Anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant verteidigt der Bundeskanzler den Philosophen auf dem Festakt von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gegen die Vereinnahmung durch Wladimir Putin.
„Meine Damen und Herren,
es sind besonders die runden Jubiläen, die große Aufmerksamkeit auslösen. Dabei ist es am Ende natürlich Zufall, dass sich Kants Geburtstag gerade in diesem Jahr zum 300. Mal jährt. Ein glücklicher Zufall; denn ich finde, gerade jetzt hat uns Kant so viel zu sagen wie lange nicht ‑ gerade in diesem Jahr, gerade in dieser Zeit, nicht nur in philosophischer Hinsicht, sondern auch in politischer und geopolitischer Perspektive.
Das fängt schon damit an, dass Kant aus Königsberg stammt. Hier wuchs er auf, hier lebte er Zeit seines Lebens, hier forschte und lehrte er jahrzehntelang an der Albertus-Universität. Dass Kant Königsberg niemals verließ, kommt uns heute seltsam vor. Kant selbst war damit vollkommen im Reinen. „(E)ine solche Stadt, wie etwa Königsberg am Pregelflusse“, schrieb er, „kann schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann“.
Ich selbst finde, Reisen bildet. Eigene sinnliche Wahrnehmung, eigenes Erleben und eigene Anschauung, das schadet eigentlich nie. Aber so viel stimmt jedenfalls: Königsberg zur Zeit Kants, das war alles andere als ein unbedeutender Ort irgendwo weitab vom Schuss. Ostpreußens Metropole war zu Kants Zeit mit 60 000 Einwohnern eine der größten Städte Deutschlands, ein bedeutender Ort von Handel und Schifffahrt, von Kultur und Wissenschaft ‑ kleiner als Berlin oder Hamburg zwar, aber damals deutlich größer als Köln, als München, Leipzig oder Frankfurt.
Die Stadt Immanuel Kants, das ist Königsberg immer noch. Und diese Stadt liegt auch heute, in Kilometern gerechnet, nicht weiter entfernt von uns als damals. Von Berlin aus sind es bis Königsberg kaum mehr als 500 Kilometer Luftlinie, also nicht weiter als die Strecken von Berlin nach Aachen, nach Karlsruhe, Ulm oder München. Es kommt uns allerdings viel weiter vor. Es kommt uns so vor, als wäre dieses Königsberg ganz weit weg und irgendwie aus unserer Zeit herausgefallen.
Denn Kants Königsberg heißt heute Kaliningrad und gehört zu Russland ‑ seit 1946 als Hauptstadt der Oblast Kaliningrad zuerst zur Sowjetunion, seit 1992 dann zur Russischen Föderation. Und genau damit gerät der Jubilar Kant mitten hinein in die geopolitischen Verwerfungen unserer Zeit, mitten hinein in die Zeitenwende, die Russlands Machthaber Putin mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat.
Nicht nur Kants Heimatstadt, Russlands Exklave Kaliningrad, liegt wieder in einer besonders neuralgischen Zone europäischer Geschichte und Politik. Auch Kants große Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dauerhaften Friedens in kriegerischer Zeit gehört heute wieder ganz oben auf die Tagesordnung.
Deshalb ist es eine gute Idee, Kants großartige Schrift Zum ewigen Frieden gerade jetzt aufs Neue zur Hand zu nehmen. Ich habe das getan, und ich will gerne sagen: In diesem einen sehr schmalen Band findet sich vieles, was uns heute Orientierung und trotz allem auch Zuversicht geben kann. Über einige Aspekte davon will ich heute sprechen.
Meine Damen und Herren, wichtig ist zunächst, dass der große Jubilar selbst und sein Werk in den Umwälzungen der Gegenwart nicht unter die Räder kommen. Berichten aus Kaliningrad zufolge ist Kant dort heute allgegenwärtig. Die Kant-Vereinnahmung ist umfassend, der Philosoph von Königsberg ist heute so etwas wie die „Marke“ von Kaliningrad. Sein Geburtshaus wurde zwar schon vor langer Zeit abgerissen, aber dafür heißt die Universität der Stadt seit 2005 Immanuel-Kant-Universität. Es gibt in Kaliningrad den „Kant-Market“ und Kant-Schokolade, man trinkt Kant-Glühwein und kauft Kant-Kühlschrankmagnete und Kant-Becher. Und wenn in Kaliningrad Brautpaare heiraten, dann lassen sie sich ‑ leicht makaber ‑ vor Immanuel Kants Grab fotografieren.
