Der Antisemitismus der Hamas steht in der Tradition des nationalsozialistischen Vernichtungswillens und wird aus dem Iran unterstützt. In der deutschen Berichterstattung zu dem Mord an den Israelis ist von Antisemitismus als Motiv kaum die Rede.
»Was der Antisemit wünscht und plant, ist der Tod des Juden«, schrieb Jean-Paul Sartre 1944. Die Hamas lieferte am Samstag den Beweis für diese schreckliche Wahrheit. Es war der für Juden schlimmste Tag seit dem Holocaust. An diesem 7.Oktober überrannten Hunderte Islamisten israelische Grenzposten und überfielen Menschen im Süden Israels. Was folgte, glich einem großangelegten Pogrom: Wie im Blutrausch ermordeten Anhänger der Hamas und des Islamischen Jihad unter »Allahu akbar«-Rufen rund 900 Israelis, die meisten von ihnen Zivilisten, die sich an Bushaltestellen, in ihren Autos oder in ihren Wohnungen befanden.
Die Straßen Sderots waren, so Augenzeugen, von einem »Meer von Leichen« gesäumt. Kaltblütig erschossen die Islamisten 260 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Musikfestivals im Kibbuz Re’im und verschleppten mehr als 150 Menschen als Geiseln in den Gaza-Streifen. Dieses Massaker markiert in der Weltgeschichte des Antisemitismus die neueste Katastrophe und für den Nahen Osten eine Zäsur. Zwar wurden bereits im Unabhängigkeitskrieg 1948 mehr als 6000 Israelis und im Yom-Kippur-Krieg 1973 weitere 2600 getötet. Doch handelte es sich dabei um zwischenstaatliche Kriege, in denen hauptsächlich Soldatinnen und Soldaten fielen. Was am Samstag begann, war Terror gegen Zivilisten: 900 Morde im kleinen Israel – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl entspräche das auf Deutschland übertragen fast 8000 Terrortoten an einem einzigen Tag.
Vielleicht dachte die Hamas an diese Ströme von Blut, als sie ihrem Terrorangriff die zynische Bezeichnung »al-Aqsa-Flut« gab – eine Flut, die, so Hamas-Führer Ismail Haniya, in Gaza ihren Ausgang nahm und sich nunmehr auch auf die Westbank ergießen soll. Er rief die dortigen Araber dazu auf, durch individuellen Terror (»lone-wolf style attacks«) möglichst viele weitere Israelis zu töten. Das Massaker der Hamas wurde innerhalb der islamischen Welt überall dort gefeiert, wo Irans Machthaber Einfluss haben: Bei der libanesischen Hizbollah, im Irak bei den Hizbollah-Brigaden sowie den Ashab-al-Kahf-Milizen und bei der Houthi-Bewegung in Jemen. Doch auch die fälschlich als moderat eingestufte palästinensische Fatah-Bewegung feierte den Massenmord der Hamas als »einen Morgen des Sieges, einen Morgen der Freude, einen Morgen des Stolzes«.
Warum die Hamas Juden ermordet, wird selten gefragt.
Typisch ist ein Leitkommentar, den die FAZ am 9.Oktober unter dem Titel »Israels Verwundbarkeit« veröffentlichte. Darin wird das Massaker allein mit israelischem Verhalten in Verbindung gebracht. Der Streit um die Justizreform habe wie eine Einladung gewirkt, die Abkommen mit arabischen Staaten (Abraham Accords) hätten sich als Bumerang erwiesen und auch der israelische Rückzug aus dem Gaza-Streifen 2005 sei gescheitert. Die Hamas erscheint hier nicht als ein selbständiger Akteur mit eigenem Programm und eigener Verantwortlichkeit. Der Begriff »Antisemitismus« hingegen fehlt in der FAZ wie auch in den meisten Berichten. Das ist kaum zu fassen: Da kommt es zu dem schlimmsten Gemetzel an Juden seit der Befreiung von Auschwitz, doch über Antisemitismus wird geschwiegen. Dabei kann man die Motive der Hamas ihrem Programm entnehmen – der Hamas-Charta von 1988. In dieser wird nicht nur Israel, sondern es werden »die Juden« zum Weltfeind erklärt, einem Weltfeind, der die Medien global kontrolliere und nicht nur Revolutionen, sondern auch die beiden Weltkriege angezettelt habe. Wie Adolf Hitler in »Mein Kampf« führt auch die Hamas in ihrer Charta die »Protokolle der Weisen von Zion« als Beleg für jüdisches Verhalten an, um in Artikel 7 der Charta zu erklären: »Die Zeit der Auferstehung wird nicht anbrechen, bevor nicht die Muslime die Juden bekämpfen und sie töten.« Man hat es hier mit einer religiös geprägten Variante von Antisemitismus zu tun – einem Judenhass, der gleichwohl so »klingt, als ob er direkt von den Seiten des Stürmer abgeschrieben« sei, wie der palästinensische Politiker Sari Nusseibeh 2007 bemerkte.
Wie gelangte der Judenhass der Nazis zur Hamas?
