„Disruption halte ich für falsch. Evolution ist der richtige Weg.“ – Utz Schliesky

„Disruption halte ich für falsch. Evolution ist der richtige Weg.“ – Utz Schliesky

Ein Gespräch mit dem Direktor des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Utz Schliesky, über Glück, Generalisten und Geschichte.

Wir befinden uns im Büro des Direktors des schleswig-holsteinischen Landtags bei Professor Utz Schliesky, geboren 1966 in Kiel, Rechtswissenschaftler. Sie haben ein Buch zum Thema Glück geschrieben. Dazu später.

Zuerst die Frage: Kann man als Landtagsdirektor glücklich werden?

Utz Schliesky: Das kann man auf jeden Fall. Wobei ich natürlich auch gleich dazusetzen möchte, es ist natürlich nicht der Beruf allein, der glücklich macht. 

Was würden Sie da an erste Stelle stellen?

Mit Sicherheit das private Umfeld. Und dann eine erfüllende, ausfüllende Tätigkeit, die spannend ist, die einen immer wieder herausfordert. Das ist ein wesentlicher Faktor, um am Ende die Glücksbilanz positiv erscheinen zu lassen.

Erzählen Sie doch mal Ihren Lebenslauf. Was hat Sie bewogen, diese Karriere einzuschlagen? Und was können Sie Schulabgängern als grundsätzlichen Tipp mitgeben?

Ich fange mal hinten an. Grundsätzlicher Tipp für Berufsanfänger: Ich würde mir immer eine große Offenheit bewahren. Einen Berufsweg kann man gar nicht so richtig planen. Ich habe mal angefangen, Rechtswissenschaften zu studieren und wollte unbedingt in die Wirtschaft. Das war mein Ziel. Ich habe dann allerdings im Studium gemerkt, dass ich Wissenschaft ganz spannend finde. Und die Gelegenheit gehabt, an einem Lehrstuhl zu arbeiten, dort zu promovieren. Und das hat mir so gut gefallen, dass ich noch während meiner Promotionszeit beschlossen habe, den Wissenschaftsweg weiterzugehen. Das kann ich nur empfehlen. Das ist die freieste Zeit, die man in seinem Leben haben kann, was Selbstbestimmung im Beruf angeht. Später bekam ich ein Angebot, zum Deutschen Landkreistag zu gehen, war in Berlin stellvertretender Hauptgeschäftsführer, hatte ein Büro in Brüssel und habe als Staatsrechtler unglaublich spannende Einblicke bekommen. Weil ich ja alles das, was ich wissenschaftlich durchdacht hatte, in der Praxis erproben und erleben konnte. Dann kam das Angebot, nach Schleswig-Holstein zurückzukehren und hier eine Abteilung zur Verwaltungsmodernisierung aufzubauen. Eine große Herausforderung, die fünf Jahre auch großen Spaß gemacht hat. Und dann kam tatsächlich das nächste Angebot, in meinem Heimatland Direktor des Landtages zu werden, das mache ich jetzt seit knapp 16 Jahren. 

Wie würden Sie das beschreiben, ist man der oberste Maschinist im Haus der Demokratie? 

Das ist wohl eher ein Schiff, weil wir hier am Meer sitzen. Aber das ist ein ganz schönes Bild. Als Direktor des Landtages, überhaupt als Landtagsverwaltung, ist man nicht auf der Bühne. Die Bühne gehört der Politik. Aber eine Landtagsverwaltung sorgt dafür, dass Politik arbeiten kann, dass sie funktionieren kann. Und Politik könnte nicht arbeiten, wenn es von der IT bis zur Heizung, von intensiver inhaltlicher wissenschaftlicher Beratung bis zu den Reisekostenabrechnungen das alles nicht gäbe.

Ist eines Ihrer Lebensthemen die Digitalisierung der Verwaltung?

Ja, das ist eines der wissenschaftlichen Themen, die mich sehr interessieren und mit denen ich mich tatsächlich jetzt schon seit über 20 Jahren beschäftige. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf Staat, Gesellschaft, und das Recht. In Deutschland ja ein eher unerfreuliches Thema.

Sie haben 2017 in der ARD gesagt: Die Digitalisierung in Deutschland ist eine Ruinenlandschaft. Wie sieht es heute aus?

