Thor Heyerdahl – Eine Schule auf dem Meer

Thor Heyerdahl – Eine Schule auf dem Meer

Auf dem Schulschiff „Thor Heyerdahl“ segeln 33 Jugendliche um die halbe Welt und erleben Abenteuer. Sie lernen dabei für die Schule – aber vor allem fürs Leben.

Ein klarer Aprilmorgen am Hafen von Kiel. Möwen kreischen, geschäftiges Treiben auf den Stegen, eine Sonne, die über dem strahlend blauen Morgenhimmel aufgegangen ist. Aber der Menschenmenge am Ufergelände ist das egal, sie hält Ausschau. Alle Blicke gehen aufs Wasser, und da in der Ferne sieht man ihn auch schon, den majestätischen alten Dreimaster, der durch die Kieler Bucht einbiegt in die Schwentine und direkt auf sie zugleitet.
Sie ist wieder zurück, sie ist da: die Thor Heyerdahl! Das Schulschiff, was die vergangenen sechseinhalb Monate unterwegs war und um die halbe Welt gesegelt ist. Und mit ihm 33 Jugendliche aus ganz Deutschland, für die das Schiff das vergangene halbe Jahr Schule, Zuhause und das größte Abenteuer ihres Lebens war.

Jedes Jahr im Winterhalbjahr unterwegs: das Klassenzimmer unter Segeln

Seit 2008 segelt der Dreimaster Thor Heyerdahl jedes Jahr von Mitte Oktober bis Ende April als „Klassenzimmer unter Segeln“ (KuS) über die Weltmeere. KuS ist ein Schulprojekt, das von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wird. Dabei verbringen Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Jahrgangsstufe rund die Hälfte ihrer 10. Klasse an Bord des Dreimasttoppsegelschoners. Die Reise, die den Spuren der großen Entdecker wie Alexander von Humboldt oder Christoph Kolumbus folgen möchte, führte sie dabei von Deutschland über die Kanaren und Kap Verde bis in die Karibik und über die Azoren wieder zurück.
Laut Dr. Ruth Merk, die das Projekt leitet und bei dieser Tour vier Monate mit an Bord war, ist die Zeit auf dem Schiff viel mehr als nur Schule: „Wir werden hier zu einer richtigen Lebensgemeinschaft“, sagt sie. „Zu einer Familie“. Denn wer zusammen kocht, lernt, segelt, aber auch unter Deck die Klos putzt – der hält zusammen und schließt Freundschaften fürs Leben.

Das Gepäck der Jugendlichen.

33 Jugendliche machen sich mit Sack und Pack auf eine unvergessliche Reise.

„Ich hab‘ das noch nie erlebt, so eine Gruppengemeinschaft“

Das bestätigt Schülerin Lilian Marciniak (16). Sie geht auf das Hamburger Gymnasium Süderelbe und war bei der letzten Tour dabei: „Ich hab‘ das noch nie erlebt, so eine Gruppengemeinschaft. Das werde ich nie vergessen“. Die 16-Jährige erzählt, dass sie schon als Kind von dem Schulschiff Thor Heyerdahl erfuhr. „Ich hatte die Kika-Serie ‚KlasseSegelAbenteuer‘ angeschaut, in der eine der ersten Touren von einem Kamerateam begleitet wurde“, sagt sie.
Als Lilian dann mit vierzehn von der Möglichkeit liest mitzureisen, bewirbt sie sich und bangt um einen der rund dreißig Plätze. Nachdem sie die schriftliche Bewerbungsphase passiert hat, nimmt sie mit fünfzig anderen Bewerbern an dem obligatorischen rund fünftägigen Probetörn teil, der wegen Corona diesmal online stattfindet. „Da wird geschaut, wer gut in die Gruppe passt – bei so langer Zeit auf engstem Raum ist das ja total wichtig“, erklärt die Schülerin.
Zu Lilians Freude erlebt sie kurze Zeit später neben der Zusage eine Überraschung: „Witzigerweise ist als Teil der Stammbesetzung eine dabei, die damals in der Serie als Schülerin mitgefahren war“, sagt sie lachend.

Ein Unterricht der ganz besonderen Art

Für Lilian ist die Reiseerfahrung nicht nur sozial bereichernd, auch schulisch nimmt sie viel mit: „Man sitzt nicht nur stumpf am Tisch und lernt, wie an einer normalen Schule“, sagt sie. „Stattdessen haben wir viel mehr Experimente gemacht. Erst wurde was ausprobiert und dann wurde erklärt: Deshalb ist das so, so funktioniert das“, hebt sie hervor. „Man hatte viel mehr das Gefühl, wirklich etwas zu lernen, was man irgendwann wirklich braucht, weil man direkt so eine Vergleichsmöglichkeit hatte.“
Diese Art der Wissensvermittlung ist Ruth Merk besonders wichtig. Sie betont, dass die klassische Aufarbeitung des Schulmaterials nur ungefähr nur 35 bis 40 Prozent des Zeitumfanges einnimmt, den die Jugendlichen von der Schule daheim gewohnt wären. Doch auch während der restlichen Zeit werde gelernt – nur nicht auf konventionelle Art.
„Wenn zum Beispiel ein fliegender Fisch an Deck landet, dann kommt der im Bio-Unterricht auf den Tisch. Wenn wir auf einen Vulkan gehen, dann erfahren wir bei der Exkursion mehr zum Thema Vulkanismus. Wenn wir durch den Regenwald wandern, wird tropischer Regelwald zum Unterrichtsinhalt“, sagt Merk. Alle Lerninhalte würden mit der Realität verknüpft werden, betont sie. Zum Glück passen die meisten Themen auch mit dem bayrischen Lehrplan überein, an dem sich das KuS-Projekt orientiert.

