Im Zeichen der Demokratie: 75 Jahre Europa-Universität

Im Zeichen der Demokratie: 75 Jahre Europa-Universität

Vor 75 Jahren wurde die Europa-Universität Flensburg gegründet. Der Auftrag zur Demokratieerziehung wurde ihr in die Wiege gelegt. Heute ist das Thema wieder brandaktuell.

Als im Flensburger Stadtteil Mürwik am 21. März 1946 Brahms’ Akademische Festouvertüre in c-Moll erklingt, ist der 2. Weltkrieg noch keine elf Monate vorüber. Die Trümmer sind noch nicht überall vollständig beseitigt, hunderttausende Kriegsgefangene noch nicht zurückgekehrt, als die britische Militärregierung hier die „Pädagogische Hochschule Flensburg“ aus der Taufe hebt. Sie wollte nicht weniger, als das Bewusstsein der Deutschen nachhaltig im Zeichen der Demokratie zu verändern. Und dafür brauchte sie Lehrer. „Wir waren ein Experiment 1946. Und heute kann man sagen: ein erfolgreiches Experiment“, sagte Werner Reinhart, Präsident der Europa-Universität Flensburg (EUF), Nachfolger der Pädagogischen Hochschule, anlässlich der 75-Jahr-Feier im September.

Wegen der Corona-Pandemie feierte die Uni ihren Geburtstag deutlich später als geplant. Beim Festakt im Audimax sprachen Reinhart und Vertreter aus Politik und Bildung vor rund 50 Gästen. Weit mehr verfolgten die Veranstaltungen online im Live-Stream. „Allzu viele Freuden- und Feiertage hatten wir nicht in den letzten 18 Monaten“, sagte Reinhart bei seiner Rede. „Umso schöner, dass wir heute in der Lage sind, unsere Gründung 1946 zu feiern.“

Mehr Verständnis schaffen

Diese Gründung wurde von den Briten mit dem Verweis auf die besondere Bedeutung des „Lehrerberufs für die Erziehung zur Menschlichkeit und Sittlichkeit“ vollzogen. 200 Kriegsheimkehrer mit Abitur wurden in einem 15-monatigen „Sonderstudium“ zu Lehrern ausgebildet. Heute studieren gut 6000 Menschen an der nördlichsten Uni Deutschlands. Den Briten sei es neben der Entnazifizierung auch um die „Reeducation“ gegangen – eine Säuberung der Köpfe, erläuterte Uwe Denker von der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History. „Letztendlich nichts anderes als die Demokratisierung. Und das war ein wirklich ambitioniertes Ziel, wenn man bedenkt, dass die Deutschen ihre Weimarer Demokratie aktiv und mit Mehrheit abgeschafft hatten – mit verheerenden Folgen.“

Ihren Gründungsauftrag hat die EUF um europäische und außereuropäische Perspektiven und um zentrale gesellschaftliche Themenfelder erweitert. Trotzdem stand vor allem die Demokratiebildung im Zentrum des Jubiläums. Nach dem Festakt wurde eine Podiumsdiskussion unter der Überschrift „Demokratiebildung durch Schule“ online übertragen. „Der Auftrag der Erziehung zur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wurde uns in die Wiege gelegt“, sagte Reinhart. „Er ist heute wieder höchst aktuell.“

Darüber waren sich auch die Teilnehmer der Diskussionsrunde einig. Demokratie, sagte NDR Info-Journalistin Birgit Langhammer, die die Runde moderierte, habe Schwächen in ihrer DNA. „Zum Beispiel was ihre Abwehr und Selbstverteidigung angeht.“ Sie sei nicht einfach da und bleibe. Man muss sie wollen, und man muss sich für sie einsetzen.“ Christine Wiezorek, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Pädagogik des Jugendalters an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Hochschulrätin der EUF, sprach dabei von „pädagogischem Grundlagengeschäft“. Nicht nur das Wissen über Demokratie müsse unterrichtet werden, es müssten auch grundsätzliche Werte vermittelt werden. Das beginne bereits in Familien und werde in der Schule fortgesetzt.

