„In der Ukraine geht es schon lange nicht mehr nur um einen Konflikt“ – Was wir aus Krisen lernen können
Terror, Pandemie, Krieg: Krisen und Konflikte begleiten uns nahezu ständig. Der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb, weiß, worauf es ankommt, um diese zu überstehen. Und er kennt sogar eine Universallösung. Das Interview hat unser Autor Robert Otto-Moog am 17. März geführt.
ME2BE: Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Terror, Corona-Pandemie und jetzt Krieg in der Ukraine: Wir schlittern gefühlt von einer Krise in die nächste. Was macht das mit uns?
Frank Roselieb: Das „uns“ ist zweigeteilt. Wir unterscheiden zwischen der Mikroebene des einzelnen Menschen und der Makroebene – also der Gesellschaft als Ganzes. Auf der Mikroebene hängt der Umgang mit Krisen stark von der Vorprägung ab. Ältere Menschen haben schon mehrere Pandemien beziehungsweise Epidemien erlebt und gehen tendenziell gelassener an das Thema heran. Ich mache meinen Job seit fast 25 Jahren. Corona ist bereits meine fünfte Infektionsschutzlage. Ganz andere Gefühle löst dagegen der Russland-Ukraine-Krieg bei älteren Menschen aus. Nicht wenige mussten Anfang 1945 mit ihren Eltern vor den anrückenden russischen Truppen aus Ostpreußen in den Westen fliehen. Für diese heute 80- bis 90-Jährigen sind die Bilder aus der Ukraine, Polen oder Ungarn ein Déjà-vu – und damit eine enorme Belastung.
ME2BE: Und auf der Makroebene, die Sie angesprochen haben?
Frank Roselieb: Bei der Gesellschaft als Ganzes entscheidet der gefühlte Kontrollverlust über die Verarbeitung der Krise. Im Fall der Corona-Pandemie ist das Grundvertrauen in die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft, Gesundheitswesen und Arzneimittelindustrie bei der großen Mehrzahl der Deutschen recht hoch. Beim Russland-Ukraine-Krieg sieht das ganz anders aus. Zwar hatten wir bereits ein Jahr nach dem Ende des Kalten Krieges 1991 im ehemaligen Jugoslawien den nächsten Krieg auf europäischem Boden, der dann auch gleich zehn Jahre dauerte. Dennoch wurde die Bundeswehr kontinuierlich heruntergefahren und die Wehrpflicht schließlich 2011 ganz ausgesetzt. In der Sprache der Krisenforschung: Krisenpotenzial hoch, Krisentragfähigkeit gering. Das macht den Menschen zu Recht Angst.
ME2BE: Wie lässt sich ein Konflikt wie in der Ukraine lösen?
Frank Roselieb: Bei der Ukraine geht es schon lange nicht mehr nur um einen Konflikt, sondern um einen Krieg. Im Konfliktstadium – also Anfang Februar 2022 – hätte man noch die Kuba-Krise vom Oktober 1962 zur Orientierung heranziehen können. Das war eine recht ähnliche Lage, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Damals fühlten sich die USA von sowjetischen Raketensystemen auf Kuba bedroht. Heute hat Russlands Präsident Wladimir Putin Bedenken wegen der Nato-Präsenz an seinen Grenzen. Die Lösung der Konfrontation nach 13 Tagen war damals ein Kompromiss: Die Sowjets tauschten die Mittelstreckenraketen auf Kuba durch Kurzstreckenraketen aus. Die USA reduzierten im Gegenzug ihre Präsenz in der Türkei. Beide Seiten konnten gesichtswahrend aus dem Konflikt herauskommen. Dann begann zwar ein fast 30 Jahre andauernder Kalter Krieg – aber eben kein heißer, wie jetzt in der Ukraine.
ME2BE: Nach einer Terrordrohung gegen ein Fußball-Länderspiel 2015 sagte der damalige Innenminister Thomas de Maizière auf Fragen nach möglichen Gefahren: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“ – das flog ihm damals um die Ohren. Wie wichtig ist Ehrlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit?