Die Hamas bezeichnet sich in ihrer Charta als »Flügel der Muslimbrüder in Palästina« und sieht sich in einer Tradition mit dem antizionistischen Jihad seit den dreißiger Jahren. Dass Nazi-Deutschland von Anfang an in diesen Jihad involviert war (Jungle World 34/2023), wird in der Charta verschwiegen. Ab 1938 fanden mit Billigung Joseph Goebbels’ Begegnungen zwischen Nazi-Agenten und den Führern der Muslimbruderschaft (MB) statt, die ebenfalls Juden hassten und die ebenfalls das zionistische Projekt zu Fall bringen wollten. Aus Nazi-Deutschland erhielt die MB Finanzierung, gemeinsam veranstaltete man Schulungsabende über »die jüdische Frage« und unterstützte deren wichtigsten Bündnispartner, den Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, bei der »Arabischen Revolte« 1936 bis 1938. Später – zwischen 1939 und 1945 – versuchten die Nazis, den Hass auf den Zionismus mit unermüdlicher Radiopropaganda in arabischer Sprache zu verstärken, während sich der Mufti ab 1941 in Berlin aufhielt und bei der Judenvernichtung half. So intervenierte er beispielsweise gegen Pläne, jüdische Kinder aus der Slowakei und Ungarn nach Palästina reisen zu lassen. Sie sollten stattdessen, so seine Empfehlung, der die Nazis folgten, dorthin geschickt werden, »wo sie unter starker Kontrolle stehen, zum Beispiel nach Polen.« Obwohl die Alliierten die Nazis 1945 besiegten, blieb der Antisemitismus gerade im arabischen Raum, wo die MB inzwischen über Millionen Mitglieder verfügte, virulent. Als 1946 der Kriegsverbrecher Amin al-Husseini unbehelligt nach Kairo zurückkehrte, zeigte sich die MB begeistert: »Dieser Held«, jubelte sie, »kämpfte mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands gegen den Zionismus. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin al-Husseini wird den Kampf fortsetzen.« In der Tat trugen der Mufti und die MB in den Folgejahren maßgeblich dazu bei, die Zwei-Staaten-Resolution für Palästina, die die Vereinten Nationen 1947 beschlossen hatten, zu Fall zu bringen. Zwar scheiterten 1948 die arabischen Staaten bei dem Versuch, das im Mai gegründete Israel auszulöschen, doch blieb die Idee, Israel zu zerstören, weiter präsent. Führende Kraft sollte nun der iranische Geistliche Ruhollah Musavi werden, der später als Ruhollah Khomeini Berühmtheit erlangen sollte.
Seit der Islamischen Revolution von 1979 gilt der Iran als führend bei den Bemühungen, Israel – und das heißt: die Juden in Israel – zu vernichten.
1988 schließlich schrieb sich die vom iranischen Regime unterstützte Hamas eben dieses Ziel auf ihre Fahnen. Sie will keine Zweistaatenlösung, sondern ist entschlossen, Israel zerstören. Damit will sie ein Vorhaben, das mit Nazi-Deutschland unter Adolf Hitler seinen Anfang nahm, zum brutalen Abschluss bringen. Wie sich damals die Welt der Nazis erwehrte, sollte sie sich heutzutage gegen die Hamas stellen. Immerhin zeigt die Erfahrung mit Deutschland, was nötig ist, um eingefleischte Antisemiten zu besiegen: deren bedingungslose Kapitulation, gefolgt von einem Jahrzehnt der re-education.
Viele wollen von dieser verstörenden Wirklichkeit – von der Tatsache, dass mit dem Antisemitismus im Nahen Osten ein Stück NS-Geschichte bis in die Gegenwart hineinragt – nichts wissen. Dies ist aber der falsche Weg, wenn man in den nächsten Wochen der in noch größerem Umfang als bereits jetzt zu erwartenden Täter-Opfer-Umkehr entgegentreten will. Israel-Solidarität hat bekanntlich eine kurze Halbwertszeit. Schon kurz nach dem Massaker gab es erste Versuche, den Unterschied zwischen Aggressor und Verteidiger im Sprachgebrauch zu verwischen. So wurden Hamas-Terroristen in der ARD als »palästinensische militante Kämpfer« verklärt, und die FAZ schrieb von einem »Schlagabtausch zwischen der Hamas und Israel«, als handle es sich um ein Tennisspiel. Noch während einzelne Hamas-Banden marodierend und tötend durch den Süden Israels zogen, ermahnte der FAZ-Journalist Reinhard Müller die Israelis, »die Angemessenheit einer wirksamen Selbstverteidigung, das Schonen von Zivilisten (und) das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser zu achten«. Mit derartigen Forderungen wird Israel angesichts seiner in Kürze beginnenden Großoffensive massenhaft konfrontiert werden; die üblichen Verdächtigen werden Israel vorwerfen, in alttestamentarischer Manier (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«) Rache nehmen zu wollen. Sie werden nach und nach versuchen, islamistische Gewaltakte wieder mit Israels Politik zu begründen, also die Juden auch noch für den Antisemitismus der Islamisten verantwortlich machen. Und sie werden versuchen, die momentan erschütterten Grundannahmen des internationalen Nahost-Diskurses – hier die Palästinenser als Opfer, dort die Israelis als Täter – erneut zu stärken.
All die zu erwartenden Versuche, den Unterschied zwischen Aggressor und Verteidiger zu verwischen oder gar deren Rollen zu vertauschen, werden aber nichts daran ändern, dass Israel keine andere Wahl hat, als zu kämpfen. Die Holocaust-Überlebenden Fanny Englard hat über Israels Kampf bemerkt: »Sag nicht Krieg. Sag Lebenskampf. Es ist ein Unterschied, ob man einen Krieg führt oder ob man um sein Leben kämpft. Wir haben es mit dem Judenhass von Hitlers islamistischen Erben zu tun. Wenn Israel gegen die angeht, die es auslöschen wollen, ist das nicht Krieg, um andere zu töten, sondern ein Kampf um Leben.«
12.Oktober 2023
TEXT Matthias Küntzel, Jungle World 41
FOTO Chris Curry (unsplash) / Robert Bye (unsplash)