Mit dem Dickschiff durchs Nadelöhr

Mit dem Dickschiff durchs Nadelöhr

Auf dem Nord-Ostsee-Kanal sind Kapitäne heilfroh, wenn die Seelotsen am Ruder sind.

Dickschiff-Kapitäne aus aller Welt zeigen Respekt vor dem Nord-Ostsee-Kanal (NOK). Auf dem rund 100 Kilometer langen Transit zwischen Kiel und Brunsbüttel vertrauen sie auf das Können der Seelotsen. Denn sie manövrieren rund 35.000 Containerriesen, Traumschiffe, U-Boote, Tanker, Fregatten und andere schwimmende Kolosse jedes Jahr sicher durch die meist befahrene Wasserstraße der Welt.

Die „Hogge“ nimmt von der Kieler Förde aus Kurs auf die große Schleuse von Kiel-Holtenau. Der dicke Pott mit Gibraltar-Flagge hat von St. Petersburg kommend Kurs auf Hamburg genommen. Kanallotse Martin Finnberg macht sich bereit. Sobald das 161 Meter lange Containerschiff einläuft, wird der Routinier mit zwei Kanalsteurern an Bord gehen. Gemeinsam mit dem Schiffskapitän wird das Team das Containerschiff sicher durch den „Kiel Canal“ lenken – unter diesem Namen ist der NOK unter Seeleuten auf der ganzen Welt bekannt. Der gebürtige Hamburger hat seinen Traumjob am Kanal gefunden: Gemeinsam mit 176 freiberuflichen Kollegen gehört er der Lotsenbrüderschaft NOK II an, die in Kiel-Holtenau, direkt an den Schleusen, ihre Basis hat. Sie kümmern sich mit den Lotsenbrüdern aus Brunsbüttel darum, dass rund 60 Schiffe am Tag die rund achtstündige Fahrt zwischen Ost- und Nordsee sicher meistern. Bei Nacht, Nebel und Nieselregen ebenso wie bei Sonnenschein oder Sturm. „Ich werde das Containerschiff jetzt bis zur Lotsenstation Rüsterbergen auf halber Strecke des Nord-Ostsee-Kanals lotsen. Danach übernimmt ein Kollege, während ich auf ein Schiff in Richtung Kiel warte“, erklärt der 45-jährige Familienvater, der als stellvertretender Ältermann auch organisatorische Aufgaben bei der traditionsreichen Lotsenbrüderschaft übernommen hat.
Doch einfach so mal Lotse werden und Meeresriesen durch ein Nadelöhr lenken? Das geht natürlich nicht. Vorher heißt es: Seefahrt studieren und einige Jahre auf den Weltmeeren fahren. „Dabei sammelt man eine Menge Berufserfahrung als Kapitän oder Erster Offizier – und die braucht man später als Lotse auf dem Kanal auch“, berichtet Finnberg. Ihn hatte das Fernweh mit 19 nach dem Abi gepackt. „Damals hatte ich eine Lehre als Schiffsmechaniker bei einer Reederei in Hamburg begonnen und bin viel auf Schiffen in Südeuropa bis nach Marokko unterwegs gewesen – das war schon ein großes Abenteuer für einen jungen Mann.“ Anschließend heuerte er als Offiziersassistent bei der großen Reederei Hamburg-Süd an, blieb eineinhalb Jahre. Erst dann sattelte Finnberg auf und begann zu studieren – damals an der Seefahrtsschule der FH Hamburg, heute studieren junge Anwärter auch an Hochschulen in Flensburg, Warnemünde, Bremen, Leer und Elsfleth. Nach sechs Semestern Studium „auf dem Trockenen“ holte ihn die Reederei als 3. Offizier für Schiffsrouten rund um den Globus. „Als ich 1995 mit dem Studium fertig war, fuhr ich wenige Tage später gleich von den USA aus einen 190-Meter-Container-Riesen durch den Panama-Kanal. Später war ich viel in Südamerika, Australien und Neuseeland unterwegs“, erzählt Finnberg, den das Heimweh nur als jungen Schiffsmechaniker gepackt hatte. „Das gibt sich, wenn du älter wirst. Immerhin hatte ich später schon die Möglichkeit, in den Häfen mit dem Handy meine Familie und die Freundin zuhause anzurufen.“ Seeleute sind meist vier oder fünf Monate im Stück auf hoher See unterwegs, Tausende Meilen von der Heimat entfernt. „Das muss man wissen, wenn man sich für den Beruf des Kapitäns entscheidet.“
Schnell habe er gemerkt, dass die Arbeit auf hoher See genau das Richtige für ihn ist, erzählt Finnberg. „An Bord kommen Menschen aus vielen Ländern und Kulturen zusammen, das finde ich bis heute spannend. Außerdem reizten mich neben der Abenteuerlust auch die guten Karriereaussichten und das ansehnliche Gehalt als 1. Offizier und Kapitän.“ Irgendwann mit Anfang, Mitte dreißig überkam ihn der Wunsch, häufiger zuhause zu sein: Ich wollte mit meiner Frau eine Familie gründen und hatte für diesen Lebensabschnitt schon die Lotsen am Kanal als Berufsperspektive im Hinterkopf.“ Denn die genießen weltweit einen erstklassigen Ruf. „Das Gute ist: Hier kannst du den Beruf des Kapitäns mit der Nähe zur Familie kombinieren.“ 2002 schließlich „heuerte“ er bei der Lotsenbrüderschaft an. Jetzt genießt Finnberg das Zusammensein mit seinen Kindern und seiner Frau, auch wenn er keinen geregelten Neun-bis-Fünf-Job hat. „Wir werden in der Reihenfolge der Schiffseinläufe in die Schleuse zum Einsatz gerufen. Manchmal hat man nach der letzten Neun-Stunden-Schicht 36 Stunden Pause, manchmal auch mehr, manchmal weniger. Und es trifft dich eben auch häufig nachts oder am Wochenende.“ Er schätze es sehr, dass er als freiberuflicher Lotse keinen Chef hat, und dass er je nach Schiffsaufkommen im Kanal gutes bis sehr gutes Geld verdient, betont der Vize-Ältermann.