Auf Deck, unter Deck oder an Land – gelernt wird überall

Der Unterricht selbst finde dabei entweder unter Deck in der Messe statt – also dem „Wohnzimmer“ des Schiffs, der Klassen- und Freizeitraum zugleich sei – oder in wärmeren Gegenden, wie in der Karibik, an Deck. Dabei, erzählt Lilian, war die Beziehung zu den Lehrern freundschaftlich und auf Augenhöhe: „An Bord haben wir uns alle geduzt, irgendwie war das auch fürs Lernen förderlich – so eine lustige, entspannte Stimmung zwischen den Erwachsenen und uns“, erinnert sich die Schülerin.
Das Leben findet für die Jugendlichen aber nicht nur auf hoher See statt. Neben dem Besuch einiger kleiner Inselstaaten in der Karibik gibt es auch mehrwöchige Landaufenthalte. Insgesamt viermal sind die Jugendlichen während der Reise an Land, um Flora, Fauna, Kultur und Geschichte der jeweiligen Länder zu studieren – diesmal wegen des Vulkanausbruchs auf La Palma und Erdbeben auf den Azoren aber zum Teil etwas anders als ursprünglich geplant.

Auf Sehfahrt

Segel setzen – für die Bildung!

Ein Abenteuer, das Menschlichkeit lehrt

„Unsere Reise war wirklich ein Abenteuer – von Anfang bis Ende“, erzählt Lilian. Am eindrücklichsten findet sie ein Ereignis, was gleich am Anfang, in der ersten Etappe passiert: „Ich hatte zu der Zeit Backschaft, stand also in der Küche und kochte, aber unser Ausguck entdeckte zwei Männer, die auf einem winzigen Schlauchboot mitten auf dem Meer dahintrieben.“ Sie erzählt, wie die Schiffsmannschaft ein „Person-über-Bord“-Manöver fährt und den Männern Essen, Getränke und Rettungswesten zuwirft.
Später erfahren sie, dass es sich um zwei somalische Geflüchtete handelt, die von Calais in Frankreich nach Großbritannien übersetzen wollten, aber abgetrieben worden waren. „Wären sie weiter auf die Nordsee getrieben, wären sie wahrscheinlich nicht mehr gefunden worden“, sagt Lilian. „Als es dunkel wurde, entschied unser Kapitän, dass wir sie an Bord nehmen – obwohl wir das rechtlich nicht durften“. Am Abend dann seien beide Männer von der Küstenwache abgeholt worden. Zurück bleibt eine Gruppe, die das Erlebnis stark mitgenommen, die der Akt des Helfens aber zusammengeschweißt hat.

24 Stunden in einem Wald auf den Azoren allein für sich

Nun ist ein Monat seit der Rückkehr der Thor Heyerdahl vergangen. Lilian ist aber noch immer bewegt: „Ich habe auch so viel über mich selbst gelernt“, sagt sie. Befördert hätten das die sogenannten Solo-Zeiten, die den Schülern aufgetragen wurden. „Das war ein fester Zeitraum, in dem man sich hinsetzen sollte, um einfach nur nachzudenken“, erinnert sie sich. „Anfangs ging das eine halbe Stunde, dann waren es drei Stunden und zuletzt wurde es gesteigert auf ein 24-Stunden-Solo“. Dabei seien die Schüler 24 Stunden in einem Wald auf den Azoren allein für sich gewesen, ausgestattet mit Rucksäcken, Hängematten und Schlafsäcken. „Das war eine so wahnsinnig tolle Erfahrung, das würde ich sofort nochmal machen“, erzählt sie begeistert. Mußestunden, um das Geschehene Revue passieren zu lassen und zu reflektieren.
„Während des halben Jahres ist mir auch aufgefallen, wie wenig ich mein Handy noch brauche“, ergänzt Lilian. „Mir wurde bewusst, dass wir uns viel mehr mit den Dingen befasst haben, die um uns herum waren, als auf Instagram zu gucken, was die neusten Updates sind“, sagt sie. Diese aktive Auseinandersetzung mit der meist fremden Umwelt habe bei ihr zu einem neuen Bewusstsein geführt, und sie erzählt, dass sie heute ihr Handy viel weniger benutze als davor.
33 Jugendliche, ein Schiff und sechseinhalb Monate Zeit. Das Klassenzimmer unter Segeln schafft etwas, was eine kostbare Seltenheit in unserem schnelllebigen digitalen Zeitalter ist: Jugendlichen beizubringen, was Gemeinschaft heißt – auch Bedürftigeren gegenüber. Aber auch, was es heißt, achtsam zu sein mit sich. Ohne Handy, ohne Strom, in der Natur oder auf dem Wasser. Eine Schule für nichts Geringeres als das Leben selbst.

thor-heyerdahl.de

TEXT Stella Kennedy
FOTO Stella Kennedy

Dieser Beitrag ist auch in der HIERGEBLIEBEN-Ausgabe 2022/02 erschienen. Zum nächsten Artikel über das die Fachschule für Hauswirtschaft im ländlichen Raum geht es hier.