Berufsorientierung ist ein schwieriges Unterfangen: Über 20.000 Studiengänge und rund 320 Ausbildungsberufe gibt es aktuell in Deutschland – nicht leicht, da die richtigen Entscheidungen zu treffen. Doch es gibt Faktoren, die für einen erfolgreichen Übergang ins Berufsleben ausschlaggebend sein können. Welche das sind und wie berufliche Orientierung im Idealfall aussehen sollte, haben uns zwei Experten erläutert, die sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit dem Thema befassen: Prof. Dr. Reiner Schlausch und Dr. Marco Hjelm-Madsen vom Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik (biat) der Europa-Universität Flensburg.
Ganz gleich, welcher Abschluss auf dem Zeugnis steht: mit dem Ende der Schulzeit ist für die meisten jungen Menschen der unkomplizierte Teil des Lebens beendet. Die Frage, wie es weitergeht, nimmt ihnen niemand mehr ab. Es sind weitreichende Entscheidungen, die sie auf dem Weg ins Erwachsenenleben treffen müssen. Studieren? Eine Ausbildung? Weiter zur Schule gehen? So individuell die Fragen, so komplex die Antworten. Denn: Wie können junge Schulabgänger bereits einen Beruf wählen, den sie unter Umständen für viele Jahrzehnte ausüben werden? Ist das überhaupt möglich?
Bildungsziel Schulabschluss– und dann?
Geht es nach Prof. Reiner Schlausch und Dr. Marco Hjelm-Madsen, ist die Antwort eindeutig: ja. Die beiden Wissenschaftler arbeiten am Flensburger biat und befassen sich in ihren Forschungen unter anderem mit den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Berufsorientierung. Ein Problem: Das primäre Ziel allgemeinbildender Schulen ist, die Schülerinnen und Schüler bis zu ihrem Abschluss zu begleiten – ohne die Zeit danach im Blick zu haben. „Wir erleben hier eine fehlende Anschlussorientierung. Was die Schülerinnen und Schüler nach ihrem Weggang machen, entzieht sich in aller Regel der Kenntnis der Schulen“, erläutert Schlausch. Zwar läge die Verantwortung für die Berufsorientierung bei den Schulen, ein landesweiter Lehrplan fehle jedoch. „Die berufliche Orientierung wird häufig im Wirtschaft-Politik-Unterricht abgeladen“, sagt der Professor. „Dabei müsste es eine Querschnittsaufgabe für die ganze Schule sein.“
“Die Folge sei eine oft unklare Perspektive, wenn die jungen Menschen die Schule verlassen. „Einem hohen Prozentsatz von Absolventen ist zum Zeitpunkt des Abschlusses überhaupt nicht klar, wie es weitergeht“, betont Hjelm-Madsen. Die einzelnen Schulen hätten einen hohen Gestaltungsspielraum, zugleich jedoch wenig konkrete Vorgaben. „Wir haben in diesem Bereich eine extreme Fragmentierung.“
Dass an den Schulen viele Lehrerinnen und Lehrer mit dem Thema Berufsorientierung überfordert fühlen, liegt nach Ansicht von Hjelm-Madsen vor allem an der fehlenden Ausbildung. „Kaum ein Lehrer hat sich professionell mit dem Thema befasst. Es ist meistens nicht Bestandteil des Studiums, und sie können oft nicht auf eigene berufliche Erfahrungen außerhalb der Schule zurückgreifen“, diagnostiziert Hjelm-Madsen. Zwar würden viele Lehrkräfte für Berufsorientierung mit Engagement bei der Sache sein. Allerdings eben auch ohne hinreichende Professionalisierung.
Gelungene Berufswahlprozesse beruhen auf Selbstreflexion.
