Mitten auf dem platten Land liegt eine Internatsschule, die Tradition und Moderne verknüpft
Landstraßen, weite Felder, immer wieder Windräder und oben drüber ein riesiger blauer Himmel. Wolken fetzen vom Wind getrieben, der von der Nordsee herüberweht, eigentlich immer. In den kleinen Dörfern stehen Häuser, deren dickes Gemäuer vor diesem Wind schützen soll. Aber vielleicht auch vor dem Gerede der anderen.
Ein Gebäude fällt besonders auf: Genau auf der Grenze zwischen den Dörfern Hanerau und Hademarschen steht die seit 1904 bestehende „Fachschule für Hauswirtschaft im ländlichen Raum“, früher Landfrauenschule oder Haushaltungsschule genannt. Seit der Gründung steht sie symbolisch dafür, wie Frauen sich ihre Berufsbildung erkämpften.
Berufsbildung für Mädchen früher: eine Sackgasse
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nämlich, als die preußische Adlige Ida von Kortzfleisch die Initiative ergriff, um jungen Frauen Bildung zu ermöglichen, sah es in Sachen Berufsbildung ziemlich düster aus. Mädchen auf dem Land boten sich in den meisten Fällen nur zwei Wege: Entweder man wurde in eine Bauernfamilie hineingeboren, besuchte höchstens bis zur 8. Klasse die Schule (danach wurde es sehr teuer) und arbeitete spätestens danach in Haus und Hof mit, bis man heiratete und dort genauso weitermachte. Oder man wurde in eine wohlhabendere Schicht geboren.
Doch auch bei den Mädchen der Adelsfamilien, die auf beeindruckenden Gutshöfen lebten, waren die Berufsmöglichkeiten genauso eine Sackgasse wie die Alleen vor den Herrenhäusern. Gutsherrin, Hofdame und Gastgeberin des Hauses – das waren in etwa die Aufgaben, die von ihnen erwartet wurden. Ida von Kortzfleisch wollte das ändern.
Eine der letzten ihrer Art: die Fachschule in Hanerau-Hademarschen
Was sie damals mit ihrer „Frauenschule mit ländlich-hauswirtschaftlichem Ausbildungsschwerpunkt“ für die „höhere Tochter“, wie man damals sagte, schuf, kann man heute in Hanerau-Hademarschen sehen. Zwar wurde die Fachschule für Hauswirtschaft nicht direkt von ihr gegründet, war aber inspiriert von dem Konzept der Reifensteiner Schulen – den historisch bedeutenden Berufsbildungsschulen für Frauen und Mädchen, die auf Ida von Kortzfleischs Impuls Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts überall im deutschen Kaiserreich entstanden.
Heute steht der imposante, mittlerweile fast 120-jährige Backsteinbau mitten im Kern des Ortes, genau zwischen den ehemals getrennten Dörfern Hanerau und Hademarschen. Rund 30 Schülerinnen leben und lernen momentan an der Hauswirtschaftsschule – übrigens die einzig verbleibende dieser Art in Schleswig-Holstein. Die Schule besteht aus dem Internat, einer Obstwiese, einem Biotop und einem nachhaltigen und ökologischen Nutz- und Ziergarten, in dem das Gemüse angebaut wird, mit dem täglich gekocht wird. Der Unterricht wird zu jeweils 50 Prozent in Praxis und Theorie aufgeteilt, das Konzept „learning by doing“ voll ausgelebt, und im Hofladen, den die Schülerinnen betreiben, gibt’s dann die Ergebnisse des Unterrichts zu kaufen – und zu schmecken.
„Wie ein Leben unter einer Glocke“
Dorthe Reimers (33) ist Fachgruppenleiterin an der Schule und selbst ehemalige Schülerin. Sie vergleicht das besondere Zusammenleben wie ein Leben unter einer „Glocke“. „Wir haben die Chance, die Dinge einfach anders zu machen, und das bestärkt die Schülerinnen sehr sich auszuprobieren“, sagt sie. Junge Leute, die zum ersten Mal länger weg von Zuhause seien, schenke man Verantwortung und Vertrauen. „Die werden einfach unheimlich selbständig und selbstbewusst, das merkt man schnell“, so Reimers.
Während des Interviews, was in der großen Lehrküche der Schule stattfindet, trudeln immer mehr Schülerinnen ein und setzen sich an den großen Tisch. Sie tragen professionelle, weiße Kochjacken und Hauben. Gleich wird das Mittagessen geplant, es wird „Mac and Cheese“ geben, und Dorthe Reimers gibt ihren, man möchte fast sagen „Angestellten“, letzte Instruktionen.
Das Reel für Instagram darf nicht fehlen
Die Lehre an der Schule wird gleich mit Komponenten aus dem Berufsalltag kombiniert, der die Schülerinnen nach ihrem Jahr in den jeweiligen Ausbildungen erwartet. Hierarchien und klare Aufgabenverteilung gehören dazu, aber auch Marketingstrategien. Reimers beispielsweise erinnert an diesem Morgen an das Reel, was die Schülerinnen für ihren Instagram-Account (@fshademarschen) kreieren sollen. Eine traditionelle Schule, die komplett im Heute angekommen ist.
