Leuchtturm mit globaler Strahlkraft

Leuchtturm mit globaler Strahlkraft

Im schleswig-holsteinischen Lägerdorf errichtet der Baustoffkonzern Holcim eines der modernsten und am wenigsten umweltschädlichen Zementwerke – und schafft eine Reihe an innovativen Berufen.

Lägerdorf liegt rund 50 Kilometer nordwestlich von Hamburg. Plattes Land, Felder und die A23 prägen die Gegend. Unübersehbar ist ein 81 Meter hoher Turm, der bis auf ein paar Windkraftanlagen, alles überragt. „An guten Tagen reicht die Sicht bis nach Hamburg“, sagt Kevin Carstens und blickt in die Ferne.
Der Turm auf dem Carstens steht, dient allerdings ganz anderen Zwecken als der Aussicht. In seinem Innern verbirgt sich ein Gewirr aus Röhren und Leitungen, Gebläsen, Zyklonen und Kabeln. Und für deren Betrieb ist Carstens Arbeit grundlegend. Er ist Ausbildungsleiter Mechanik im Holcim-Zementwerk Lägerdorf und schult die Fachkräfte von morgen – und die werden dringend gebraucht. Denn der Betrieb im Zementwerk läuft rund um die Uhr. Klemmt es irgendwo, dann registriert man das im Leitstand und verständigt die Spezialisten aus der Instandhaltung, die den Fehler prompt beheben.
Durch das Wirrwarr an Rohrleitungen im Turm werden die Ausgangsstoffe von Zement – Kreide, Sand, Ton und Eisenoxid – nach oben gefördert. Dort angekommen rieselt das feingemahlene Stoffgemisch in einem großen Rohr nach unten, wobei es erhitzt wird. „Wir können die Materialzusammensetzung präzise einstellen und so qualitativ hochwertige Spezialzemente herstellen“, sagt Carstens, der seine Ausbildung zum Mechaniker selbst hier in Lägerdorf absolviert hat. Später war er auf der Meisterschule und ist heute Ausbilder.

Firma von oben

In Lägerdorf errichtet der Baustoffkonzern Holcim eines der modernsten und am wenigsten umweltschädlichen Zementwerke.

Spezialisten sind gefragt

Spezialisten wie Carstens sind gefragte Leute bei Holcim. In seiner Ausbildungswerkstatt lernen die jungen Männer und Frauen mit Metall umzugehen. Da wird gebohrt, geschweißt und gefeilt. Da werden Drehbänke und Fräsmaschinen bedient. Da wird gebüffelt, denn Formeln und technische Zeichnungen gehören genauso dazu wie das Lesen von Arbeitsanweisungen. Da wird aber auch gemeinsam gefrühstückt und das Miteinander gestärkt. Nach dreieinhalb Lehrjahren sind sie die jungen Leute dann ausgebildete Facharbeiter und Facharbeiterinnen. Und die würden im Werk immer dringender gebraucht, sagt Carstens. „Die Mannschaftsstärke ist in den letzten Jahren stark gestiegen.“
Die Anlage und das Prinzip kennt Carstens in- und auswendig. Er erklärt, was mit dem Stoffgemisch passiert, wenn es den Turm hinuntergerieselt und unten angekommen ist: Da unten wird es dann richtig heiß. Hier ist der Eingang zum 65 Meter langen Drehrohrofen, dem Herzstück eines jeden Zementwerks. In dem wird das Stoffgemisch sukzessive auf bis zu 1450 Grad Celsius erhitzt. Wer unter dem gigantischen, sich unablässig drehenden Stahlrohr steht, spürt die Hitze. In der schmilzt das Material und erreicht in etwa die Viskosität von Lava. Fachleute nennen den Prozess Sinterung. Heraus kommt der sogenannte Zementklinker. Der muss dann nur noch unter Zugabe von Gips feingemahlen werden und fertig ist der Zement – der wichtigste Grundstoff von Beton. Und der wiederum ist der wichtigste Baustoff dieser Erde. Unsere gesamte Infrastruktur bräche ohne das Baumaterial in sich zusammen: Autobahnen, Brücken, Flughäfen, Kläranlagen, Krankenhäuser, Schulen, U-Bahnen, Wasserleitungen, um nur einige zu nennen – alles aus Beton.
Jeden Tag ergießen sich rund 33 Millionen Tonnen Beton über unseren Planeten. Pro Jahr kommen so zwölf Milliarden Tonnen zusammen. Geschätzte 300 Milliarden Tonnen hat die Menschheit bislang verbaut. Dazu benötigte es Flüsse voll Wasser, strändeweise Sand und Berge an Zement.

