sorge. So etwas hat es nie vorher in der Geschichte gegeben, dass die Individuen keinen Anschluss an ihresgleichen fanden, weil sie keine religiöse Überzeugung hatten, keine kulturelle Identität gelten lassen konnten, keine nationale oder sonstige Einheit formell wählen konnten. Daher stellen sich ganz grundsätzliche Fragen: Was heißt heute eigentlich Universalisierung? Was heißt Macht der Globalisierung? Was heißt Macht der Einheit der Welt in geografischer Hinsicht, in Hinsicht auf Gedankengebäude sowie auf Kultur- und Weltverständnis? Wo steht der Mensch in der Welt, wenn er in der Welt gar nicht mehr vorkommt?

Es gibt also gar kein verbindendes Moment mehr?

Das müssen die Menschen selbst entwickeln. Die einzige Form, die es gegenwärtig gibt, sind Proteste gegen die Rücknahme von Freiheiten wie etwa in Hongkong 2019. Und natürlich die Debatte um die Fridays-for-Future-Bewegung. Das sind Fokusbewegungen auf globaler Ebene, die die Möglichkeit bieten, sich zu vergemeinschaften ohne Ideologie, ohne Nationalismus, Rassismus – Ideologien der klassischen Art. Das scheint etwas Hoffnungsvolles zu sein. Aber auch diese Massenbewegungen schließen ja die Forderung der Individuen nach Respekt, nach Lebensgerechtigkeit nicht ein. Nur Kollektive können sich auf diese Weise wirksam wehren. Die Zukunft gehört also der Menschheit, aber nicht mehr den einzelnen Menschen. Und das ist natürlich kontraproduktiv für die Erfahrung der Einzelnen, denn sie schließen sich ja zusammen, um als Einzelne zu überleben.

„Die Zukunft gehört der Menschheit, aber nicht mehr den einzelnen Menschen.“

Der einzelne Mensch wird also gar nicht wahrgenommen?

Einzelne spielen keine Rolle. Und das heißt, Europa spielt keine Rolle, denn Europa ist das Prinzip der Individuation. Seit 1400 gibt es hier das Prinzip der Autonomie von Künstlern und Wissenschaftlern, Artikel 5 Absatz 3 im Grundgesetz. Nur der, der Autorität als Autor, also als Individuum, besitzt, ist dann als Autorität noch wahrnehmbar. Aber 46 48 49 Menschen kommen als Individuen im Grunde gar nicht mehr vor.

Klingt ambivalent.

Nicht nur das. Es ist doch das Zeichen, dass die Kapitalmacht nicht lockerlässt. Zugespitzt formuliert: Bei den ’68ern bestellte die konventionelle gesellschaftliche Ordnungsmacht die Demonstrationen, um zu zeigen, wie großartig und liberal sie ist. Und deswegen wurden alle Linken, Grünen und Radikalen ausgezeichnet, während wir Bürgerlichen, die wir wirklich substanziell auf etwas bestanden, die rote Karte gezeigt bekamen, während die ‚Schreihälse der Besserwisserei‘ eine Auszeichnung nach der anderen erhielten, weil es das System stützte. Schließlich gab es keinen Hebel mehr, das System wirklich zu verändern. Ich habe den Eindruck, bei der Fridays-for-Future-Bewegung läuft es jetzt nach demselben Schema. Coffee to go während der Demo der jungen Leute – das war für mich eine große Enttäuschung, weil sich zeigt, die Stufe der Selbstreflexion des Bewusstseins ist heute eben doch nicht höher.

Wo liegt das Problem?

Die jungen Menschen sind gar nicht aufgeklärt genug über sich selbst. Sie sind ein bisschen aufgeklärt über das System, aber über sich selbst nicht.

Sollten die Aktionen nicht ganz nach Ihrem Geschmack sein: Schüler gehen auf die Straße, stellen den Protest also über den Unterricht und wenden sich gegen die Klimapolitik der Regierung?

Ja, das ist der einzige beispielgebende Hoffnungsschimmer, den es gegenwärtig gibt. Die Demonstrationen in Hongkong und weltweit für das Klima haben wirklich eine politische Dimension. Ob jemand auf die Fridays-for-Future-Bewegung reagieren wird, werden wir sehen. Hoffnungsschimmer sind es, aber die Hoffnung hatten wir schon in den sechziger Jahren, siebziger Jahren, achtziger Jahren, und dann kam die Yuppie-Kultur und hat das Ganze in Kapital umgewandelt.

…oder vom Umgang mit unlösbaren Problemen …

Für Ihre ‚Denkerei‘, die sich als ein ‚Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen‘ versteht, müssten das doch spannende Themen sein.

Die Frage ist: Wie entwickeln sich Gesellschaften, wenn die Zielsetzungen des Politischen und Programmatischen nicht fruchten? Das ist ja in der Medizin sehr ähnlich. Jeder weiß, dass Rauchen schädlich ist, und trotzdem wird geraucht. Alkohol ist nicht gerade lebensförderlich, und trotzdem trinken die Menschen. Dabei haben wir Beispiele, wie man mit prinzipiell unlösbaren Problemen umgehen muss: Man muss sie managen. Darin besteht das eigentliche Problem.