Das alles scheint eine direkte Folge der persönlichen Kant-Leidenschaft zu sein, die Russlands Präsident in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich bekundet hat. Kant, so betont Putin, sei einer seiner „Lieblingsphilosophen“. Wörtlich erklärte er im Juli 2005 bei einem Besuch an Kants Grab: „Kant war ein kategorischer Gegner der Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten durch Krieg. Und wir versuchen, uns an diesen Teil seiner Lehre zu halten. (…) Ich glaube, dass die Vision, die Kant dargelegt hat, von unserer Generation verwirklicht werden sollte und kann.“ ‑ So Putin.
Und erst vor drei Jahren, 2021, ordnete Putin per Dekret an, Kant sei in Russland aus Anlass seines 300. Geburtstags ausgiebig zu feiern: als einer der größten Denker und Philosophen der Menschheit. Vorgesehen war auch ein großer internationaler Kongress, der eigentlich jetzt, in diesen Tagen, in Kaliningrad stattfinden sollte.
Aber dann trat ein, was alles verändert hat. Auf Putins Befehl überfielen Russlands Truppen die gesamte Ukraine, ein unabhängiges und völkerrechtlich souveränes Nachbarland. Zur Begründung hat Putin seither eine verwirrende Vielfalt von Begründungen geliefert. Schon vor dem Krieg, im Sommer 2021, hatte er in seinem Aufsatz unter dem Titel Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern behauptet, beide Nationen seien in Wirklichkeit „ein Volk“. Das ist so falsch, wie das Motiv dahinter durchschaubar ist.
Die Ukraine, das ist eine eigenständige Nation mit eigener Geschichte und vielfältiger eigener Kultur. Unabhängig davon ist die Ukraine ein souveräner Staat, also ‑ um es mit Kant zu sagen – „eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als [dieser Staat] selbst zu gebieten und zu disponieren hat“.
Putin leugnet das alles. Ihm geht es mal um die, wie er sagt, „Entnazifizierung“ der Ukraine, dann wieder um die Notwendigkeit, Russland gegen die angebliche Aggression des von ihm so genannten „kollektiven Westens“ zu verteidigen. Den Krieg angefangen habe demnach auch gar nicht Russland, sondern dieser „kollektive Westen“.
Meine Damen und Herren, alle diese Versuche, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, sind an den Haaren herbeigezogen. Sie sind abwegig und ausgedacht. Sie unterstellen Bedrohungen Russlands, die es nicht gibt. Schon Kant kritisierte hellsichtig die ungute Angewohnheit, „böse Absichten an anderen zu erklügeln“. Genau damit haben wir es auch hier zu tun.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Putins brutaler Überfall auf die Ukraine ist ein war of choice, ein von Putin selbst gewählter Angriffskrieg. Es ist Russlands Machthaber, der diesen größten militärischen Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg angezettelt hat ‑ mutwillig, zerstörerisch und unprovoziert.
Unter Putins Oberbefehl haben Russlands Soldaten seit Beginn ihrer Vollinvasion in der Ukraine unbeschreibliche Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen, haben wahllos Zivilisten erschossen, gefoltert, vergewaltigt und Kinder verschleppt. Niemals vergessen dürfen wir die Massaker, die russische Soldaten in Butscha und in Irpin an Zivilisten verübt haben. Ich selbst habe diese furchtbaren Verwüstungen in Irpin mit eigenen Augen gesehen. Die Bilder dieses Tages werde ich immer in mir tragen.
Unter Putins Oberbefehl haben russische Truppen auch anderswo in der Ukraine Wohngebiete, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Schulen und ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht. Mariupol, Bachmut, Popasna, Rubischne oder Awdijiwka: Diese und andere Namen stehen für zerstörte Städte, für ausgelöschte Gemeinwesen. Sie stehen für einen Vernichtungswillen, wie ihn in seiner schieren Maßlosigkeit wohl die wenigsten von uns im Europa des 21. Jahrhunderts noch für möglich gehalten hätten.
Unter Putins Oberbefehl hat Russlands Krieg gegen die Ukraine weltweit die Versorgung mit Lebensmitteln, Energie und Rohstoffen aus dem Gleichgewicht gebracht, mit schlimmen Folgen gerade in vielen Ländern des globalen Südens.
