Ulrich Thormann brachte es vom vermeintlichen ‚Schulversager‘ zum gestandenen Architekten. Doch er ist viel mehr als das: Ein Blick hinter die Fassaden der Gesellschaft.
Hamburgs Hafenstraße ist nur einen Steinwurf von der Elbe, dem Hafen und der Reeperbahn entfernt. Hier entlud sich in den 1980er Jahren die Wut junger Menschen auf den Staat, insbesondere die Baupolitik. Kein Wunder: Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft SAGA ließ in der Hafenstraße eine Reihe erhaltenswerter Mietshäuser aus der Gründerzeit verkommen. Auf dem Filetgrundstück sollten adrette Büropaläste entstehen – und fette Rendite abwerfen.
So der Plan. Der allerdings ging nicht auf. Ende 1981 wurde in den Häusern eine rauschende Silvesterparty gefeiert – und als die Party zu Ende war, waren die Gäste noch immer da. Kurzerhand besetzten sie die Häuser. Kurz darauf wurde geräumt. Dann wieder besetzt. Ein Katz-und-Maus-Spiel, das immer neue Varianten hervorbrachte, begann. Zwischenzeitlich wurde „instandbesetzt“ und vor den Häusern ein Totempfahl aufgestellt – Warnung an die Bullen! Was lustig klingt, wurde bitterer ernst: brennende Barrikaden, heulende Sirenen, Schlagstöcke. Der Streit sollte 15 Jahre andauern und immer energischer gefochten werden.
Die besetzten Häuser wurden zum bundesweiten Symbol im Kampf gegen den Staat.
Verschiedene Gruppen gingen für ihren Erhalt auf die Straße und setzten ein Zeichen gegen die Abrisspolitik des Senats. Der Ton-Steine-Scherben-Song „Macht kaputt was Euch kaputt macht“ war ihre Hymne. Unter den Demonstranten war auch ein Architekt aus Bremen, der sich bereits in Brokdorf, bei der Anti-AKW-Bewegung, engagierte: Ulrich Thormann. Auf den Demos traf er gleichgesinnte Studienfreunde, die, wie er, als Architekten nicht Erfüllungsgehilfen von Investoren und ihren Renditeplänen werden wollten. Sie zeigten sich solidarisch mit den Betroffenen und forderten eine behutsame Stadterneuerung.
Der Verein „Mieter helfen Mietern“ kam auf die Idee, eine Arbeitsgruppe zu gründen. Man beschäftigte sich mit der Frage, welches Instrument nötig sei, um die Visionen durchzusetzen. Thormann schloss sich an. 1985 war er dann Gründungsmitglied des Alternativen Sanierungsträgers „Stattbau Hamburg“. Das Büro ist heute eine Instanz im Bereich der behutsamen Stadterneuerung. Thormann, der zuvor in Bremen fünf Jahre lang die medizinischen Funktionsbereiche eines großen Krankenhauses geplant hatte, heuerte bei Stattbau an und war dort für 20 Jahre Architekt für soziale Projekte, plante Jugendmusikzentren, Kindergärten und Wohnprojekte.
Kindheit im Architekturbüro
Ulrich Thormann ist heute 77 Jahre jung, hat leuchtende Augen und wehend weiße Haare. Anfang November steht er pünktlich um 9 Uhr vor meinem Hamburger Büro. Gelbe Cordhose, weißes Hemd, olivgrün gestreifte Weste. Per Mail bat er mich vorab: „Einen starken Kaffee sollten Sie um die Uhrzeit haben!“ Hatte ich.
Thormann erzählt aus seinem bewegten Leben. Die Eltern mussten im Frühjahr 1945 ihre Heimatstadt Weißwasser verlassen. Die Geschichte der Stadt, nördlich von Görlitz an der polnischen Grenze gelegen, prägt bis heute sein Leben. Sein Urgroßvater trieb dort den Braunkohleabbau und die industrielle Entwicklung der Glasindustrie voran. Sein Großvater war ein bekannter Bauunternehmer. Es gab keine geordnete Stadt- und Wohnungsbauplanung, Investoren hatten freie Hand – ohne Rücksicht auf Mensch und Natur.
Das einstige Dorf ist von 750 Einwohnern binnen 20 Jahren um 15.000 Menschen gewachsen. Doch das ist lange her. Ulrich Thormann erinnert sich noch heute daran, wie sein Vater über das Drecksnest fluchte: „Amerikanische Boomtown“ nannte er Weißwasser. Thormanns Vater hatte auf Grund seiner Nazi-Karriere große Rüstungsaufträge und trotz Krieg bestens verdient. Mit der Aufgabe von Weißwasser floh dann die Familie wenige Wochen vor dem Beginn des Sturms der Roten Armee auf Berlin in den Westen. Die Familie verlor Besitz und Kapital.
