Als Kassian im vergangenen Jahr auf dem Flughafen von Durban angekommen war, hatte seine Reise eigentlich gerade erst begonnen. Hier, 9.497 Kilometer von seiner Heimat Hamburg entfernt, fing sein neues Leben an. Vor ihm lag die Erfüllung seines Traums – die einjährige Ausbildung zum Field Guide in der südafrikanischen Wildnis. Hinter ihm lag sein altes Leben, das ihn – durch alle Höhen und Tiefen hindurch – genau an diesen Ort führte.
Schon als Kind war Kassian von der Tierwelt fasziniert. Am liebsten spielte er mit Tierfiguren, hörte und las Geschichten aus dem Reich der Tiere, verfolgte die Abenteuer des Meeresforschers Jacques Cousteau und schaute Dokumentationen von David Attenborough. Alles, was mit Tieren und ihrem Lebensraum zu tun hatte, weckte sein Interesse. Diese Faszination blieb zwar bestehen, aber die Prioritäten änderten sich mit den Jahren. Feiern, Frauen und Rumhängen mit Freunden wurden für den jungen Hamburger spannender als die Flora und Fauna fremder Länder. Er habe in seiner Jugend viele Dummheiten gemacht, wie er rückblickend sagt, und geriet, wie man so sagt, auf die schiefe Bahn. Als dann sein Stiefbruder starb, da war Kassian 16 Jahre alt, fiel er in ein tiefes Loch. In dieser für ihn schweren Zeit kam ihm das erste Mal der Gedanke, nach Afrika zu gehen. Dort könnte er zeitweilig alles hinter sich lassen und etwas tun, was ihm wirklich wichtig wäre: mit Tieren zu arbeiten und sie in ihrem natürlichen Lebensraum zu erkunden. Doch es kam anders. Statt in die Savanne Afrikas schickten seine Eltern Kassian auf ein Internat in Nordwales; dort sollte er sein Abitur machen. Diese Zeit habe er wie die Pest gehasst, sagt Kassian heute. Drei Jahre lang war er umgeben von Kindern reicher Eltern, denen nichts wichtiger gewesen sei als Status und Geld. Kassian wurde bewusst, dass ihm solche Dinge nichts bedeuten. Zwei gute Dinge nahm Kassian aus dieser Zeit jedoch mit: er beendete die Schule und konnte nach seinem Aufenthalt im Internat fließend Englisch.
Ausbildung zum Field Guide: Entscheidung zwischen Herz und Verstand
Mit dem Abi in der Tasche kehrte Kassian zurück nach Hamburg. Afrika kam ihm zwar wieder in den Sinn. Aber nun, älter und mehr auf seine Zukunft bedacht, entschied sich zunächst für eine Ausbildung zum Automobilkaufmann. Das war, weiß Kassian heute, ein Fehler, eine reine Vernunftsentscheidung. Obwohl sein Herz etwas anderes wollte, sagte ihm der Kopf, dass eine kaufmännische Ausbildung eine gesicherte Zukunft bedeute. Bald merkte er jedoch, wie unglücklich ihn diese Arbeit machte. Fünf Tage die Woche in das gleiche Büro zu gehen, 40 Stunden die Woche die gleiche Arbeit zu tun, so ein Leben konnte er sich nicht vorstellen. Seinem Herzen folgend beschloss er, nach dem Abschluss der Ausbildung zum Automobilkaufmann einen beruflichen Neustart als Field Guide in Südafrika zu wagen.
Die einjährige Ausbildung ist nicht günstig. Zu bezahlen sind die Kursgebühren, Kost und Logis, die Transferkosten zwischen den Camps, Unterrichtsmaterial sowie die Gebühren für die Anmeldung zur Abschlussprüfung und Ausstellung des offiziellen Zertifikats. Hinzu kommen die Kosten für den Hin- und Rückflug, Visagebühren, Reiseversicherung und ein Taschengeld für private Ausgaben. Viel Geld für jemanden, der gerade seine Ausbildung beendet hat. „Es hat lange gedauert, bis ich den Mut und die Mittel dafür aufbrachte, meinen Traum zu verwirklichen. Schon als Kind hatte ich das Verlangen, diese Welt kennenzulernen und das Gefühl, dort hinzugehören, wurde immer stärker. Also fing ich an, für den Kurs zu sparen, arbeitete mehr und bekam sogar finanzielle Unterstützung von meiner Familie“, berichtet Kassian.
