Ernährung als Medizin.
Gute Ernährung ist lebenswichtig, denn schlechte Ernährung verursacht Krankheiten. Experten schätzen den Anteil ernährungsbedingter Erkrankungen auf bis zu 70 Prozent. Folgerichtig liegen sowohl Ernährungsthemen als auch entsprechende Hochschulangebote im Trend. Mit dem Studiengang Medizinische Ernährungswissenschaft (MEW) hat die Universität zu Lübeck in ihrem lebenswissenschaftlichen Portfolio eine wissenschaftliche Lücke mit hohem Zukunftspotenzial geschlossen. Im Gespräch mit ME2BE CAMPUS erläutert der Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin und Studiengangleiter MEW, Prof. Dr. med. Christian Sina, die Relevanz des in Deutschland einzigartigen Studiengangs und wagt einen Blick in die Zukunft.
Hallo, Herr Professor Sina. Die gute Nachricht: Wir leben länger als jemals zuvor! Nach aktuellen Berechnungen des statistischen Bundesamtes werden neugeborene Mädchen 83 Jahre und 2 Monate alt, neugeborene Jungen 78 Jahre und vier Monate. Die schlechte Nachricht: Mit zunehmender Lebenserwartung verbringen wir auch mehr Zeit mit der Therapie unserer Erkrankungen. Befreien uns Erkenntnisse der medizinischen Ernährungswissenschaft aus diesem Dilemma?
Prof. Dr. Sina: Ja, diese Hoffnung treibt uns an. Am Ende unserer Forschung und Lehre sollen gewonnene Erkenntnisse in verbesserte Lebensmittelprodukte und individuelle Ernährungskonzepte überführt werden, um Erkrankungen wirksam vorzubeugen oder sie optimal therapieren zu können.
Was ist der Unterschied zwischen Ökotrophologie und medizinischer Ernährungswissenschaft?
Im Gegensatz zum Studium der Ökotrophologie, welches neben naturwissenschaftlichen auch sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fächer beinhaltet, ist MEW ein in der Hauptsache naturwissenschaftlicher Studiengang mit starkem biochemischen und humanbiologischen Fokus. Ziel ist es, die Wirkung von Makro- und Mikronährstoffen auf den individuellen Organismus inklusive seiner Erkrankungen besser zu verstehen, um dadurch zukünftig effektivere ernährungsmedizinische Therapien anbieten zu können. Unser Ziel ist nicht die Formulierung allgemeiner Ernährungstipps, sondern die Entwicklung passgenauer Lösungen.
Ziel des Studiums ist die Vorbereitung der Studierenden auf eine Tätigkeit als forschende Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an Hochschulen, Krankenhäusern oder Forschungseinrichtungen.
Können Sie Beispiele nennen, mit denen sich ihre Studierenden auseinandersetzen?
Ja, gern. Erstes Beispiel: Wir wissen, dass Wirkung von Nahrungsstoffen ähnlich wie die Wirkung von Medikamenten in jedem von uns sehr individuell ist. Das bedeutet, dass pauschale Ernährungsempfehlungen häufig nicht zutreffen und mitunter für den Einzelnen auch negative Folgen haben können. Um die Effekte von Nahrungsmitteln auf eine individuelle Person vorauszusagen, lernen unsere Studierenden sich mit modernsten Analyseverfahren auseinanderzusetzen und diese selbstständig im Rahmen von grundlagenwissenschaftlichen Experimenten und klinischen Studien einzusetzen. Dabei lernen unsere Studierenden u.a. sehr viel über das Zusammenspiel unserer Darmbakterien mit dem Immunsystem und unserem Stoffwechsel.
Ein anderes Beispiel betrifft die Wechselwirkung von Ernährung und pharmakologischer Therapie. So wissen wir schon länger, dass ausgesuchte Nahrungsstoffe die Bioverfügbarkeit von Medikamenten im Organismus beeinflussen können. Ziel der sogenannten Pharmakonutrition, die wir ab dem Wintersemester 2019 – meines Wissens als einzige Universität in Deutschland als eigenständige Lehrveranstaltung mit den Studienplan integrieren werden – ist die Identifikation spezifischer Kombinationen aus Nahrungsstoff und Medikamenten zum Einsatz in der Medizin. Durch klinische Studien, die von unseren Studierenden wissenschaftlich begleitet werden, wollen wir langfristig die Effektivität medikamentöser Behandlung zum Beispiel bei Krebserkrankungen und Autoimmunität verbessern.