Ulrich Thormann kommt 1946 in Bielefeld zur Welt. Sein Vater betreibt dort ein Architekturbüro im Souterrain einer zerstörten Villa. Ulrich darf im Büro sein, dem Vater über die Schultern schauen, unter seinem Zeichentisch spielen, für den Papa auf einem Reibebrettchen die Bleistifte spitzen. Wenn ihm langweilig wird, geht er nach draußen, spaziert durch die Straßen. Manchmal darf er mit auf die Baustellen – im Automobil fahren sie über die Lande.
Das prägt. Inzwischen lebten sie in Bremen, wo der Vater weiter als Architekt arbeitete. Und das will auch der junge Ulrich Thormann werden. Wobei seine Schulnoten klar dagegen sprachen. „Ich war damals sicherlich der schlechteste Schüler der Stadt Bremen, und wurde wegen Blödheit, Faulheit und Dreistigkeit von der Schule geschmissen. Ein richtiger Schnösel bin ich gewesen“ , blickt Thormann zurück – und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mit Autoritäten hatte er Probleme. Wegen der jahrelangen Auseinandersetzungen mit seinem Vater, der am Wochenende gerne die Nationalzeitung las und inzwischen Professor geworden war, hatte er so seine Schwierigkeiten. Man kann das aufmüpfig nennen. Man kann es aber auch Haltung nennen. Diese Grenze lässt sich nicht so geradlinig zeichnen, wie einen Grundriss.
Quasi eine Architekturlehre
Grundrisse sollte der junge Thormann vorerst ohnehin nicht zeichnen. Höchstens lesen. Der ‚Schulversager‘ macht zunächst eine Betonbauerlehre. Abends geht er auf die Privatschule und holt die Mittleren Reife nach: „Meine Eltern hatten zum Glück Verständnis für die außergewöhnliche Situation nach dem Schuldesaster.“ Sein Vater wusste, dass das Zeichnen seinen Sohn nicht losließ. Also begann Thormann eine Ausbildung zum Bauzeichner bei einem der besten Bremer Architekten. Der mochte ihn. Jeden Morgen setzte er sich eine halbe Stunde neben Thormann, um dessen Arbeiten durchzugehen. Nach wenigen Monaten schon durfte Thormann erste eigene Entwürfe zeichnen. „Das war ein echtes Meister-Schüler-Verhältnis. Meine Bauzeichnerlehre war quasi eine Architekturlehre.“
Mit einem hervorragenden Zeugnis, wie Thormann sagt, bewirbt er sich 1967 an verschiedenen Fachhochschulen. Es klappt. Er beginnt ein Architektur-Studium, mit Stationen in Nienburg, Aachen, schließlich an der TU-Berlin und der HfbK Hamburg. Die vielen Hochschul- und Ortswechsel erfordern hinsichtlich der Prüfungsordnungen allergrößte Aufmerksamkeit. Außerdem musste die Studienförderung beachtet werden. Er lernt zu arbeiten, ist überall voll dabei, freut sich über die Freiheit des Studentenlebens, ist in vielen Projekten und initiativen aktiv. Natürlich auch in der Studentenbewegung.
„Den haben wir rausgeschmissen“
Doch bis zum fertigen Architekten ist es ein wortwörtlich steiniger Weg. Thormann ist die gesamte Studienzeit immer dort, wo nach Reform, Veränderung und Alternativen gerufen wird. In Aachen protestieren sie und streiken ein Semester lang. Sie wollen politisch Druck machen und mauern den gläsernen Eingang der Fachhochschule zu. Hintergrund hierfür ist das Chaos der Hochschulreform, besonders die Probleme der Studienabschlüsse zwischen den Bundesländern, aber auch die fehlende, europaweite Anerkennung der Abschlüsse. Der Unmut der Studentinnen und Studenten wird immer größer. Zudem verschärft sich die allgemeine weltpolitische Lage: Die USA steigen zur imperialistischen Supermacht auf. Kalter Krieg. Vietnam-Krieg. Die Berichte des Club of Rome.
Architektur und Stadtplanung waren oftmals ein Spiegelbild der Lage: Zu Stein gewordene Verachtung. Menschenfeindlich. Dem Kapital dienend. Thormann wollte das nicht hinnehmen. Er wusste ja aus den Gesprächen mit seinem Vater über dessen Heimatstadt Weißwasser, welche Folgen das freie Spiel der Kräfte des Kapitals hatte.
An der Technischen Universität in Berlin, wo Thormann 1970 studierte, gab es einen Eklat. Als Dozent Werner Düttmann seine Ideen präsentierte, platzte den Studierenden der Kragen. „Der verteidigte bei einem Sit-In seine äußerst umstrittene Architektur- und Stadtplanung, und machte seine vielen Gegner damit wahnsinnig“, sagt Thormann – und hat wieder dieses schelmische Grinsen im Gesicht. Ein Grinsen, das seine Haltung symbolisiert.