Unter Putins Oberbefehl verheizt Russland seit Kriegsbeginn zugleich Bürgerinnen und Bürger seines eigenen Landes zu Hunderttausenden an der Front. Zwangsrekrutierte und Söldner, Strafgefangene, Junge und Alte, in vielen Fällen Angehörige ethnischer Minderheiten, sie alle werden als Kanonenfutter in den Tod getrieben ‑ wahllos, bedenkenlos, erbarmungslos.
Oder um die beißende Kritik aufzugreifen, die der Aufklärer Kant an den despotischen Staatsoberhäuptern seiner Zeit übte: Unter Putins Oberbefehl werden in Russland heute wieder Untertanen als ‑ Kants Worte ‑ „nach Belieben zu handhabende Sachen gebraucht und verbraucht“. Genau diese Instrumentalisierung und Verzweckung von Menschen war es, die Kant anprangerte. Genau das steht all seinen Vorstellungen vom Recht des Menschen, von der Freiheit, Autonomie und Würde jedes Menschen diametral entgegen. Schon deshalb hat Putin nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant zu berufen.
Meine Damen und Herren, was für Kants Vorstellung von Menschenrecht und Menschenwürde gilt, das gilt genauso für seine Gedanken zu Krieg und Frieden. Auch hier hat Putin nicht das geringste Recht, sich positiv auf Kant zu beziehen ‑ im Gegenteil.
Seit Russland unter Putins Oberbefehl seinen neoimperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, ist in Europa und über Europa hinaus nichts mehr, wie es war. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor“, so habe ich es am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag gesagt.
Die Folgen dieser historischen Zäsur haben wir seither gemeinsam zu bewältigen ‑ und wir bewältigen sie. Dazu gehört, dass wir die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem tapferen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit unterstützen ‑ humanitär, finanziell und auch mit Waffen. Ich halte das nicht nur politisch und strategisch für erforderlich, ich halte das auch friedensethisch für geboten. Denn die Verteidigung der eigenen Existenz gegen einen Aggressor schafft ja überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass die Ukraine frei und ohne Zwang über Frieden verhandeln kann und auch Russland zu solchen Verhandlungen bereit ist. Deshalb unterstützen wir die angegriffene Ukraine gemeinsam mit allen unseren Partnern ‑ so lange, wie das notwendig ist.
Meine Damen und Herren, mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine fügt Putin nicht zuletzt seinem eigenen Land und vor allem den Bürgerinnen und Bürgern seines eigenen Landes schwersten Schaden zu. Wirtschaft, Kultur, zivilgesellschaftlicher Austausch, Wissenschaft und Forschung: Auf jedem nur denkbaren Gebiet ist es das Regime Putins selbst, das Russinnen und Russen millionenfach um ihre Freiheit und Lebenschancen bringt, um Entwicklung und Zukunft ‑ oder nochmals im Kant’schen Begriff gesprochen: um Menschenwürde und Autonomie.
Beispielhaft für diese umfassende Selbstschädigung steht das diesjährige Kant-Jubiläum. Es war unausweichlich, dass sich die deutsche Kant-Gesellschaft entschlossen hat, ihren internationalen Jubiläumskongress in diesem Jahr anders als geplant nicht in Kaliningrad zu veranstalten. Denn es ist doch offensichtlich: Aufklärung und Angriffskrieg – das passt nicht zusammen. Kategorischer Imperativ und Kriegsverbrechen – das passt nicht zusammen.