„Drei Wochen am Stück darf man einen Bereich leiten, bekommt Mitarbeiter, das sind die Mitschüler, darf die einteilen, überlegen, was es zum Beispiel zu Essen geben soll und das Ganze drum herum organisieren“, beschreibt Reimers die Kernaufgaben. Darüber hinaus gibt es auch noch Service, Garten und Reinigung als Aufgabenbereiche. „Hier darf jeder mal seine Führungspersönlichkeit ausprobieren, gerade junge Menschen, denen immer gesagt wurde, du kannst nichts, bekommen das Vertrauen: Du schaffst das schon“. Ähnlich wie bei Montessori gelte der Leitspruch: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Die Auswirkungen dieser Einstellung mitzuerleben, sei für sie die größte Bestätigung – und ein Kompliment an die Schule, so die 33-Jährige.
Vom Hotelfachbereich und Bäcker bis hin zu Pflegeberufen – die Berufswahl ist groß
Die Ermutigung der jeweiligen persönlichen, sozialen und fachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen komme in jedem Feld zu tragen, sagt Reimers: „Nach dem ersten Jahr ist man für jede Berufsgruppe geeignet, die mit Nahrung zu tun hat“, ergänzt sie. „Alles, was man sich vorstellen kann, wenn man sagt: Ich hab‘ schon mal was mit den Händen erarbeitet – das ist für uns eine Art Zugangsberuf.“ Sie führt aus, dass die Berufswünsche vom Hotelfachbereich und Bäcker bis hin zu Pflegeberufen reichen, weil ja auch in Pflege- und Altersheimen Ernährung eine Rolle spiele. Aber auch Landwirtschaft sei ein Zugangsberuf, sagt sie und fügt hinzu, dass sie Schülerinnen habe, die im Anschluss Gärtner oder Erzieher werden.
Für Ida Von Kortzfleisch, die mit ihren Schulen die Lebensweise und die Bedürfnisse der auf dem Land lebenden Frauen in den Mittelpunkt rückte, wäre es sicher ein großes Glück, in der Fülle an Berufsmöglichkeiten die Umsetzung dessen zu sehen.
Nach zwei Jahren hat man die Fachhochschulreife
Der schulische Ablauf sieht ein erstes Jahr, die sogenannte Unterklasse vor, die von den Schülerinnen und Schülern – es dürfen auch Jungs an die Schule, das kommt nur wesentlich seltener vor – meist direkt nach dem Mittleren Schulabschluss absolviert wird und dann nach der Ausbildung ein zweites Jahr, die Oberklasse vor. Im Anschluss an die zusammengerechnet zwei Jahre in Hanerau-Hademarschen könne man dann mit der Fachhochschulreife an jeder Uni studieren oder in den Betrieben sofort in eine Leitungsfunktion einsteigen, besitze sogar die Ausbildereignung.
„Wir sind wie eine große Familie“, erzählt Caroline Schlüter (19). Die 19-Jährige kommt aus einem kleinen Dorf bei Schleswig und ist seit vergangenem Jahr an der Fachschule für Hauswirtschaft. In zwei Monaten ist sie mit ihrem ersten Jahr fertig. Dann beginnt sie eine Ausbildung als Hotelfachfrau in einem großen Hotel bei Hameln in Niedersachsen. „Wir sind unterschiedlich alt, haben unterschiedliche Abschlüsse, aber das Klima ist einfach so schön – alle machen das mit Herzblut“, schwärmt die Schülerin.
Heute bringen die Mädchen Motivation mit – kein Huhn
Ganz früher, erzählt sie, war eine Voraussetzung, um an die Schule zu gehen, dass jede Schülerin ein Huhn mitbringen musste. Das sollte dann das Jahr über aufgezogen und am Ende geschlachtet werden. „Heute bringen wir alle nur noch Motivation mit: Was für uns selbst zu machen und was zu lernen fürs Leben – und nicht nur das Berufsleben“, sagt sie.
Für Caroline gibt es aber noch einen wesentlichen Faktor, der die Schule von anderen unterscheidet: „Ein wirklich großer Aspekt ist, dass wir ja alle im Internat wohnen und unsere Eltern dafür zahlen. Keinen großen Batzen Geld, aber allein der Fakt, dass es was kostet, sorgt bei uns für mehr Wertschätzung“, findet sie. Die Unterbringung im Internat der Fachschule, auf dem Instagram-Kanal der Schule scherzhaft als „größte WG Schleswig-Holsteins“ bezeichnet, kostet inklusive Vollverpflegung rund 250 Euro im Monat (140 Euro Verpflegung und 110 Euro Unterkunft), Schüler-BAFÖG kann beantragt werden.
„Ein Gefühl von Sorgsamkeit und Struktur“
Jeden Freitag, wenn die Schülerinnen für ihr Wochenende zu Hause abreisen, werden die Zimmer kontrolliert, ob sie ordentlich hinterlassen wurden, erzählt Caroline. Eine Praxis, die aus der Zeit gefallen scheint, aber Wirkung zeigt: „Das gibt einem ein Gefühl von Sorgsamkeit und Struktur, das nehme ich echt mit fürs Leben“, so Carolines Resümee.
Eine traditionsreiche Schule mitten auf dem Land, die nicht nur fachlich fördert, sondern die Schülerinnen zu selbständigen Erwachsenen erzieht und empowert. Das ist eine Schule, auf die Ideengeberin Ida von Kortzfleisch stolz wäre. Eine Schule, die es anders macht: besser nämlich.
TEXT Stella Kennedy
FOTO Reinhard Witt
Dieser Beitrag ist auch in der HIERGEBLIEBEN-Ausgabe 2022/02 erschienen. Zum nächsten Artikel mit der BBZ-Schulleiterin Monika Raguse geht es hier.