Es sind noch ein paar Ruinen dazugekommen, würde ich sagen. Wir haben leider viel zu wenig Funktionsfähiges, weil wir immer noch eine falsche Strategie fahren. Wir digitalisieren immer noch vom Staat aus in Richtung Bürger. Aber so entstehen ganz viele unterschiedliche Verfahren und jede Behörde meint, ein eigenes Verfahren entwickeln zu müssen. Aus Sicht des Bürgers bedeutet das: Ich muss jedes Mal ein neues Verfahren lernen, wenn ich eine digitale Leistung in Anspruch nehmen möchte. Ich muss jedes Mal meine Daten neu eingeben. Und dann klappt etwas nicht. Das ist überhaupt nicht attraktiv. Die richtige Strategie wäre, vom Bürger aus zu denken. Überlegen, wie ist es für ihn möglichst angenehm. Damit er nicht immer wieder Formulare ausfüllen muss, früher auf Papier, jetzt digital. Das ist ein grundlegend anderer strategischer Ansatz, der uns wir sehr viel Geld sparen könnte und die Akzeptanz digitaler Lösungen erhöhen würde.

Kann man denn etwas an diesem Thema ändern? Würden Sie denn jungen Menschen raten, Verwaltungswissenschaften zu studieren?

Verwaltungswissenschaften kann man leider nur an wenigen Universitäten, oft erst nach einem anderen Abschluss, studieren. Ansonsten empfiehlt sich, Rechtswissenschaften zu studieren. Das Manko besteht darin, dass wir nicht so weit sind, wie wir im 19. Jahrhundert schon mal waren. Da gab es die Staatswissenschaften, die haben alles umfasst. Recht, Verwaltungswissenschaften, Ökonomie, Volkswirtschaftslehre, Geschichte und ein Stück weit Politikwissenschaft. Im Grunde brauchen wir genau diese Generalisten. 

Sie kennen sicher diese ungezählten Memes über die Bürokratie, über die Verwaltung, über den Staat. Was macht das mit Ihnen? Ist das politisch oder einfach nur ein Witz? Oder erodiert da etwas?

Durch das stetige Wiederholen dieser Witze erodiert etwas. Es ist teilweise Framing von interessierter Seite. Da werden Bürokratie, Staat und Verwaltung bewusst lächerlich gemacht. Und natürlich gibt es ganz viele Ereignisse, die berichtenswert sind und über die man den Kopf schütteln oder sich ärgern kann. Wir haben eine so komplexe Welt geschaffen, die auch zu Widersprüchlichkeiten führt.

Wie sehen Sie es, wenn jemand wie Elon Musk oder Xavier Milei mit Kettensäge auf der Bühne steht und die Verwaltung einfach zusammensägen möchte? 

Dann sehe ich das mit Entsetzen. Und ich sehe auch mit Entsetzen, dass es Anhänger gibt, die ein solches Bild übernehmen und in ihr Vokabular aufnehmen. Disruption halte ich für falsch. Evolution ist der richtige Weg. Wir müssen ohne Frage unseren Staat, unsere Verwaltung dringend reformieren. Das unterschreibe ich sofort. Aber mit einer Kettensäge alles abzusägen, oder wie man es in Amerika erlebt, einfach Menschen entlassen, Behörden auflösen ohne Sinn und Verstand, das legt die Axt an das Fundament eines Staates. Ich würde dringend davor warnen, weil eine funktionierende Verwaltung das Fundament eines Staates ist. Und das weiß man dann zu schätzen, wenn man sie nicht mehr hat. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass der Staat sich zu viele Aufgaben vorgenommen hat. Wir haben in Schleswig-Holstein im Jahre 2005 mal eine intensive Aufgabenkritik gemacht. Herausgekommen ist ein 1200-Seiten-Bericht mit Vorschlägen, auf welche Aufgaben man verzichten kann, welche man effektiver wahrnehmen oder auf andere Träger verlagern kann. Man hätte es nur machen müssen. Und das war genau das Problem. Von diesem Katalog ist nur sehr wenig umgesetzt worden, weil der politische Mut fehlte. 

Wo spüren Sie in Ihrer Verwaltung den Fachkräftemangel?