Daraus folgt aber keineswegs, dass Putin und sein Machtapparat nun von sich aus darauf verzichten würden kann, Kant für ihre Zwecke zurechtzubiegen. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade in diesem Jubiläumsjahr sind aus Russland besonders verstörende und abwegige Kant-Auslegungen zu hören. Erst Anfang dieses Jahres erklärte Putin bei einem Besuch in Kaliningrad: „Kant ist ein fundamentaler Denker, und sein Aufruf, den eigenen Verstand zu nutzen, ist höchst aktuell. Für Russland bedeutet das praktisch, dass wir uns von unseren nationalen Interessen haben leiten lassen.“ ‑ So, so! Ich bezweifle ausdrücklich, dass Immanuel Kant ausgerechnet dies im Sinn hatte, als er 1784 den Ausruf „Sapere aude!“ zum Wahlspruch der Aufklärung erklärte. Um nationale Interessen ging es Kant bei seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ ganz sicher nicht. „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ‑ Das zielte vielmehr auf individuelles „Selbstdenken“, auf Kritik, auf die Würde, Autonomie und Freiheit jedes und jeder Einzelnen. Das alles wird in Putins Autokratie heute täglich mit Füßen getreten und im Keim erstickt, etwa mit den Mitteln der Zensur, der digitalen Desinformation und Überwachung. Wo die „Staatseigentümer“ – auch dies ein Begriff Kants – des 21. Jahrhunderts solche Praktiken einsetzen, da wollen sie eben keine selbstdenkenden Bürgerinnen und Bürger. Vielmehr wollen sie unwissende und unmündige Untertanen, weil sie eben nur diese als „nach Belieben zu handhabende Sachen“ für ihre eigenen Zwecke manipulieren und „verbrauchen“ können. Dass Kant solche Methoden aufs Schärfste verurteilen würde, daran kann nicht der geringste Zweifel bestehen.
Trotzdem bleibt Putins Regime bestrebt, Kant und sein Werk um fast jeden Preis zu vereinnahmen. Der langjährige Russlandkorrespondent der „ZEIT“, Michael Thumann, bringt es so auf den Punkt: „Es gibt mindestens zwei Kants, einen Philosophen, den wir in Deutschland verehren, und einen in Kaliningrad begrabenen Denker, der für Putins Weltbild anschlussfähig gemacht wird.“
Doch Kants Anschlussfähigkeit an Krieg und Gewalt hat Grenzen, selbst in Russland. Das erklärt womöglich, weshalb aus dem russischen Machtapparat neuerdings auch kantfeindliche Töne zu hören sind. Vor dem Kongress der russischen Gesellschaft für Politikwissenschaft erklärte jüngst der Gouverneur der Region Kaliningrad, Anton Alichanow: „Heute, im Jahr 2024, haben wir den Mut, zu behaupten, dass nicht nur der Erste Weltkrieg mit dem Werk Immanuel Kant begann, sondern dass auch der aktuelle Konflikt in der Ukraine mit ihm seinen Anfang nahm.“ ‑ Kant, so Alichanow, sei nicht nur „einer der geistigen Schöpfer des modernen Westens“, er habe auch eine „fast direkte Verbindung zu dem globalen Chaos“, mit dem wir zu tun hätten. Mehr noch, er habe „eine direkte Verbindung zum militärischen Konflikt in der Ukraine“.
Man reibt sich die Augen. Ausgerechnet Kant, für den doch der Friede das „höchste Gut“ überhaupt war, soll nun an Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine schuld sein. Wenn Kant am russischen Krieg gegen die Ukraine tatsächlich schuld wäre, wie würde das dann mit Putins vielfältigen Versuchen zusammenpassen, Kant trotzdem als „größten Denker der Menschheit“ für Russlands Zwecke einzuspannen?
Meine Damen und Herren, es ist ganz einfach. Das alles passt hinten und vorn nicht zusammen. Es passt deshalb nicht zusammen, weil Kant als Stichwortgeber für Angriffskrieg, Völkerrechtsbruch und Despotie schlechthin nicht infrage kommt. Kants kategorische Haltung ist völlig klar. „Kein Staat soll sich in die Verfassung eines anderen Staates gewalttätig einmischen“, schreibt er. Genau das aber tut Russland in der Ukraine. Eindringlich warnt Kant vor Angriffskrieg und Söldnertum, vor dem „Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen“. Nichts anderes aber stellt doch das zynische Verheizen eigener Rekruten, Strafgefangener und Söldner dar, wie es das russische Regime im Kampf gegen die Ukraine massenhaft betreibt. Kein Staat, fordert Kant weiter, solle sich im Krieg mit einem anderen „solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“. Methoden wie die „Anstellung von Meuchelmördern“ und „Giftmischern“, der heimtückische Einsatz „höllischer Künste“ oder die „Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat“ – das alles dürfe auf keinen Fall geschehen.