Frank Roselieb: Die Aussage von de Maizière war damals sicherlich nicht optimal – er hätte besser schweigen sollen. Gleichzeitig hat er aber unkontrollierte Panik verhindert. Mit Blick auf die Kriegsgefahren heute erleben wir aber eine erstaunliche Offenheit und schonungslose Ehrlichkeit. So hat das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ am 25. Februar die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr bei einer weiteren Eskalation in der Ukraine deutlich in Frage gestellt. Sechzig Jahre zuvor löste der nicht weniger dramatische Artikel „Bedingt abwehrbereit“ im gleichen Magazin noch eine veritable Staatskrise aus.
ME2BE: Sie persönlich wissen, wie in Krisen kommuniziert wird. Wie ändert das Ihren persönlichen Blick auf die Politik? Erkennen Sie an der Art der Kommunikation, wann etwas verheimlicht wird?
Frank Roselieb: Ich bin berufsbedingt seit mehr als 20 Jahren regelmäßig bei der Krisenbewältigung „live“ dabei. Sei es in Krisen- und Katastrophenstäben von Unternehmen und Behörden oder auch in der politischen Krisenberatung – wie aktuell seit zwei Jahren bei der schleswig-holsteinischen Landesregierung während Corona. Das alles hat meine Wertschätzung für die Arbeit der Politiker deutlich steigen lassen. Was in der Öffentlichkeit zuweilen als „Verschweigen“ wahrgenommen wird, macht bei kritischem Nachdenken durchaus Sinn. Natürlich hätte die Bundeskanzlerin in ihrer legendären Fernsehansprache im März 2020 auch sagen können: „So, die Pandemie wird jetzt mindestens eineinhalb Jahre dauern. Halten Sie durch.“ Das hätte den Menschen aber nicht wirklich geholfen. Stattdessen wird in der politischen Kommunikation bei schleichenden Krisen immer mit „Horizonten“ gearbeitet. Im ersten Lockdown im März 2020 hieß es daher: „Das Virus geht bald wieder in den harmloseren Sommermodus über. Bleiben Sie optimistisch.“ Im zweiten Lockdown im November 2020 folgte dann: „Die Impfstoffentwicklung schreitet gut voran. Eine Lösung ist zum Greifen nahe“.
ME2BE: Haben unterschiedliche Krisen denn Gemeinsamkeiten? Kann man vielleicht sogar von einer Krise für die nächste lernen?
Frank Roselieb: Genau das ist der Sinn der empirischen Krisenforschung. Wir haben sehr umfangreiche Datensätze mit Krisenfällen seit 1984 am Institut und ich habe zusätzlich sehr viel praktische Krisenerfahrung – quasi seit einem Vierteljahrhundert. Zu Beginn eines neuen Krisenfalls – beispielsweise bei Corona – wird eine Szenarioanalyse durchgeführt. Unterschieden werden ein „Best Case“ – etwa die EHEC/Hus-Epidemie 2011 und ein „Worst Case“ wie die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 – beide mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von jeweils 20 Prozent. Hinzu kommt ein „Standard-Case“ wie die Schweinegrippe von 2009 bis 2010 mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 60 Prozent. Basierend auf einer Simulation, kann man dann zum einen den voraussichtlichen weiteren Verlauf grob abschätzen. Zum anderen sieht man aber auch, welche Krisenmanagementmaßnahmen bei vergleichbaren Situationen geholfen haben und welche nicht.
ME2BE: Trotzdem gab es viele Maßnahmen, die vielen Menschen unverständlich erschienen…
Frank Roselieb: In der Corona-Pandemie gab es gleich mehrere Fehler – beispielsweise fehlende Fairness. Der Koch in der Unimensa saß sieben Monate zu Hause – bei vollem Gehalt und vollem Urlaubsanspruch. Für ihn als Beschäftigter in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts konnte nämlich keine Kurzarbeit angemeldet werden. Dagegen musste der Koch in der Pizzeria drei Straßen weiter mit mageren 60 Prozent seines Lohns auskommen, wenn er seinen Job überhaupt behalten hat. Dieser Gegensatz zwischen „Biedermeier Idylle“ im öffentlichen Dienst und „Vorhölle“ in der Privatwirtschaft war vielen Menschen – auch mir – nicht wirklich verständlich. Manchmal waren auch gefühlt Lobbygruppen unterschiedlich erfolgreich, etwa als in Berlin im März 2020 Kitas und Schulen taggleich schließen mussten, Clubs und Discotheken aber noch einige Tage weitermachen durften. In all diesen Fällen hat die Politik Fehler gemacht. Glücklicherweise stehen die Bundesländer in einer Marktwirtschaft aber in einem ständigen Wettbewerb um die beste Lösung. Daher konnten die schlechten Politiker von den guten meistens recht schnell lernen.