Beeindruckende Impressionen in der Bilderstrecke:
Neues Land – neue Regeln
Da stand er nun an der Strandpromenade von Durban, blickte in den Nachthimmel über dem Indischen Ozean. „Plötzlich hielt mir ein Mann ein Messer an die Kehle und suchte meine Taschen ab. Das Geld, das ich kurz zuvor abgehoben hatte, meine Zigaretten und ein Taschenmesser nahm er mit. Ich hatte Glück, dass er mein Telefon nicht stahl. Meinen Pass und weiteres Bargeld, welches ich unter meiner Kleidung trug, hatte er übersehen“, erzählt Kassian. Kriminalität ist ein großes Thema in Südafrika. Vor allem in den Großstädten Kapstadt, Johannisburg und Durban, wo die Kluft zwischen Armut und Reichtum besonders groß ist. Reisenden wird deswegen geraten, besonders achtsam zu sein. Als Fremder sollte man bestimmte Gegenden unbedingt meiden, vor allem bei Nacht. Diese wichtige Lektion lernte der junge Hamburger nur vier Stunden nach seiner Ankunft in Südafrika. „Ich hätte mich vorher besser erkundigen müssen, wo mein Hotel liegt. Abgeschreckt hat mich dieses Ereignis allerdings nicht, aber mir wurde deutlich, dass hier andere Regeln gelten. Zurück im Hotel rief ich meine Mutter in Hamburg an und berichtete ihr von dem Überfall. Am Ende mussten wir sogar ein wenig lachen: Wenn meine Reise so angefangen hatte, dann konnte sie ja nur besser werden!“ Am nächsten Tag fuhr Kassian in das erste Camp, wo seine Field-Guide-Ausbildung begann.
Leben unter wilden Tieren
„Du wachst auf und entdeckst auf dem Weg zum Frühstück lauter Tierspuren im Sand. Beim Mittagessen siehst du Giraffen hinter dem Camp vorüberziehen, oder es steht gleich eine ganze Herde Gnus vor deinem Zelt“, erzählt Kassian begeistert. Kein Zaun trennt die Camps und seine Bewohner von der Wildnis und ihren Bewohnern. Die Schlafzelte der Kursteilnehmer, die sie sich zu zweit teilen, Gemeinschaftshäuser, Küche und Bad befinden sich alle in der freien Natur. Die angehenden Field Guides leben und lernen inmitten der reichen Tier- und Pflanzenwelt Südafrikas. Das Leben im Busch erfordert aber auch gewisse Vorsichtsmaßnahmen. „Das erste, was man vor dem Zubettgehen machen sollte, ist, seinen Schlafsack auszuschütteln“, so Kassian, „eine Schlange könnte sich darin verstecken. Auch die Schuhe sollte man vor dem Anziehen auf unerwünschte Besucher untersuchen.“ Gewöhnungsbedürftig sind auch die eingeschränkte Verfügbarkeit von Strom, der wird nur bei Bedarf durch einen Generator erzeugt, die feste Duschzeit – die sogenannte „shower-hour“ sowie der sehr schlechte bis kaum vorhandene Handyempfang. Die Annehmlichkeiten unseres modernen Lebens tauschen die Kursteilnehmer gegen das unmittelbare Naturabenteuer und entdecken, fernab von jeder Zivilisation, von Verkehrslärm und ständigem Klingeln, Piepen oder Summen des Telefons eine neue Welt. „Bereits nach kurzer Zeit in der freien Natur wird das Gehör feiner, und man nimmt die einzigartige Vielfalt der Stimmen und Geräusche wahr. Auch die anderen Sinne passen sich der neuen Umgebung an. Plötzlich scheint es, als sei man mit der Natur und der Landschaft verbunden, sei gar ein Teil von ihr. Das ist ein unglaubliches Gefühl“, so Kassian.
Schlangenkunde auf dem Stundenplan
Eine Schwarze Mamba wird bis zu vier Meter lang, ist 20 km/h schnell, sehr nervös und beißt schnell zu, wenn sie sich bedroht fühlt. Ohne Gegengift führt der Biss der größten Giftschlange Afrikas unweigerlich zum Tod. Durch das überwiegend trockene und warme Klima ist Südafrika geradezu ein Paradies für Schlangen. Die meisten sind ungiftig und damit harmlos, außerdem bevorzugen sie von Menschen unbewohnte Plätze. Doch wenn Mensch auf Mamba, Kap-Kobra, Puffotter oder ein anderes giftiges Reptil oder Spinnentier trifft, kann eine falsche Bewegung lebensgefährliche Folgen haben. „Als Field Guide ist es meine Aufgabe, die Safari-Gäste durch dieses wunderschöne Land zu führen. Sie sollen ihren Aufenthalt in der Wildnis genießen, ohne ihre Gesundheit oder das Wohl der Tiere zu gefährden. Dafür muss ich wissen, welche Gefahr von einer Schlange, Spinne oder einem Skorpion ausgeht, wo die Tiere zu finden sind, wie man ihre Spuren erkennt und sich ihnen gegenüber richtig verhält“, berichtet Kassian. Während der einjährigen Ausbildung studieren die angehenden Field Guides das Verhalten der verschiedenen Säugetiere, Reptilien und Vögel und lernen, sich ihnen angemessen zu nähern. Sie erkunden das Ökosystem, lernen die unterschiedlichen Pflanzenarten zu bestimmen und beschäftigen sich mit Themen wie Geologie, Meteorologie, Astronomie, Navigation und Orientierung. Sie bekommen aber auch ein spezielles Training für den Umgang mit giftigen Schlangen wie der Schwarzen Mamba, einen intensiven Erste-Hilfe-Kurs, der auf die besonderen Umstände im afrikanischen Busch ausgerichtet ist, und lernen, ein Gewehr sicher zu handhaben. „Auf täglichen Exkursionen in den Busch wurde uns die Tier- und Pflanzenwelt Afrikas nähergebracht. Wir sind mit dem Wagen gefahren, zu Fuß gelaufen und haben sogar zwei Mal außerhalb des Camps in der Wildnis übernachtet. Die Kenntnisse, die man in dieser Ausbildung erwirbt, sind enorm und schon nach kurzer Zeit erlangt man ein tiefes Verständnis für die Themen Natur- und Artenschutz“, erzählt der 28-Jährige.