Wir würden das Gemeinte heute anders formulieren, aber es ist völlig klar, worum es Kant ging. Methoden wie diese kommen uns aus dem aktuellen russischen Vorgehen nur zu bekannt vor. Kant warnt eindringlich vor ihrem Einsatz. Denn, so schreibt er: „(I)rgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Frieden abgeschlossen werden könnte und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg ausschlagen würde.“ Kant nimmt hier hellsichtig vorweg, was in unserem Atomzeitalter möglich geworden ist, die „Vertilgung beider Teile zugleich“, was, so Kant, am Ende „den ewigen Frieden nur noch auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde“.
Meine Damen und Herren, schon diese Beobachtungen und Überlegungen zeigen, dass der große Aufklärer Kant alles andere als ein naiver Friedensprediger war. So wie wir heute, lebte er in einem Zeitalter größter Umwälzungen und kriegerischer Konflikte. Über die Bösartigkeit der menschlichen Natur machte er sich keine Illusionen, noch weniger über, wie er schrieb, „Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können“.
Trotzdem und gerade deshalb denkt Kant darüber nach, wie dauerhafter Friede möglich werden könnte. Trotzdem und gerade deshalb hält Kant dem Recht des Stärkeren die Autorität des Rechts entgegen. Trotzdem und gerade deshalb setzt Kant auf die Zukunft und den Fortschritt. Genau das macht die eindringliche Aktualität seines Entwurfs Zum ewigen Frieden aus. Genau deshalb lohnt es sich so sehr, dieses kleine Buch gerade jetzt, gerade in dieser unfriedlichen Zeit wieder zurate zu ziehen.
Für Kant stand fest: „Der Friedenszustand (…) ist kein natürlicher Zustand, der vielmehr ein Zustand des Krieges ist. (…) Er muss also gestiftet werden.“ Gestiftet, gehütet, organisiert, immer neu gesichert und notfalls wiederhergestellt und zwar immer mit den Mitteln des Rechts und der Politik, welche Kant ausdrücklich als „ausübende Rechtslehre“ verstand.
Meine Damen und Herren, wir Europäer müssen uns nach Jahrzehnten des Friedens erst wieder an den Gedanken gewöhnen: Der Friede, den die meisten von uns so lange als selbstverständliche Normalität und „natürlichen Zustand“ erlebt haben – er ist genau dies nicht. Er ist eben nicht „natürlich“. Er muss auch heute noch – und heute wieder – „gestiftet“ werden. Umso wichtiger ist es, dass wir uns klarmachen, welche politischen und rechtlichen Bedingungen es sind, die Frieden unter Staaten zwar nicht garantieren, aber doch begünstigen und grundsätzlich möglich machen.
Für Kant sind dies die rechtlich garantierte Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger – und übrigens auch Staatsbürgerinnen – in repräsentativen Demokratien, eine funktionierende Gewaltenteilung, eine liberale und frei debattierende Öffentlichkeit, ein florierender Welthandel mit seinem, so Kant, „wechselseitigen Eigennutz“ und nicht zuletzt: ein föderaler Völkerbund von souveränen Staaten.
Eine globale Rechtsordnung, in der alle Staaten nach innen republikanisch und demokratisch verfasst sind und nach außen die Rechte aller anderen Staaten respektieren, darin lag für Kant das anzustrebende „Heil der Welt“. Denn das wäre dann eine Welt, in der sich international kein kleinerer Nachbar mehr vor dem größeren fürchten müsste und in der innerhalb aller Staaten die Bürgerinnen und Bürger vor Willkür geschützt wären.
Ich möchte gern sagen: Dieses Denken, diese Überzeugung, diese Zielsetzung Kants hat mich für meine eigene politische Arbeit tief geprägt. Das jedenfalls ist die Quintessenz dessen, was auch ich für erstrebenswert halte, gegen alle Widerstände und Rückschläge, aber doch, mit Kant gesprochen, „in kontinuierlicher Annäherung“.
Meine Damen und Herren, keine einzige der aus Kants Sicht notwendigen Zutaten zu dauerhaftem Frieden war zu seinen eigenen Lebzeiten irgendwie erprobt, geschweige denn fest etabliert. Inzwischen ist vieles davon Wirklichkeit geworden, bei uns in Deutschland, im Rahmen der Europäischen Union, zum Teil auch auf globaler Ebene. Wir haben viel mehr erreicht, als Kant selbst vermutlich für möglich gehalten hätte. Machen wir uns klar, wie unverzichtbar, ja wie kostbar diese Errungenschaften sind, wenn es uns um den Frieden geht, heute mehr denn je!
