Naturprinzip Logistik
Die meisten Leute denken bei dem Begriff „Logistik“ an Lkws auf der Autobahn, an den Postboten, der jeden Morgen Briefe ausliefert und an die langen Schlangen in der Postfiliale zur Weihnachtszeit. Dabei ist Logistik noch viel mehr: eine Schlüsseldisziplin der modernen Wirtschaft und sogar ein naturwissenschaftliches Prinzip.
Viele Menschen verstehen erst, wie wichtig etwas ist, wenn es nicht mehr da ist und fehlt. Wenn zum Beispiel die Freundin bzw. der Freund einen verlässt und man merkt, wie wichtig diese eine Person doch war. So ähnlich ist es auch mit der Logistik. Kaum einer denkt an sie, doch ohne sie wären die Geschäfte leer und es würde keine Bahn und kein Bus fahren. Eine Vorstellung, die den wenigsten gefallen dürfte.
Die Logistik ist unser ständiger und unsichtbarer Begleiter, der uns mit allen notwendigen und angenehmen Dingen des Lebens versorgt. Und das rund um die Uhr, an 365 Tagen im Jahr. Die Logistik sorgt dafür, dass alles rund läuft und dass das Waren- und Dienstleistungsangebot nicht ins Stocken gerät. Ohne die Logistik gäbe es keine Globalisierung und keine Produkte aus dem Ausland, es gäbe keinen Urlaub in fremden Ländern und auch kein Internet.
Historisch hat die Logistik ihren Ursprung im Militärwesen und in den Kriegen, die der französische Kaiser und Feldherr Napoleon (1769 – 1821) von 1792 bis 1815 führte. Napoleon wusste, dass ein zuverlässiger und schneller Nachschub von Waffen, Munition und Verpflegung nicht selten über Sieg oder Niederlage entscheidet und seinen Ausspruch „Amateure sprechen von Strategie, Profis von Logistik“ kennt auch heute noch jeder Militärstratege. Napoleon ließ den Nachschub seiner Armeen akribisch planen und besiegte so die europäischen Großmächte Österreich und Preußen.
Sein Niedergang begann erst, als er im Jahr 1812 mit einer halben Million Soldaten in Russland einmarschierte. Begleitet wurde die größte Armee, die Europa bis dahin gesehen hatte, von 6.000 Fuhrwerken mit Lebensmitteln, von 50 Kassenwagen, die den Sold an die Soldaten auszahlten, von mobilen Lazaretten, in denen Verletzte versorgt wurden, und von Lastkähnen für den Transport des Materials über Flüsse und Seen. Allein Napoleons persönlicher Tross umfasste 18 Versorgungswagen.
Napoleon wollte seine Armee auf dem langen Weg nach Moskau mit russischen Nahrungsmitteln versorgen, doch die Russen betrieben eine Politik der verbrannten Erde und ließen Getreidefelder, Lebensmittellager und sogar ganze Dörfer und Städte niederbrennen. Der französischen Armee fehlte es bald an Nahrung, viele Soldaten verhungerten, wurden krank oder fielen Schnee und Kälte zum Opfer. Von der halben Million starken Armee überlebten nur 18.000 Mann und Napoleon musste den Rückzug antreten.
Ab dem Zeitalter der Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden die Regeln der Militärlogistik auch in der Wirtschaft angewandt, um die Produktion und den Transport von Produkten zu organisieren. Viele Erfindungen ermöglichten dabei eine immer schnellere und zuverlässigere Beförderung von Waren, wie z.B. die Einführung der Eisenbahn, des Automobils, des Gabelstaplers und auch des Schiffscontainers. Malcom McLean, der Erfinder des Containers, war selbst Spediteur und ärgerte sich über das mühevolle Tragen einzelner Kisten und Säcke vom LKW zum Schiff. Er kam auf den Gedanken, einfach den kompletten Auflieger eines LKW auf Schiffe zu laden und am Zielort wieder auf ein Fahrzeug zu setzen. Seine Idee ließ sich problemlos auch auf Eisenbahnwagen übertragen und revolutionierte damit die Transportbranche.