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Gleich wird er im Schiffscockpit der „Hooge“ Platz nehmen, gemeinsam mit den beiden Kanalsteurern und dem Kapitän. „Dabei gibt es wichtige Unterschiede: Der Lotse gehört nicht zur Schiffscrew und berät den Kapitän bei den Fahrmanövern. Die Steurer dagegen gelten als Teil der Besatzung und müssen beim Manövrieren auf die Weisung des Kapitäns hören.“ Natürlich komme es selten vor, dass sich ein Käpt‘n in einer brenzligen Situation anders verhält, als der Lotse es mit Nachdruck empfiehlt, sagt Finnberg. „Meistens sind sie heilfroh, wenn wir das Schiff übernehmen.“ Heute sieht es gut aus: Sonne, dann wieder etwas Nieselregen, alles in allem gute Sicht. Gleich, wenn sich die Schleusentore öffnen, wird sich die „Hooge“ mit 18.000 PS nachdrücklich vorwärts schieben. Es geht unter der Holtenauer Hochbrücke hindurch in Richtung des schwierigen, kurvenreichen Streckenabschnitts bis Königsförde. Raus auf die enge Wasserautobahn, quer durch Schleswig-Holstein. Auf Schiffen, die dank des Könnens der Lotsen und Kanalsteurer so sicher unterwegs sind wie Flugzeuge.

Wie werde ich Lotse?
Wer den Beruf des Lotsen als Ziel verfolgt, muss zunächst die Fachhochschul-Ausbildung zum Kapitän in der weltweiten Fahrt ohne Einschränkungen in den nautischen Befugnissen durchlaufen. Das „Wachoffizierpatent“ muss zwei bis drei Jahre ausgefahren werden, und erst nach der anschließenden Netto-Fahrtzeit von zwei Jahren mit dem Kapitänspatent ohne Einschränkungen kann sich der Nautiker für das See- oder Hafenlotswesen bewerben. Die Gesamtzeit von etwa neun bis zehn Jahren nach dem Schulabschluss bis zur Bewerbung bei den Lotsen ist erforderlich, da der Lotse den Schiffsbetrieb und die Zusammenhänge in der Seeverkehrswirtschaft praktisch erfahren und verantwortlich umsetzen muss. Der Lotse muss mit Seeleuten aus aller Welt und deshalb mit unterschiedlichen Mentalitäten umgehen können. Er muss Vertrauen und Ruhe ausstrahlen sowie belastbar und entscheidungsfreudig sein. Grundlage der Kommunikation ist die englische Sprache, die der Bewerber gut beherrschen muss. Nach einer erfolgreichen Bewerbung bei der zuständigen Aufsichtsbehörde durchläuft der Lotsenanwärter eine achtmonatige Ausbildung für das jeweilige Lotsrevier. Im Anschluss legt der Lotsenanwärter eine Prüfung ab und erhält nach erfolgreichem Fähigkeitsnachweis die „Bestallung“ als Lotse. In den folgenden Jahren wird der neue Kollege schrittweise an die verschiedenen Schiffsgrößen herangeführt.

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Auf der Lotsenwache in der Holtenauer Schleuseninsel werden die Einsätze der Seelotsen für den Nord-Ostsee-Kanal koordiniert.

Bundeslotsenkammer
www.bundeslostenkammer.de

Bundesverband der See- & Hafenlotsen
www.bshl.de

Lotsenbrüderschaft NOK II/Kiel/Lübeck/Flensburg
Schleuseninsel 14, 24159 Kiel
Telefon: (0431) 669-40530
www.kielpilot.de

Text & Foto Joachim Welding