Maschine

Beton ist ein wichtiger Grundstoff

Weltweit aktiver Konzern

Torsten Krohn ist der Leiter des Zementwerks Lägerdorf, dem größten Standort im deutschen Holcim-Verbund. Die Unternehmensgruppe beschäftigt rund 1800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 36 verschiedener Nationalitäten. Und das an rund 130 Standorten in Deutschland sowie den Niederlanden. Der Standort Lägerdorf ist von besonderer Bedeutung: Seit 1862 wird hier Zement produziert. Rund 340 Mitarbeitende sind beschäftigt. 35 Jugendliche durchlaufen gerade eine gewerbliche oder kaufmännische Ausbildung. Hinzu kommen noch sieben dual Studierende. Auf dem Werksgelände arbeiten noch weitere Mitarbeiter der Holcim Deutschland Gruppe aus den Bereichen Einkauf, Personal, Gesteinskörnungen, Geocycle und Betontechnologie.
Zu den Beschäftigten zählen auch die bis zu 16 Azubis in der Elektronikwerkstatt. Für die ist Thorsten Cornelsen zuständig. Auch er hat einst seine Ausbildung am Standort absolviert. Die Elektroniker sind vorwiegend in der Instandhaltung unterwegs und kümmern sich um Elektromotoren, Frequenzumrichter und Schaltungen. Es ist nicht vermessen zu sagen: Ohne die läuft hier gar nix.

Milliarden Tonnen CO2

Allein im Werk Lägerdorf werden jährlich rund 1,5 Millionen Tonnen Zement produziert. Klingt nach viel, ist im globalen Kontext jedoch eher ein Klacks. Weltweit werden jährlich rund 4,1 Milliarden Tonnen Zement hergestellt. Und wer Zement herstellt, erzeugt auch Unmengen des Treibhausgases Kohlendioxid: So fallen alleine bei der globalen Zementproduktion jährlich rund drei Milliarden Tonnen CO2 an, bis zu acht Prozent der weltweiten jährlichen CO2-Emissionen – rund drei Mal mehr als alle Flugzeuge der Welt ausstoßen, wie der Londoner Thinktank „Chatham House“ in der Studie „Making Concrete Change“ 2018 vorrechnete.
Allmählich findet in den Zentralen der Zementindustrie ein Umdenken statt, und die Verantwortlichen versuchen ihre Fabriken auf Umweltkurs zu bringen. Vor allem in Europa. „Die, die jetzt etwas tun, werden überleben“, ist Lägerdorf-Werksleiter Krohn überzeugt.

Doch das ist komplizierter als es klingt. Kalk, der Grundstoff von Zement, ist für den größten Teil der CO2-Emissionen verantwortlich. Zementwerke werden daher immer direkt neben Kalkdepots errichtet. In Lägerdorf klafft daher ein bis zu 60 Meter tiefes und mehrere 100 Meter breites Loch im Boden, das an Tagebaue erinnert. Hier wird Kalkstein (Kreide) gefördert. Rund die Hälfte des Kohlendioxids entsteht, wenn das im Kalkstein gebundene CO2 beim Brennen im Drehrohrofen entweicht. Fachleute nennen das Entsäuern. Daran kann keiner etwas ändern, es sind prozessbedingte Emissionen.

Der Brennstoff für die Drehrohröfen, meist Kohle oder Öl, zunehmend auch Ersatzstoffe wie alte Reifen, Windradflügel, Tiermehl oder Plastikmüll, ist für weitere 35 Prozent verantwortlich. Das Mahlen des Klinkers zu feinem Mehl verursacht weitere zwölf, der Transport des Materials dann die restlichen drei Prozent. Alles in allem entstehen je Tonne Zement rund 800 Kilogramm CO2. Wer weiß, dass weltweit jedes Jahr rund 4,1 Milliarden Tonnen Zement produziert werden, erahnt die Dimensionen.