Inwiefern?

Ja, wo kriegen wir denn die Eliten her, das heißt die Führungs- und Machereliten, die mit diesen Gegebenheiten rechnen? Und das sehen wir als unsere Aufgabe, sie zu befähigen und zu ermutigen, den Umgang mit unlösbaren Problemen als ihre Aufgabe zu begreifen.

Welche Rolle spielt die Kunst in diesem Zusammenhang?

Die Kunst liefert für alle Formen der Selbstwidersprüchlichkeit, Selbstzerstörung und Selbstwiderlegung natürlich die besten Beispiele, vor allem im Hinblick auf das künstlerische Tun – Künstler leben meistens im Abseits, bis auf die vier Prozent Stars, die Geld verdienen, der Rest beutet sich selber aus. Dieses ‚Schicksal‘ aber droht früher oder später allen Menschen. Die Künstlerexistenz droht allen. Und deshalb hat Beuys gesagt: ‚Jeder muss ein Künstler sein.‘ Wir sollten heute so leben, als ob wir die Künstlerexistenz als unsere eigene anerkennen. Alle würden dann auf der Ebene des Vabanque-Spiels leben wie Künstler immer schon, denn die, die es aus der Not heraus machen, haben den größten Antrieb, sie sehen: Denken hilft, satt zu werden.

Was dürfen wir hoffen?

Das ist doch die Grundfrage. Wenn Hoffnung aber verloren geht, weil man immerzu gesagt bekommt, es gebe keine Abhilfe, dann bleibt nur eins, nämlich die Kritik genau dieser Art von Erfahrung, das heißt die Kritik der Wahrheit. Und das ist das heutige Metier. Die Zustände sind nicht zu verändern im Sinne der Programmatiken, sondern man kann sie nur als unwahr kennzeichnen und damit der Wahrheit verpflichtet sein. Wenn ich zum Beispiel sage, dass dieses System falsch und ideologisch ist, weil es einen Markt behauptet, den es gar nicht gibt, dann habe ich wenigstens einen Bezug zur Wahrheit. Und das ist das einzige, was uns noch bleibt: den Bezug zur Wahrheit durch Kritik der Wahrheit herzustellen.

Wissenschaft – Kritik – Glaube

Inwiefern lässt sich das denn auf die Gesellschaft übertragen?

In der Wissenschaft ist es schon die relevante Größe geworden, denn Wissenschaft heißt, alle hypothetisch angenommenen Wahrheiten zu widerlegen. Kritik ist also die Basis der Wissenschaft. Prinzipiell ist Wissenschaft nichts anderes als Kritik jeder Wahrheitsbehauptung.

Das Prinzip der Falsifikation also.

Ja. Am Prinzip der Verifikation orientieren sich Kinder, am Prinzip der Falsifikation Wissenschaftler. Und das Gleiche gilt natürlich für den Glauben. Wer nicht radikal zweifeln kann, kann nicht glauben. Das heißt, wir müssen lernen, zu zweifeln, um glauben zu können.

„Kapitalismus einführen“

Im Kapitalismus ist es doch der Markt, der einen quasireligiösen Charakter besitzt.

Der Markt ist der Gott, aber es gibt in Wahrheit keinen Markt, der irgendetwas selbst reguliert. Im Unterschied zur 68er-Bewegung sagen wir nicht ‚Kapitalismus abschaffen‘, sondern wir sagen ‚Kapitalismus endlich einführen‘. Endlich diesen guten Zauber, der jetzt hier herrscht, als Ideologie und Religion abschaffen, indem man einen freien, unregulierten, ohne Subventionen manipulierten Markt einführt – das ist die Aufgabe. Und damit sehen Sie, dass wir wirklich ein Projekt haben. Wir wollen endlich Kapitalismus einführen, wir wollen endlich die Realität als Regulativ, als Markt anerkennen.

Was würde sich ändern?

Die Probleme würden als beherrschbar dargestellt. Denn wenn der Markt nicht reguliert wäre, dann ließen sich die wirklichen Probleme erkennen und als erkannte Probleme, wenn auch prinzipiell unlösbar, dennoch bewältigen – sprich: meistern. Ein Unternehmer ist eigentlich jemand, der fähig ist, unlösbare Probleme zu beherrschen und zu meistern, und nicht den lieben Gott spielen will. Die fähigste Gesellschaft in dieser Hinsicht scheint ja die chinesische zu sein, weil sie keine Götter kennt, aber leider hat sie mit dem kapitalistischen Sozialismus wieder den schlimmsten aller Götter eingeführt. China ist die einzige Kultur, die seit dreitausend Jahren ohne Gott ausgekommen ist. Das ist schon sensationell. Aber diese kulturelle Errungenschaft wird durch den sozialistischen Kapitalismus zerstört. WARUM? Weil es gar nicht um die Individuen geht, sondern ausschließlich um den Staat selber. Und der reguliert sich und unterwirft die anderen.

Herr Brock, vielen Dank für das Gespräch.

TEXT Lutz Timm
FOTO Florian Kolmer