Ja, wir haben jeden Grund, fortbestehende Unzulänglichkeiten unserer Errungenschaften zu kritisieren und zu korrigieren; einen UN-Sicherheitsrat etwa, in dem Russland seine eigene Sanktionierung und Verurteilung per Veto verhindern kann; oder ein Völkerrecht, dem anders als von Kant erhofft leider noch kein durchsetzungsstarkes Weltgericht zur Seite steht. Zumindest eingetrübt ist auch die Hoffnung, der weltweite „Handelsgeist“ werde quasi aus sich selbst heraus dauerhaften Frieden sichern, weil er, so Kant, „mit dem Kriege zusammen nicht bestehen kann“.
Trotzdem: Wir sollten um Himmels Willen nicht den Leichtsinn besitzen, das seit Kants Zeit Erreichte – ob aus Übermut oder aus Überdruss – aufs Spiel zu setzen. Denn es wäre das höchste politische Gut überhaupt, das wir damit gefährden würden: der Frieden selbst.
Meine Damen und Herren, es bleibt die brennend aktuelle Frage, wie morgen wieder Friede möglich werden kann, wo heute noch erbittert Krieg geführt wird, wo geschossen wird und Menschen sterben, so wie derzeit in der Ukraine oder auch, in einem ganz anders gelagerten Konflikt, in Gaza. Dieses Thema betrifft nicht nur diejenigen Menschen, die von solchen Kriegshandlungen ganz direkt in Mitleidenschaft gezogen werden. Es beschäftigt auch die Bürgerinnen und Bürger hier bei uns im Land. Offensichtlich ist, dass wir in Kants „Zum ewigen Frieden“ keine praktischen Handreichungen zur Lösung von kriegerischen Konflikten im 21. Jahrhundert finden können. Aber einige sehr kluge und bedenkenswerte Hinweise finden sich bei Kant eben doch.
Einen davon habe ich bereits erwähnt. Er betrifft die Notwendigkeit, im Krieg auf sämtliche Methoden zu verzichten, die jedes Restvertrauen zwischen den Kriegsgegnern zerstören und so einen späteren Friedensschluss unmöglich machen würden. Wir können nur eindringlich an die Kriegsparteien unserer Zeit appellieren, sich dieser Gefahr bewusst zu sein – und entsprechend zu handeln.
Kants zweiter Hinweis betrifft die Frage, zu welchen Bedingungen Kriegsparteien Frieden schließen können und schließen sollen. Für Kant ist es klar: Wer angegriffen wird, der darf sich verteidigen, und er soll auch nicht gezwungen sein, sich auf einen Friedensvertrag einzulassen, den der Aggressor in dem „bösen Willen“ abschließt, den Krieg bei „erster günstiger Gelegenheit“ wieder aufzunehmen. Ein solcher Friedensschluss, schreibt Kant, „wäre ja ein bloßer Waffenstillstand, Aufschub der Feindseligkeiten, nicht Friede, der das Ende aller Hostilitäten bedeutet“.
Ich meine, diese Warnung Kants sollten wir bedenken, wenn wir nach Auswegen aus den Kriegen unserer Zeit suchen. Wo geschossen und gestorben wird, da mag ein Waffenstillstand dann erstrebenswert sein, wenn er die Aussicht bietet, dass damit der Weg zu einem dauerhaften und gerechten Frieden eingeschlagen werden kann, zumindest das. Wo aber am Ende nichts Besseres ausgehandelt oder vermittelt werden könnte, als ein zeitweiliger „Aufschub der Feindseligkeiten“, da wäre dieses Ergebnis eben schon der Auftakt zum nächsten Krieg. Die Gefahr jedenfalls ist groß. Und wo die Rechte des Einzelnen nichts gelten, wo Unterdrückung herrscht und Willkür – auch dort kehrt kein dauerhafter Friede ein. Nichts anderes gibt Kant uns doch mit auf den Weg, wenn er insistiert: „Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“
Wir alle wünschen uns Frieden für unsere Zeit. Aber ein Frieden um jeden Preis – das wäre keiner. Auch diese Einsicht lehrt uns Kant. Vernunft und historische Erfahrung sollten uns anleiten, sie zu beherzigen.
Schönen Dank.“
TEXT Bundesregierung
FOTO Bundesregierung / Thomas Köhler