Ein weiterer wichtiger Teil der Ausbildung zum Field Guide ist die richtige Betreuung der Safari-Gäste. Auf einer Tour durch den Busch sind sie nicht nur Fremdenführer, sie versorgen die Gäste auch mit Snacks und Erfrischungen in den Pausen, zeigen ihnen die besten Plätze für schöne Urlaubsfotos, beantworten ihre Fragen und haben dafür Sorge zu tragen, dass die Afrikabesucher den Lebensraum der einheimischen Tiere und Pflanzen nicht beeinträchtigen oder gar zerstören. „Gerade die sogenannten „Big Five“ – Nashörner, Elefanten, Löwen, Büffel und Leoparden – gehören zu den besonders begehrten Fotomotiven für Urlauber. Sie sind aber nur ein kleiner Teil der südafrikanischen Artenvielfalt. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen und auch die unscheinbaren Dinge zu erkunden“, weiß Kassian aus eigener Erfahrung.
In regelmäßigen Abständen werden das erworbene Wissen und Können der Guides in schriftlichen und praktischen Prüfungen abgefragt. Um Praxiserfahrung zu sammeln, arbeiten sie im zweiten Halbjahr der Ausbildung in einer Lodge oder einem Naturpark mit und erhalten nach Bestehen aller Module das offizielle Zertifikat für die erfolgreich absolvierte Field-Guide-Ausbildung.
Was die Zukunft bringt
Wie es für Kassian nach der Ausbildung weitergeht, weiß er noch nicht genau: „In Südafrika zu bleiben und weiter mit Tieren zu arbeiten, das wäre ein Traum. Leider ist es nicht so leicht, als Ausländer eine Arbeitserlaubnis zu erhalten. Sollte ich dennoch in Südafrika arbeiten dürfen, würde ich meine Erfahrungen aus der Field-Guide-Ausbildung nutzen, um mich mehr für den Schutz von bedrohten Tieren und den Erhalt der Natur einzusetzen. Viele Tiere sind durch Wilderei vom Aussterben bedroht oder ihr Lebensraum wird von Menschen zerstört. Das möchte ich, im Rahmen meiner Möglichkeiten, ändern.“ Zu tun gäbe es mitnichten eine ganze Menge: Laut WWF werden jedes Jahr etwa 20.000 Elefanten getötet. Heute leben in ganz Afrika noch maximal 400.000 Elefanten. Um 1900 waren es noch um die 10 Millionen. Wilderer töten die Tiere hauptsächlich wegen ihrer Stoßzähne aus Elfenbein. Besonders in Asien gelten die daraus gefertigten Figuren oder Schnitzereien als Statussymbol und werden teuer gehandelt. Auch die illegale Jagd auf Nashörner hat stark zugenommen. Zu Pulver zerriebenes Nashorn gilt in vielen asiatischen Ländern als Heilmittel gegen Krankheiten wie Krebs oder wird als Partydroge oder Aphrodisiakum eingenommen. Dabei hat die Einnahme des Pulvers keinerlei Wirkung. Das Horn besteht aus Keratin, dem gleichen Material, aus dem auch unsere Nägel bestehen. „Ich würde gerne an Projekten mitarbeiten, die diese Tiere schützen. Ein wichtiger Faktor für erfolgreichen Natur- und Tierschutz ist die Einbeziehung der lokalen Bevölkerung. Auch sie müssen von den Maßnahmen profitieren oder Zugang zu nachhaltigeren Einkommensquellen erhalten. Wenn in naher Zukunft die großen Wildtiere ausgerottet sind, und das wird passieren, wenn das Töten in diesem Tempo weitergeht, dann hat das nicht nur katastrophale Folgen für das Ökosystem. Ohne die Tiere bleiben auch die Safaritouristen weg, das hätte erhebliche ökonomische Nachteile für die betroffenen Regionen“, berichtet Kassian.
Obwohl Kassian noch nicht genau weiß, wo er nach seiner Ausbildung arbeiten wird oder in welches Land es ihn verschlägt, Sorgen macht er sich jedenfalls nicht: „Solange ich in der Natur arbeite und von Tieren umgeben bin, bin ich glücklich. Viel mehr brauche ich nicht.“
TEXT Katharina Grzeca
FOTOS Kassian Müll