Eine logistische Meisterleistung war auch die Berliner Luftbrücke, welche die Versorgung der Berliner Bevölkerung nach der sowjetischen Blockade im Jahr 1948 sichern sollte. Über den Landweg war Berlin nicht mehr erreichbar, die 2,5 Millionen Berliner mussten deshalb aus der Luft mit Nahrungsmitteln, Kohle, Benzin und Medikamenten versorgt werden. Dafür wurde ein ausgeklügeltes System mit drei Luftkorridoren erdacht. Durch den Korridor im Norden (zwischen Hamburg und Berlin) und im Süden (zwischen Frankfurt am Main und Berlin) flogen die Transportflugzeuge nach Berlin. Zurück flogen sie dagegen durch den mittleren Korridor zwischen Berlin und Hannover. Auf diese Weise war es möglich, dass alle drei Minuten ein Flugzeug in Berlin landen konnte. Ingesamt wurden 2.325.509 Tonnen Fracht über die Berliner Luftbrücke transportiert.
Logistik wird heute definiert als “Organisation, Steuerung, Bereitstellung, Optimierung und Sicherung von Prozessen der Güter-, Informations-, Energie-, Geld- und Personenströme entlang der Wertschöpfungskette sowie der Lieferkette”. Man könnte auch vereinfacht sagen: “Logistik ist die organisierte Bewegung von Waren, Menschen, Informationen, Geld und Energie.”
Die Logistik hat dabei immer die Aufgabe zu gewährleisten, dass
– die richtige Menge
– in der richtigen Qualität
– für den richtigen Kunden
– zum richtigen Zeitpunkt
– am richtigen Ort
– und zu den richtigen Kosten zur Verfügung gestellt wird.
Die Wirtschaft kommt ohne Logistik nicht aus und selbst die Pflanzenwelt kann nicht auf sie verzichten. Rund 80 Prozent aller Pflanzenarten sind auf eine Fremdbestäubung durch Wind, Wasser, Tiere und Insekten angewiesen. In den gemäßigten Breitengraden sind die Honigbienen die wichtigsten Bestäuber. Ihrem Arbeitseifer verdanken wir Äpfel, Birnen, Kirschen, Gurken und Kürbisse. Honigbienen sind deshalb nach Rindern und Schweinen die wichtigsten Nutztiere der Erde.
Selbst der menschliche Organismus ist auf ein funktionierendes Transportsystem angewiesen. Im menschlichen Körper herrscht 24 Stunden am Tag logistischer Hochbetrieb. Denkprozesse, Temperaturregulation, Zellregeneration, Blutzuckerhaushalt – alle überlebenswichtigen Körperfunktionen müssen zuverlässig und reibungslos ablaufen. Dafür reichen die Körperzellen ununterbrochen kleine Päckchen (sog. Vesikel) mit Molekülen weiter. Damit ein Päckchen seinen Inhalt auch an der richtigen Stelle entleert, muss es zunächst an einer anderen Zellmembran andocken. Nur wenn der Proteinkomplex des Päckchens perfekt zum Proteinkomplex der anderen Zelle passt, stimmt der Bestimmungsort und das Vesikel kann seine Ladung abladen. Ansonsten steht es vor verschlossenen Türen. Lädt ein Vesikel seine Ladung dagegen am falschen Ort oder zum falschen Zeitpunkt ab, droht eine Störung der Zelllogistik. Diese kann zu neurologischen Erkrankungen und sogar zu Diabetes führen.
Dass die logistischen Gebote Koordination und Pünktlichkeit nicht nur in der Wirtschaft und im Transportwesen, sondern auch im menschlichen Körper entscheidend sind, haben die amerikanischen Zellbiologen Randy Schekman und James Rothman und der deutsche Biochemiker Thomas Südhof entschlüsselt – und dafür im Juli 2013 den Nobelpreis für Medizin erhalten.
Text Slaven Marinovic
Illustrationen Sarah Matuszewski