Was sind die beruflichen Perspektiven Ihrer Absolventen?
Ziel des Studiums ist die Vorbereitung der Studierenden auf eine Tätigkeit als forschende Ernährungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler an Hochschulen, Krankenhäusern oder Forschungseinrichtungen. Der Bachelor eröffnet allerdings auch gute Perspektiven in der Industrie. Typische Einsatzfelder finden sich in der Qualitätssicherung, Produktentwicklung und -vermarktung sowie in der angewandten Forschung. Mit dem Abschluss des Masterstudiengangs erwerben Absolventen das Promotionsrecht und qualifizieren sich für Tätigkeiten in der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung in akademischen und nicht-akademischen Einrichtungen wie zum Beispiel Universitäten, Forschungszentren, Biotechnologieunternehmen, Nahrungsmittel- und pharmazeutischen Industriebetrieben.
Darüber hinaus möchten wir als Gründerhochschule auch verstärkt das Unternehmertun fördern und unsere Studierenden animieren zum Beispiel auch über die Gründung von Start-up Unternehmen nachzudenken.
Dementsprechend haben wir eine eigene Lehrveranstaltung Entrepreneurship – also Gründerwesen – mit in den Studienplan aufgenommen und bieten den Studierenden darüber hinaus die Möglichkeit über studiengeleitende Praktika Start-Up-Erfahrungen zu sammeln. Die Kombination einer modernen Life-Science Universität mit einer in der Stadt fest verankerten hanseatischen Kaufmannstradition und zahlreichen in der-Metropolregion angesiedelten Betrieben aus der Lebensmittelbranche schafft ideale Voraussetzung für die Verwirklichung eigener Geschäftsideen.
Am Ende unserer Forschung und Lehre sollen gewonnene Erkenntnisse in verbesserte Lebensmittelprodukte und individuelle Ernährungskonzepte überführt werden, um Erkrankungen wirksam vorzubeugen oder sie optimal therapieren zu können.
Welches Nahrungsmittel halten Sie für besonders wertvoll?
Mein persönliches Superfood sind Nüsse. Sie haben gesundheitsfördernde Eigenschaften und leisten in der meist nur kurzen Zeit zwischen Lehrveranstaltung, Labormeeting und Patientenversorgung einen wichtigen Beitrag für eine ausgewogene Ernährung. Allerdings bin ich kein Freund pauschaler Ernährungstipps. Menschliche Organismen reagieren unterschiedlich auf Nahrungsmittel.
Wagen Sie einen Ausblick? Wie wird sich Ernährung vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung und dem Klimawandel verändern?
Erstens, der Anteil synthetisch hergestellter Lebensmittel wird steigen, allein um Resourcen zu schonen. Zweitens, die personalisierte Ernährung wird ein starkes Thema. Zukünftig werden wir Ernährung auf unsere ‚Nutri-Typen‘ einstellen, also auf Stoffwechseltypen, die sich unter anderem durch die individuelle Komposition unserer Darmflora definieren. Drittens, mit zunehmenden Wissen werden wir pharmakologische und ernährungsmediznische Therapie kombinieren, um Nebenwirkungen zu reduzieren, Behandlungszeiten zu verkürzen und Therapien insgesamt effektiver zu gestalten.
Mein Ziel ist es, dass unsere Studierenden die Fähigkeiten und das Wissen erwerben, um Teil dieses wissenschaftsgetriebenen Umsetzungsprozesses zu werden. Dabei ist es mir wichtig, nicht nur wissenschaftliches und kreatives Denken zu fördern, sondern auch immer wieder daran zu erinnern, dass wir entsprechend des Leitgedanken unserer Universität – im Focus das Leben – zum Wohle der Menschen forschen.
TEXT Christian Dorbandt
FOTOS Eric Genzken