Selbsterkenntnis statt Testergebnis: Jeder sucht für sich
Entscheidend für eine erfolgreiche Berufsorientierung ist laut Schlausch und Hjelm-Madsen allerdings eine grundlegende Erkenntnis der Forschung: „Gelungene Berufswahlprozesse beruhen auf Selbstreflexion, werden aber häufig noch als ein Problem der Information behandelt.“ Man müsse Jugendliche in die Lage versetzen zu sagen: Was will ich? Was kann ich? Woran habe ich Freude? „Die Beantwortung dieser Fragen gehört zum Selbstkonzept.“ Dafür reiche es aber nicht, den jungen Menschen bloß verschiedene Berufe vorzustellen. „Bislang gibt es ein, zwei Praktika und eine Potentialanalyse. Dabei müssten die Jugendlichen viele verschiedene Dinge ausprobieren und eine Beratung erfahren, die über den Beruf hinausgeht, weil es um Lebensberatung geht.“
Gerade in Deutschland hat der Beruf eine besondere gesellschaftliche Bedeutung, erläutert Hjelm-Madsen. In anderen Ländern gehe es eher um eine reine Erwerbsarbeit. „In Deutschland ist die erste Frage in einem Gespräch oft: Was machst du? Auch das sind Einflüsse, die im Prozess der Berufswahl berücksichtigt werden müssten.“ Auch Faktoren wie etwa Geschlecht, soziale Herkunft, Region und Migrationskontexte hätten großen Einfluss auf die Entscheidungen. „Heute wird oft suggeriert, dass die Wahl strategisch-bewusst und als Massenphänomen getroffen werden kann. Aber das ist nicht richtig. Man braucht individualisierte Perspektiven, ein Bewusstsein für Zufallsaspekte und muss auch Eltern, Freunde sowie das Umfeld im Blick behalten.“
Doch wie müsste die Berufsorientierung aus wissenschaftlicher Sicht gestaltet sein, um den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht zu werden? In jedem Fall umfangreicher und mit den richtigen Ansprechpartnern, da sind sich Schlausch und Hjelm-Madsen sicher. „Allgemeinbildende und berufsbildende Schulen sollten stärker kooperieren. Die Schülerinnen und Schüler hätten an den Berufsschulen die Möglichkeit, verschiedene berufsspezifische Tätigkeiten unter der Anleitung ausgebildeter Pädagogen selbst auszuprobieren“, erläutert Hjelm-Madsen. So würden sie unterschiedliche Berufsfelder und Werkstoffe kennenlernen. „Das wäre ein gezieltes und reflektiertes Ausprobieren im pädagogischen Schonraum ergänzend zu Betriebspraktika.“
Erfolgreiche Konzepte existieren bereits
Das Konzept, die Expertise beruflicher Schulen für Schüler allgemeinbildender Schulen zu nutzen, ist nicht neu. „Das sogenannte Neustädter Modell ist bereits rund zehn Jahre alt und wurde mehrfach ausgezeichnet. Umgesetzt wird es andernorts allerdings selten“, erklärt Schlausch. Das liege insbesondere am hohen Aufwand: Man müsse zwei unterschiedliche Schulsysteme koordinieren, die Kapazitäten (Personal und Räume) vorhalten, Unterrichtszeit einplanen, sowie Fragen zu Transfer, Aufsichts- und Versicherungspflicht klären. „Daran scheitert der Transfer des Modells dann häufig.“
Pläne, Berufsorientierung als eigenes Unterrichtsfach zu installieren, halten beide Wissenschaftler für wenig erfolgversprechend. „Wer soll es denn unterrichten?“, fragt Hjelm-Madsen. Die Lehrerinnen und Lehrer hätten bislang nicht die erforderliche Ausbildung. „Spannend ist außerdem die Frage, wie in so einem Fach Leistungsbewertungen zu erfolgen hätten. Es liegt in der Natur der Sache, dass im Schulunterricht nach festgelegten Kriterien benotet wird. Wie soll das in einem möglichst individuellen Prozess gehen, der die persönliche Zufriedenheit als oberstes Ziel hat?“
Auch Schlausch plädiert für einen anderen Weg. Weil Berufsorientierung eine Querschnittsaufgabe für die gesamte Schule sein müsse, bräuchte es Personal außerhalb des Lehrerkollegiums. „Ein vielversprechendes Modellprojekt verfolgt den Ansatz sogenannte Ausbildungslotsen in den Schulen zu installieren.“ Die Lotsen müssten eigene Berufserfahrung außerhalb von Schule und eine wissenschaftliche Qualifizierung etwa als Sozialwissenschaftler vorweisen. „Sie arbeiten individuell mit Schülern, haben eigene Büros in den Schulen und vermitteln auch weiterführende Hilfsangebote. Es hat sich bereits gezeigt, dass die Übergänge in den Beruf besser funktionieren“, bekräftigt der Berufsbildungsforscher. Zwar seien zuerst Investitionen notwendig. „Aber langfristig gesehen könnte das Modell sogar günstiger sein.“
PROF. DR. REINER SCHLAUSCH,
Jahrgang 1956, ist ein „Kind des zweiten Bildungswegs“. Nach dem Hauptschulabschluss 1972 absolvierte er eine Ausbildung zum Werkzeugmacher, studierte anschließend Maschinenbau und Lehramt in Hannover und Bremen, bevor er 1995 promovierte. Nach zwei Jahren Vertretungsprofessur an der TU Dresden folgte Schlausch dem Ruf aus Flensburg und ist seit 2006 Professor für die berufliche Fachrichtung Metalltechnik/Systemtechnik an der Europa-Universität Flensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das Lernen im Arbeitsprozess und arbeitsprozessorientierte Didaktik, die Berufsbildung im Produktionsbereich, Lehr-Lern-Konzepte sowie Berufsorientierung.
DR. MARCO HJELM-MADSEN,
Jahrgang 1975, ist auch in eigener Sache Experte für Fragen der Berufsorientierung. Nach seinem Abitur fehlten dem Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus Dänemark die nötigen Erfahrungswerte, um den„einfachen und direkten Weg“ zu gehen. Stattdessen folgten: politische Aktivitäten und die Gründung eines genossenschaftlich organisierten Fahrradkurierunternehmens – bis er ein Informatikstudium begann. Nebenher arbeitete Hjelm-Madsen in der Halbleiter-Industrie, stieg aber in dem Hamburger Werk intern zum Ausbilder auf. Dann Umzug nach Flensburg, Wechsel ins Lehramt an berufsbildenden Schulen, die Anfertigung einer ausgezeichneten Dissertation als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung sowie diverse Forschungsprojekte. Seit 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich für Berufspädagogik des biat.
TEXT Lutz Timm
FOTOS Denise Bemmé