Um zu verstehen, was hinter dieser Haltung steckt, lohnt ein genauerer Blick auf Werner Düttmanns Arbeiten. Der Senatsbaudirektor, Akademiepräsident und Hochschullehrer hat West-Berlin geprägt, wie kaum ein anderer. Er zeichnete einerseits für Meisterstücke wie die Verkehrskanzel auf dem Berliner Ku’damm verantwortlich. Andererseits plante er menschenfeindliche Wohnsilos, etwa die im Märkischen Viertel.
Als Düttmann sein Wohnbauprojekt anpries – von den Studierenden sarkastisch „Dütti-Riegel“ genannt, eine 850 Meter lange und bis zu 18-geschossige Wohnmaschine – hatten sie genug. „Das Gebäude hatte keine Durchgänge auf die Rückseite, die Mütter konnten aus dem 18. Stock ihre Kinder nur mit dem Fernstecher in der Sandkiste verfolgen. Nicht einmal an niedrige Fahrstuhlknöpfe war gedacht worden. Es war erkennbar, dass da ein sozialer Brennpunkt entstehen musste“, sagt Thormann. Die Empörung war riesig und einige Studenten drängten ihren Dozenten nicht ganz gewaltlos vom Podium aus dem Hörsaal hinaus. Es war der Rausschmiss einer Autorität, die nicht weiter anerkannt war – einige Monate später gab Düttmann seine Professur auf.
Erlebnisse, die bleiben
All die Ereignisse brannten sich tief in Thormanns Gedächtnis. Und sie gaben seiner Haltung Form: „Ich habe bis heute eine Grundempörung in mir. Als Architekten sind wir zwar einerseits Designer, aber von Bedeutung ist auch die Tätigkeit als Gestalter, als Begleiter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Besonders dort, wo es Veränderungen in der Gesellschaft gibt, entsteht eine neue Architektur. Nur durch neue Denkansätze und alternative Projekte kann die Gesellschaft innovativ sein.“
Ein überregional gelungenes Projekt ist für ihn der „Domagpark“ in München. Dort leben, um eine groß angelegte Parkanlage, 4000 Menschen. Es gibt Geschäfte, Cafés, Restaurants, Kindertagesstätten, Hotels, Studentenwohnheime, eine Grundschule und Sportanlagen und eine Künstlerkolonie. Die Projekte aus seiner Feder verschweigt Thormann zurückhaltend, dabei sind sie mindestens genauso vorzeigbar.
Wenn Ulrich Thormann, der zwei Kinder und vier Enkel hat, heute durch Hamburg schlendert, ist er selten beeindruckt. Unweit der Hafenstraße, auf der er einst gegen die Abrisspolitik der Hansestadt protestierte, wächst die HafenCity in den Himmel. Obwohl einige Bauten dort Ikonen sind, bleibt er skeptisch: „Die Gebäude sind für mich reine Investitionsgüter. Auf den ersten Blick ist das Holzbauprojekt „Roots“ wegen des Baumaterials hochinteressant, andererseits riecht es irgendwie auch nach Green-Washing.“
Massentierhaltung in der Innenstadt
Seiner Forderung des Andersdenkens verleiht Thormann inzwischen hauptsächlich künstlerisch Ausdruck. In Sommer hatte er die Ausstellung „Einer aus Altona“, in der er einige Arbeiten zeigte. Ganz in alter Manier zeichnete und textete er mit schelmischem Augenzwinkern eine „systemimmanente“ Projektidee zum geplanten Abriss der 1956 in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs gebauten City-Höfe. Der Vorschlag, das einst denkmalgeschützte Gebäudeensemble platt zu machen, fuchste ihn derart, dass er mit satirischem Blick vorschlug, die Gebäude doch einfach umzunutzen und als „City-Chicken-Farm“ umzubauen. So könne man das Areal erhalten und davon profitieren. Die Hochhausfarm könne ganz Deutschland mit frischen Bio-Eiern und Hühnern versorgen.
In einem Begleittext, der die modische Sprache der Bauinvestoren aufs Korn nimmt, erläutert er seinen Entwurf so: „Es wird eine einmalige Raumatmosphäre geboten. Immer wieder werden sich Ei-Produzent*innen und Ei-Konsument*innen überraschend ganz nah sein, und sich Auge-In-Auge gegenüberstehen.“
Man kann Ulrich Thormann verstehen, wie man will. Unmissverständlich ist stets seine Forderung nach Sinnhaftigkeit, Ehrlichkeit und Besonnenheit. Im Leben wie in der Architektur sieht er Parallelen: „Haltung kommt von sich halten und erhalten – mit Haltlosigkeit kann man nicht leben oder in Kontakt kommen.“
Projektbroschüre von Ulrich Thormann unter: www.architekturkonzept.com
Den Begleittext zur „City-Chicken-Farm“ findet ihr natürlich auch auf me2be.de!
TEXT Daniel Hautmann
FOTO und ILLUSTRATION Ulrich Thormann