Natürlich in allem, was mit IT zu tun hat, aber auch längst in den klassischen Berufen, bei allem, was mit Rechtswissenschaften zu tun hat. Wir haben früher waschkörbeweise Bewerbungen von Juristinnen und Juristen bekommen. Heute freuen wir uns, wenn wir überhaupt noch acht Bewerbungen haben und dann am Ende überhaupt noch eine Kollegin oder ein Kollege dabei rausspringt. 

Spannend an so einem Beruf stelle ich mir vor, dass man an demokratischen Prozessen vielleicht nicht unbedingt beteiligt, aber immer dabei und immer in der Nähe ist.

Ja, da haben Sie völlig recht. Und das ist auch ein Pfund, mit dem wir wuchern können. Das kann ich für meine Kolleginnen und Kollegen sagen. Alle, die hier arbeiten, brennen für die Demokratie. Ob man im Ausschuss-Bereich arbeitet und die ganze Zeit bei den Diskussionen der Abgeordneten dabei ist, ob man Parlamentsstenograf ist, ob man inhaltlich berät, ob man in der Öffentlichkeitsarbeit ist und die Besuchergruppen mit Abgeordneten zusammen betreut. Das ist, was alle Kolleginnen und Kollegen hier fasziniert und ich habe auch immer den Eindruck, das ist auch der Grund, warum Sie sich hier beworben haben.

Sie sind auch Vorstand des Lorenz-von-Stein Instituts für Verwaltungswissenschaften. Was kann der uns denn heute noch sagen? (Lorenz von Stein: 1815-1890, Staatsrechtler und „Erfinder“ des Begriffs „Soziale Demokratie“) Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften 

Der kann uns eine ganze Menge sagen. Zum einen war er einer der letzten ganz großen Wissenschaftler, die noch ganzheitlich gedacht haben. Und er verkörpert den Typus, der in vielen Bereichen fehlt: Den Generalisten, der ökonomisch denken kann, der rechtlich geschult ist, der aber auch Verwaltung versteht und dieses Ineinandergreifen der Rädchen begreift. Und da ist unser heutiges Wissenschafts- und Bildungssystem ein Stück weit weg. Wir schauen sehr in die Tiefe, aber schauen nicht mehr nach links und nach rechts. Da war Lorenz von Stein völlig anders und deswegen könnte er uns eine Menge sagen, insbesondere zur Bedeutung der Verwaltung. Er hat eben als einer der ersten erkannt, wie wichtig eine funktionierende Verwaltung für den sozialen Ausgleich in einer Gesellschaft ist.

Mit anderen Worten, er hat dafür zu sorgen versucht, dass Staat und Gesellschaft miteinander kommunizieren?

Genau. Und er hat das, was wir heute durch Soziologie und Rechtswissenschaft getrennt haben, das hat er noch zusammen gedacht. Er hat die Bedeutung der Gesellschaft in das Recht, in das Staatsdenken hineingebracht und umgekehrt die Wechselwirkung mustergültig herausgearbeitet. 

Jetzt haben wir viele kritische Themen gehabt und Probleme gewälzt. Sie sind auch als Autor tätig. Sie haben ein Buch über das Thema Glück geschrieben. Schleswig-Holsteiner sind angeblich die glücklichsten Menschen. Stimmt das?

Im letzten Ranking haben wir leider einen Platz verloren. Die Hamburger haben uns überholt und wir sind auf Platz zwei, zusammen mit Bayern. Aber immerhin sind wir doch immer noch ganz vorne dabei. Die Grundthese bei mir lautet: Verändere, was du bewahren willst. Wir dürfen uns nicht ausruhen auf unserem Glück. Und ich glaube, wenn wir ehrlich mit uns sind, bei all den Problemen, die wir haben, leben wir immer noch auf einer Insel der Glückseligkeit, auf einem unglaublich hohen Wohlstandsniveau mit ganz vielen Freiheiten und Möglichkeiten. Ich möchte, dass meine Kinder und irgendwann Enkelkinder das auch noch erleben. Aber die größte Gefahr ist Selbstzufriedenheit. Deswegen müssen wir anpacken und uns an das veränderte Umfeld, Wirtschaft, Gesellschaft, Klima, politische Herausforderungen, an all das anpassen.

Vielen Dank für das Gespräch.