Ein Teil des Berufsethos

Auch Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien hob die Wichtigkeit von erzieherischen Aspekten hervor. Bei der Demokratieerziehung kommt es darauf an, inwiefern ich erfahre, dass ich selber mitgestalten kann, dass ich selber an Meinungsbildungsprozessen beteiligt werde, dass ich auf Augenhöhe wahrgenommen werde, dass ich  Selbstwirksamkeit entfalten kann“, sagte die CDU-Politikerin. Dafür seien Lehrer und Lehrerinnen mit Haltung nötig. „Meine Erwartung an Menschen, die Lehrkräfte werden, ist, dass Demokratieerziehung Teil ihres Berufsethos ist. Das ist eine grundsätzliche Haltungsfrage.“

Eine Ansicht, die auch Dirk Rother, Leiter der Thomas-Mann-Schule in Lübeck, teilt. Seine Schule wurde für eine UN-Simulation mit dem Sonderpreis des Ministerpräsidenten beim schleswig-holsteinischen Schulpreis 2020 ausgezeichnet. „Für mich ist die Begegnung zwischen Lehrkräften und Schülern wichtig – und da ist die Haltung der Lehrerinnen und Lehrer elementar, weil wir etwas vorleben müssen. So funktioniert Pädagogik in der Praxis.“ Das Problem: Auch diese Haltung müsse angehenden Lehrkräften mitgegeben werden.

Ministerin Prien räumte ein, dass an Aus- und Fortbildung gearbeitet werden müsse. Das liege auch an neuen Herausforderungen. „Wir haben radikale Strömungen in unserer Gesellschaft von rechts, wir haben aber auch Lehrkräfte, die mit Salafismus und Islamismus konfrontiert werden“, sagte sie. Lehrerinnen und Lehrer müssten Courage beweisen. „Dafür muss man sie stärken und ihnen auch mehr an Argumentationskraft zur Verfügung stellen. Deshalb brauchen wir andere Fortbildungs- und Ausbildungsangebote. Da ist Handlungsbedarf.“

Der Mut der Menschen schütz

Den sieht auch Professor Reinhart. „Ich bin der festen Überzeugung, dass das wichtiger geworden ist, als es noch vor zehn Jahren war“, sagte er mit Blick auf radikale Strömungen, die Corona-Pandemie und auf die USA, die er als studierter Amerikanist besonders beobachte. „Wir haben gerade in Amerika gesehen, wie sehr eine Demokratie unter Druck geraten kann, wie sehr sie gefährdet werden kann“, betonte er. „Ich habe aus der Trump-Zeit gelernt, dass Institutionen alleine gar nichts schützen. Es schützt der Mut der Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten. Und diesen Mut müssen wir unbedingt bei unseren Studierenden wecken und müssen ihn auch vorleben. Das ist unsere Verantwortung als Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer.“ Nötig seien Lehrer, die Zivilcourage verkörperten. „Denn wir erwarten von unseren Schülerinnen und Schülern auch, dass sie die Schwachen schützen und dass sie die Rechte von Minderheiten achten.“

Dass es solche Lehrer gibt, berichtete Maximilian Henningsen, stellvertretender LandesschülerInnensprecher „Gemeinschaftsschulen“ in Schleswig-Holstein. „Demokratie wird an Schulen gelebt“, sagte er. „In Form von Schülerparlamenten, Mitspracherecht in Schulkonferenzen und in vielen weiteren Projekten wie ‚Schule ohne Rassismus‘ – die machen hervorragende Demokratiebildung.“ Problem sei, dass solche Projekte von engagierten Lehrerinnen und Lehrern oft zusätzlich zum Unterricht organisiert würden. „Die Zahl an Erlassstunden reicht für so etwas nicht aus.“

Demokratie in den Unterricht einbinden

Die seien aber auch nicht immer nötig, meinte Schulleiter Rother. „Schule funktioniert nicht so, dass wir für alles, was wir tun, monetär entschädigt werden.“ Es gebe durchaus sehr viele intrinsisch motivierte Lehrkräfte. Laut Hochschullehrer Reinhart sind auch nicht nur Projekte dazu geeignet, das Demokratieverständnis zu fördern. „Wenn man in Englisch über die Geschichte der Sklaverei redet oder in Französisch über Kolonialismus, dann liegt es auf der Hand, auch über demokratische Werte zu sprechen“, erläuterte er. Nur bei manchen Fächern fehle ihm noch eine Idee. „Bei Mathematik gibt es klare Ergebnisse, über die man nicht demokratisch abstimmen kann. Aber ich traue unseren Leuten zu, dass sie dort auch etwas Kluges sagen können.“

Text: Robert Otto-Moog
Foto: Julius Demant/EUF