Doch verglichen mit anderen Branchen hat es die Zementindustrie in Sachen Klimaschutz ungleich schwerer. Während viele Industrien allein mit grünem Strom auf Ökokurs kommen, bleibt den Zementherstellern dieser Weg versperrt. Was die Welt bräuchte, ist eine Alternative zum bisher verwendeten Zement – genau genommen eine Alternative zum Kalkstein. Doch die hat bislang niemand gefunden. Zwar gibt es bereits CO2-reduzierte Zemente, die allerdings machen global gesehen nur einen winzig kleinen Teil aus.

Gruppe Azubis

Die Unternehmensgruppe beschäftigt viele Fachkräfte, Auszubildende und Studenten.

Komplett neue Ofenlinie

In Lägerdorf verfolgt man daher einen anderen Plan, um das lästige CO2 loszuwerden. „Hier entsteht ein Leuchtturm mit globaler Strahlkraft“, sagt Werksleiter Krohn. Tatsächlich wird in Lägerdorf eine komplett neue Zementlinie aufgebaut. „Wir arbeiten bald mit einer vollkommen neuen Technologie. So einen Ofen gibt es auf der ganzen Welt noch nicht. Das hier ist Grundlagenarbeit.“ Lägerdorf soll ab 2029 klimaneutral arbeiten und der Welt so jährlich rund eine Million Tonnen CO2 einsparen. Bis 2045 soll sogar das gesamte Unternehmen in Deutschland klimaneutral sein.

Wie das gehen soll? Einfach gesagt: Indem das CO2 aufgefangen wird. Holcim nennt das Projekt „Carbon2Business“, kurz C2B. Das Projekt ist der Grund, weshalb die Mitarbeiterzahl in den vergangenen Jahren stark anstieg.

Der neue Ofen wird mit dem sogenannten Oxyfuel-Verfahren betrieben. Statt Umgebungsluft wird reiner Sauerstoff in den Verbrennungsprozess des Zementofens eingespeist. Das ermöglicht es erst, im Nachgang reines CO2 abzutrennen. Das CO2 dient dann als Rohstoff für Produkte in der chemischen Industrie oder wird unterirdisch eingelagert.

Was simpel klingt, ist tatsächlich eine Mammutaufgabe. Der Bau der neuen Anlage kostet einen dreistelligen Millionenbetrag. Tausende Tonnen Stahl müssen angefertigt, in Form gebracht und eingebaut werden. Hinzu kommen tausende Meter an Leitungen und ein neuer, fast doppelt so hoher Turm. Die Europäischen Union (EU) beteiligt sich mit einer Förderung in Höhe von 109,8 Millionen Euro.

Carbon2Business

Holcim hat das Projekt „Carbon2Business“ in die Welt gerufen.

Neue Berufe in Lägerdorf

Mit dem neuen Ofen ändern sich die Berufsbilder. Es wird viel mehr Automatisierung und Digitalisierung geben. Daher werden auch neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigt, beispielsweise für den Bereich Anlagenbau und Verfahrenstechnik.
Holcim bietet daher seit kurzem auch den Ausbildungsberuf Elektoniker für Automatisierungstechnik (m/w/d) und den dualen Studiengang Verfahrenstechnik an – in Kooperation mit der HAW Hamburg.
Gespannt blicken sie in Lägerdorf auch auf den Bau der Northvolt-Batteriefabrik, die bei Heide entsteht und rund 3000 Fachkräfte anziehen wird. Verglichen mit Batterien für Elektroautos wirkt Zement tatsächlich unsexy. „Grau, staubig, trocken,“ sagt Krohn. Aber ohne Zement keine Straße – und ohne Straße kein Auto. Die Hoffnung sieht daher in etwa so aus: Die Batteriefabrik zieht viele Leute an, insgesamt verbessert sich die Lebenssituation in der Region und davon profitiert auch das Zementwerk.
Und das wird man zukünftig sogar noch deutlicher sehen. Denn der Turm der neuen Ofenlinie wird den alten deutlich überragen. Mit dem neuen Ofen und dem deutlich verringerten Ausstoß an klimaschädlichem Kohlenstoffdioxid sollen die Arbeitsplätze in Lägerdorf attraktiver, sinnhafter und begehrter werden.

TEXT Daniel Hautmann
FOTO Holcim Deutschland GmbH