ME2BE: Kann man Krisenmanagement schon vorher lernen? Vielleicht sogar im Studium?
Frank Roselieb: Ja, aber das ist dann erst die halbe Miete. Krisenmanager werden in Notsituationen gerufen und müssen auf Augenhöhe mit Vorstandsvorsitzenden oder Spitzenpolitikern bestehen. Überspitzt formuliert müssen sie dort mit dem Denken beginnen, wo Spitzenführungskräfte mit vielen Jahren Lebens-, Berufs- und Branchenerfahrung nicht weiterwissen.
Hilfreich sind dabei drei Dinge: Erstens ein „gleicher Stallgeruch“. Man muss die Vokabeln am Vorstands- oder Kabinetttisch „aus dem Effeff“ beherrschen. Hier öffnet ein hartes, selektives Studienfach die Türen meist leichter – wie beispielsweise Jura, Medizin, Wirtschaftswissenschaften, Ingenieurwesen oder Psychologie. Zweitens ist eine sehr gute Allgemeinbildung gefragt. Beim Blick in das Abizeugnis sollte die Varianz der Noten möglichst gering sein – also sehr gut in Deutsch für ein hohes Textverständnis und eine sehr gute Ausdrucksweise. Gleichzeitig sehr gut in Mathe für ein klar strukturiertes Vorgehen und ausgeprägtes analytisches Denkvermögen. Und drittens bedarf es viel Berufserfahrung und damit einen sehr langen Atem.
Wir bieten seit rund 20 Jahren ein zweijähriges Traineeship an. Die Bewerber sind am Ende der Zeit immer wieder überrascht, in wie viele Bereiche, Themen und Techniken sie sich einarbeiten müssen. Alternativ kann man natürlich auch den Weg über krisennahe Studiengänge wählen – wie „Crisis & Disaster Management“ oder „Sicherheits- und Notfallmanagement“. Dann muss man aber die unangenehmen Teile wie Wirtschaftswissenschaften oder Rechtswissenschaften „on the job“ lernen – beispielsweise als Trainee oder im Abendstudium.
ME2BE: Gibt es eine Universallösung für den Umgang mit Krisen?
Frank Roselieb: Ja, Mut und Augenmaß. Kennen Sie Stanislaw Petrow? Der Oberstleutnant der Sowjetstreitkräfte saß am 26. September 1983 in einer Satellitenüberwachungsanlage der Sowjetunion südlich von Moskau. Kurz nach Mitternacht meldete das computergesteuerte Frühwarnsystem den Start einer US-amerikanischen Atomrakete. Wenig später wurden vier weitere Raketenstarts angezeigt. Petrow bewies Mut, weil er entgegen aller Befehle keinen Gegenschlag auslöste. Und Augenmaß, weil er die Tragweite seiner Entscheidung erkannte. Hätte er in dieser Nacht anders gehandelt, wäre ein verheerender Atomkrieg die Folge gewesen. Später stellte sich übrigens heraus, dass über der US-amerikanischen Luftwaffenbasis das Sonnenlicht an den Wolken reflektiert wurde und dies das sowjetische Frühwarnsystem fehlinterpretiert hat. Bleibt zu hoffen, dass Wladimir Putin im Zuge des Russland-Ukraine-Kriegs auch einen Stanislaw Petrow unter Vertrag hat.
Zur Person: Frank Roselieb (52) ist seit 1998 geschäftsführender Direktor und Sprecher des Kieler Instituts für Krisenforschung („Krisennavigator“), ein Spin-Off der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Kiel. Außerdem ist er geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement, dem Berufsverband der Krisenforscher und Krisenmanager mit Sitz in Hamburg. Zudem berät er die schleswig-holsteinische Landesregierung bei ihren Corona-Maßnahmen.
TEXT Robert Otto-Moog
FOTO Krisennavigator, Kiel / Hamburg